Virtuelle Kopfschmerzen

Häufig schwingt bei der Unterscheidung zwischen wirklichen und virtuellen Realitäten die Konnotation mit, der ersteren gelte ein Vorrang, da die zweite ja nur eine Erfindung sei. Hier die Wirklichkeit, die sich anfassen lässt, dort ein Phantasieprodukt, das lediglich als Monitorbild auf dem Rechner, Smartphone oder in einer VR-Brille materialisiert ist und nichts anderes als eine flüchtige Datei repräsentiert. Schnell ist die pädagogische Ermahnung zur Hand, allem Virtuellen mit Vorsicht zu begegnen und lieber dem handfest Erleb- und Beweisbaren zu vertrauen. Das ist nicht ohne Berechtigung. Virtuell begründete Glücksmomente bleiben flüchtig und haben meist wenig mit der sozialen und tatsächlichen Welt zu tun. Andererseits, wenn wir gegen eine digitale Mauer rennen, ist das ungefährlich und es droht keine Beule am Kopf. Das klingt nun wiederum wie ein Vorteil. Kopfschmerzen können dennoch folgen. Und da sind wir beim springenden Punkt.

Sowohl wirkliche wie auch virtuelle Realitäten beeinflussen unsere internen kognitiven und emotionalen Verarbeitungsprozesse. Die Furcht beim Anschauen eines Gruselschockers mit der VR-Brille löst ähnliche Körperreaktionen aus wie ein beängstigendes Realereignis. Aus der Medizin ist ein weiteres, aber vergleichbares Phänomen bekannt. Eingebildete, unklare Schmerzen tun genauso weh wie solche mit diagnostizierten Ursachen. Die Unterscheidung zwischen beiden stellt eine Herausforderung dar, die medizinisch nicht trivial ist. Allein solche Beispiele sind geeignet, mit bestimmten Selbstverständlichkeiten aufzuräumen. Die Erlebnisqualitäten bei der Wahrnehmung manifester und virtueller bzw. gedachter (Innen-)Welten sind gar nicht so verschieden.

Einige erkenntnistheoretische Ansätze zur Beschreibung dessen, was wir Realität zu nennen gewohnt sind, betrachten die Thematik entspannt. Was ist überhaupt Realität? Etwas Eindeutiges außerhalb von uns? Oder eine Konstruktion, die von allerlei innerpsychischen, sozialen und kulturellen Rahmenbedingungen abhängig ist? Haben wir es mit Wahrnehmungen zu tun, die ganz unterschiedlich, also kontingent ausfallen können, oder gibt es eine Realität an sich, die sich, etwa mit wissenschaftlichen Methoden, intersubjektiv und universell gültig erkennen lässt?

Der Philosoph Richard Rorty hat sich von allen Eindeutigkeiten verabschiedet. Im Blogbeitrag Aufklärung zu Ende gedacht wurden einige Aspekte seines Denkens dargestellt. Realität, Wahrheit, Wesen der Dinge, das alles sind Kategorien, bei denen, so Rorty, ein absolut gedachtes Verständnis unsinnig ist, weil es zeit- und kulturunabhängige Versionen nicht gibt. Letztlich hängt alles an der verwendeten Sprache. Dazu Rorty mit klassischer Logik: Da die Wahrheit eine Eigenschaft von Sätzen ist, da die Existenz von Sätzen von Vokabularen abhängt, und da Vokabulare von Menschen geschaffen werden, gilt das Gleiche auch für Wahrheiten. Sie werden von Menschen gemacht und sind nicht in den Tatsachen an sich verborgen. Alle Dinge dieser Welt lassen sich mit einem anderen Vokabular immer auch anders beschreiben. Reflektiertes und reflektierendes Denken basiert, so Rorty, auf der Anerkennung dieser grundsätzlichen Kontingenz.

Das zur Relativierung des Wahrheitsbegriffs Gesagte gilt sinngemäß auch für jedes Realitätskonzept. Von Platon bis Kant und darüber hinaus hat sich die Philosophie die Zähne an der Frage ausgebissen, ob und wie sich Wirklichkeit sicher erkennen lässt. Da es hierauf eine schlüssige Letztantwort nicht gibt und aus den zum Wahrheitsbegriff genannten Gründen auch nicht geben kann, wird, mit Rorty, vorgeschlagen, auf einen allzu starren Realitätsbegriff zu verzichten. Alltagspraktisch macht es natürlich einen Unterschied, ob ich gegen eine wirkliche oder eine virtuelle Mauer renne. Aber für das Verständnis der Künstlichen Intelligenz oder des Metaversums, wie im Blogbeitrag Cyborgs und digitalreale Neuwelten beschrieben, erweist sich die Kontingenzthese als anregend. Einige Gedanken hierzu sind nachfolgend als Thesen zusammengefasst.

Anfassbare Wirklichkeit und Metaversum-Wirklichkeit unterscheiden sich nicht grundlegend. Bei beiden handelt es sich um Erscheinungsformen des Realen. Sie haben ähnliche kognitive sowie auch emotionale Wahrnehmungs- und Konstruktionsprozesse zur Folge, selbst wenn sich das konkrete Handeln in den Welten unterschiedlich darstellt.

Fotografien sind Realitätskonstrukte zweiten Grades. Wir können sie verstehen, wenn ein Vokabular zur Verfügung steht, welches sinnhaftes Handeln in der Realität ersten Grades ermöglicht, und wir die in einer Fotografie gezeigten Dinge aufgrund dieser Erfahrungen wiedererkennen. Kurz, wer die Wirklichkeit zu deuten und mit Sinn zu versehen gelernt hat, versteht auch die fotografische Abbildung dieser Wirklichkeit. KI-generierte Bilder entsprechen denselben Entschlüsselungsbedingungen.

Eine Unterscheidung zwischen wirklichen und virtuellen Fotografien/Bildern macht nur dann Sinn, wenn ein dokumentierender Anspruch hinsichtlich des Es-ist-so-gewesen im Sinne Roland Barthes erhoben wird, eine Fotografie also behauptet, tatsächliches Geschehen widerzugeben. Soll ein Bild hingegen beim Betrachter lediglich Aufmerksamkeit erregen oder irgendwelchen Gefälligkeitskriterien entsprechen, ist es vollkommen egal, ob bei seiner Entstehung ein KI-Bot mitgewirkt hat.

Eine digitale Fotografie mit Dokumentaranspruch muss auf alle Bildbearbeitungen verzichten, durch die Pixel verändert, hinzugefügt oder entfernt werden. Eine Echtheits-Signatur kann sie nur erhalten, wenn damit der Ausschluss jeglicher Bildmanipulationen garantiert ist. Erfolgt die Grenzziehung unklar und schwammig, wäre eine verlässliche Unterscheidbarkeit zu KI-generierten oder mit KI-Unterstützung entstandenen Bildern nicht gegeben. Hier gilt das konsequente Entweder-Oder-Prinzip.

Gefühle narzisstischer Verletzungen, von denen manche Fotografierende geplagt sind, weil eine Maschine offenbar bessere Bilder zu erfinden in der Lage ist als sie selbst, sind zu vernachlässigen. Es handelt sich um Übergangsphänomene. Professionell Fotografierende werden im Übrigen die ersten sein, die für die Erledigung ihrer Aufträge auch KI-Generierungen oder KI-Unterstützungen einsetzen. Sie werden sich aus den photographischen Gesellschaften deswegen aber nicht ausschließen lassen.

 

Die Gedanken zur Konstruktion von Wirklichkeit sowie zum sinnhaften Verstehen fotografischer Bilder sind Themen verschiedener fotosinn-Essays, etwa Vom Kornrauschen zum Quadratpixel, Sehenlernen und Gestalten oder Soziologie mit der Kamera. Einen Überblick bieten die Einleitung in die Essays sowie Eine Art Zusammenfassung.

Von Richard Rorty sind die Bücher Pragmatismus als Antiautoritarismus (Suhrkamp, 2023) sowie Kontingenz, Ironie und Solidarität (suhrkamp taschenbuch wissenschaft, 1991) zu empfehlen. Mit Fotografie haben beide Werke auf den ersten Blick wenig zu tun. Ihre Lektüre lohnt dennoch.

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Ein fragwürdiges Staatskulturverständnis

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