Essay 09
Vom Kornrauschen zum Quadratpixel
Spricht man von Fotografie, so umfasst dies eine erhebliche Bandbreite unterschiedlicher Erscheinungen. Sie reicht von der großformatigen Studiofotografie über die Reportagefotografie bis zu den zahlreichen Einsätzen im semi- und nichtprofessionellen Bereich. Spezialgebiete aus der wissenschaftlichen, forensischen oder Überwachungsfotografie kommen hinzu. Bilder sind überall, in weiten Bereichen billig herzustellen. Sie können von nahezu jedem zu nahezu jedem Zeitpunkt an nahezu jedem Ort aufgenommen werden und stehen oftmals sofort nach der Aufnahme zur Verfügung. Fotografien sind ein Massenprodukt. Zu keinem Zeitpunkt in der Geschichte aller Kulturen hat es mehr Bilder gegeben. Insbesondere das Smartphone hat zu einer Verbreitung der Fotografie beigetragen, wie sie in analogen Zeiten nicht einmal ansatzweise denkbar war. Es wird bei allen Gelegenheiten fotografiert, ohne große Ansprüche an die Bildgestaltung, dafür mit Spaß und vor allem zur Versicherung, dass man Teil einer großen, Bilder produzierenden Community ist.
Ob es die Selfies mit den besten Freunden sind oder Situationen aus dem Feld der alltäglichen Belanglosigkeiten, alles wird ins Netz gestellt, sofort und ohne Bedenken und manchmal auch zum großen späteren Ärger.
Ich wurde fotografiert, also bin ich, und alle, die mich sehen, sind meine Freunde. Einmal irgendwo hochgeladen, besteht jedoch die Gefahr, dass die spontane Fotografie der letzten Party zum kaum mehr löschbaren Bestandteil des öffentlichen Lebenslaufes wird, und noch weniger lustig ist es, wenn mit dem Smartphone die inszenierte Schlägerei aufgenommen und verbreitet wird oder die selbstgebastelten Erotikbildchen einer Sechzehnjährigen für den süßen Freund ein paar Monate später zur Pausenbelustigung auf dem Schulhof dienen. Auch das sind Begleiterscheinungen der schnellen unkomplizierten Fotografie, die jedoch nicht dem Medium selbst angelastet werden können, sondern eher eine Folge von Desozialisierungstendenzen der modernen Gesellschaft sind.
Die in den vergangenen Jahrzehnten vollzogene, nahezu vollständige Ablösung der klassischen analogen Fotografie ist Bestandteil einer umfassenden Digitalisierung des Alltags sowie einer tiefgreifenden Umwälzung der Medienlandschaft. Selten hat eine technische Neuerung in so relativ kurzer Zeit vergleichbare Auswirkungen mit sich gebracht. Diese Entwicklung wird anhalten. Nichts spricht für einen Stillstand der Innovationsgeschwindigkeit und entsprechender Veränderungen des Nutzerverhaltens. Im Zuge der digitalen Revolution werden sich deshalb auch die Rahmenbedingungen der Fotografie und deren Anwendung weiter verändern. In den Anfangsjahren war noch nicht klar, zu welchem Zeitpunkt die digitale Fotografie mit den Fähigkeiten der analogen Vorgängertechnik gleichziehen würde. Dass dieser Zeitpunkt kommt, war vorhersehbar. Gleichwohl überwogen zunächst die skeptischen Stimmen. Hinsichtlich der Qualität wie auch der Anmutung des Bildes galt die analoge Technik als ein Standard, der nach weit verbreiteter Ansicht die neue Konkurrenz nicht zu fürchten brauchte. Diese Einschätzung hat sich in wenigen Jahren geändert. Abgesehen von speziellen Anwendungsbereichen oder dem Engagement von Liebhabern hat die analoge Fotografie weitgehend das Feld geräumt. Spätestens, als die auf höchste Abbildungsqualität angewiesene professionelle Produkt- und Modefotografie auf die neue Technik umgestiegen war, blieb nicht mehr viel Spielraum für den Negativfilm und das Chemiebad in der Dunkelkammer. Heute definiert die digitale Technik den Qualitätsstandard und bietet mehr an Auflösung, als bei den meisten fotografischen Anwendungen überhaupt genutzt wird. Die Detailschärfe des klassischen Filmmaterials ist im Übrigen deutlich geringer als die der modernen Digitalsensoren und ihrer Prozessoren. Für manche ist genau dies der Grund für ein Festhalten an der analogen Technik. Will man wirklich immer alle Details präsentiert bekommen?
Ohne die Möglichkeiten der schnellen und billigen Erstellung und Speicherung wäre die heutige Bilderschwemme nicht vorstellbar. Ist die Hardware erst einmal angeschafft, kostet das Bild so gut wie nichts.
Es wird kein Filmmaterial eingesetzt, und in vielen Fällen kommt es auch gar nicht mehr zum klassischen Print. Als Betrachtungsmedium dienen das Smartphone, ein Tablet oder der Monitor auf dem Schreibtisch. Diese Form der Fotografie findet statt, ohne dass sich das Bild in irgendeiner Weise materialisiert. Weder kann ein Negativ oder Diapositiv angefasst, noch ein Barytpapier in den Händen gehalten werden. Das Bild besteht aus einer Datei, und diese hat einen Namen. Sie ist zwar an ein gegenständliches Speichermedium gebunden, zu sehen ist von ihr jedoch nichts und mit einem Tastendruck verschwindet sie auch schnell wieder. Ist die Datei gar in der Cloud gespeichert, haben wir noch nicht einmal das Speichermedium vor Augen. So flüchtig das digitale Bild existiert, so schnell ist es auch gelöscht. Nur der Experte kann auf der Festplatte noch eine Zeit lang seine Spuren rekonstruieren. Hier liegen Welten zwischen der digitalen Technik und den Anfängen der Fotografie, als man mit riesigen Plattenkameras, langen Belichtungszeiten und dem Einsatz von viel Chemie einen großen Aufwand betreiben musste, um am Ende das bescheidene Abbild einer menschenleeren Straßenszene oder einer starr in die Kameralinse blickenden Person vor sich zu haben.
War schon die analoge Fotografie in ihrem entwickelten Stadium ein demokratisches Medium, weil für nahezu jeden erschwinglich und nutzbar, so gilt dies noch ausgeprägter für die digitale Technik. Darüber hinaus sind die Grenzen zwischen der professionellen Fotografie und ihrem Alltagsgebrauch unscharf geworden. Mit dem Smartphone aufgenommene Sensationsbilder können nicht nur umgehend ins Netz gestellt, sondern auch an Nachrichtenagenturen übermittelt und von diesen zur weiteren Verbreitung genutzt werden. Technisch ist ein Unterschied zur Arbeit des klassischen Zeitungsfotografen in vielen Fällen kaum feststellbar. Ebenso überflüssig wie die aufwändige Kameratechnik ist der Fotolaborant geworden. Wer seine Bilder überhaupt noch als Papier in den Händen halten möchte, lässt sie am heimischen Computer ausdrucken oder schickt die Daten an das Großlabor und erhält Ergebnisse, die von klugen Softwareprogrammen perfekt optimiert worden sind. Laborcomputer sind in der Lage, auf der Basis von hunderttausenden Fotografien Motive zu erkennen und diese auf gefällige Weise so zu korrigieren, dass ein durchschnittlicher Betrachter das Bild als schön empfindet. Aber auch jeder einigermaßen begabte und sorgfältig arbeitende Amateurfotograf kann heutzutage mit dem Rechner Bilder produzieren, die sich nur bei genauer Analyse vom professionell aufgenommenen und im Fachlabor früherer Zeiten ausgearbeiteten Ergebnis unterscheiden. Und das Ganze zu einem Bruchteil der Kosten. Wer es zusätzlich für die heimische Wand im Großformat haben möchte, sendet seine fertig bearbeitete Datei per Internet an ein Speziallabor und bekommt das Ergebnis mit erstklassiger Rahmung in Galeriequalität fix und fertig nach Hause geliefert. Früher konnten das mit erheblich größerem Aufwand und entsprechenden Kosten nur die Profis. Heute ist der gesamte Prozess demokratisiert und steht jedem offen.
Hinsichtlich der Geschwindigkeit des Aufnahmeprozesses hat es zwischen der analogen und der digitalen Fotografie Übergangsformen gegeben.
Während das schnelle Bild schon bei der professionellen tagesaktuellen Reportagefotografie analoger Zeiten eine Notwendigkeit darstellte, waren die 24-Stunden-Labore früherer Jahrzehnte und mehr noch die Polaroidtechnik darauf ausgerichtet, für ein breites Publikum die Zeit zwischen Aufnahme und Ansicht des fertigen Bildes zu verkürzen. Aber so richtig gewann die Fotografie erst mit der Digitalisierung an Tempo. Selbst die noch von der Polaroidfotografie bekannte Pause zwischen dem Druck auf den Auslöser und der Ansicht des entwickelten Bildes reduzierte sich nun dramatisch. Das digitale Bild kann unmittelbar nach der Aufnahme auf dem Kameramonitor betrachtet werden. Paradigmatisch gesehen war dies ein Quantensprung. Trotzdem begann die Ablösung vom alten, analog orientierten Prozessdenken zunächst zögernd. Wie immer in Umbruchzeiten, wurde erst einmal gefremdelt.
Die ersten mechanisch angetriebenen Fahrzeuge, man nannte sie Auto-Mobile, sahen aus wie Kutschen ohne Pferde. Die bis dahin bekannten Formen wurden an die neue Technik angepasst, ohne sich zunächst grundlegend zu verändern. Die Pferde waren abgespannt und stattdessen wurde ein Motor angebracht. Nach und nach erst wurde die Gestalt des Automobils optimiert, später kamen Designaspekte hinzu. Es handelt sich um ein bekanntes Phänomen. Neue Technologien entwickeln sich im Rahmen des vorhandenen Denkgerüstes. Dann kommen Ideen für neue Verwendungszwecke hinzu, und wenn sich eine Technik schließlich als machbar erwiesen hat, bricht die Begrenzung auf die traditionelle Form der Nutzung auf. Auch das Design löst sich in der Regel an diesem Punkt der Entwicklung vom Herkömmlichen. Das Auto, um bei dem Beispiel zu bleiben, wurde zum Spaßmobil und Repräsentationsobjekt.
Die Prozessschritte bei der Kameratechnik haben sich vom 19. Jahrhundert bis in die jüngere Vergangenheit nicht grundlegend verändert. Ein Bild wird analog auf Platte bzw. Film oder auf einem digitalen Speichermedium aufgenommen. Anschließend erfolgt im Labor oder mit Hilfe einer Software die Bearbeitung. Am Ende der Kette liegt ein in der Dunkelkammer hervorgebrachtes oder durch einen Drucker erzeugtes Bild vor uns. Alternativ wird es auf einem Monitor dargestellt. Die getrennten Prozessschritte Aufnahme, Bearbeitung und Präsentation unterschieden sich bislang bei beiden Techniken nicht grundsätzlich. Aus der Übergangszeit heraus hat sich jedoch nach und nach eine neue Welt entwickelt. Waren die Vorgänge zunächst ähnlich, löst sich der Dreischritt von Aufnahme, Bearbeitung und Vorlage des fertigen Bildes im digitalen Zeitalter partiell auf. Bei der Smartphonefotografie finden Aufnahme und Bearbeitung per App in einem Gerät statt, und wenn auf den Papierausdruck verzichtet wird, sind die Betrachtung auf dem Display sowie die Weiterleitung an die Sozialen Medien die einzigen Formen der Bildrealisierung. Bei einer solchen Nutzung der digitalen Technik wird nicht mehr am klassischen Erfahrungsschatz festgehalten oder gar mit dem Neuen gefremdelt.
Dies sah in der Übergangszeit noch anders aus, und wie bei der Kutsche ohne Pferd wurde die digitale Technik nicht selten analog bemäntelt. Zeitgleich mit dem Aufkommen der digitalen Aufnahmetechnik gelangten Bildbearbeitungsprogramme auf den Markt, deren Ziel darin bestand, den Fotografien einen analogen Look zu verpassen. Da wurde künstliches, digital erzeugtes Filmkorn beigemischt, oder es wurden Sepiatönungen in allen Varianten und Vignettierungen wie in der Frühzeit der Fotografie des 19. Jahrhunderts eingesetzt. Auch wurden Farbfilter mit Simulationen sämtlicher Kodak-Filme angeboten sowie allerlei Möglichkeiten, eine technisch perfekte digitale Aufnahme mit simulierten Negativkratzern und staubähnlichen Störungen künstlich zu veraltern. Je unperfekter, umso besser, Hauptsache, die digitale Herkunft des Bildes verschwand in einem nostalgischen Anschein. Das Digitale wurde verborgen, weil als Erfahrungsbasis die alten Wahrnehmungsmuster nachwirkten und sich aus diesen das Ideal der Bildanmutung ableitete.
Die klassischen Elemente der analogen Fotografie wie Negativfilm und Barytpapier wurden abgelöst durch Speicherkarte und Bildschirm. Aus dem Anfassbaren wurden flüchtige Bits. Nicht zu packen, nicht zu sehen und beim Crash der Festplatte überdies verschwunden.
Die Unterschiede im haptischen Empfinden der analogen und digitalen Fotografie gehen aber noch weiter. Während es bei der digitalen Variante ausschließlich zu einem Kontakt mit handfestem technischen Equipement kommt, gab es in analogen Zeiten einen empfindlichen Film, den es in die Kamera einzulegen galt, um ihn dann nach der Belichtung ebenso sorgfältig wieder herauszunehmen und nach der Entwicklung archivsicher abzulegen. Die Arbeit in der Dunkelkammer war mit diffusem Rotlicht, viel Chemie und schlechter Luft verbunden, aber auch mit dem immer wieder spannungsvollen Moment der Entstehung eines Bildes in der Entwicklerschale. War es am Ende nichts geworden, musste man mit dem Prozess von vorne beginnen. Alle diese sensorischen Erlebnisse und sinnlichen Erfahrungen der analogen Fotografie fallen im digitalen Zeitalter weg. Man betätigt bei der Bearbeitung am Computer mit der Maus einen der zahlreichen Schieberegler und schon ist das Bild korrigiert. Mit einem weiteren Klick lässt sich alles wieder rückgängig machen.
Der Übergangscharakter spiegelte sich in der Gestalt der Fotoapparate wider. Am Beispiel der Spiegelreflexkamera bzw. deren spiegelloser Nachfolgerin wird die Konstanz der äußeren Form deutlich, obwohl aus dem Film der völlig anders funktionierende lichtempfindliche Sensor geworden ist. Die moderne digitale Kamera im Vollformatsegment sieht nicht grundsätzlich anders aus als die analoge Profikamera der achtziger Jahre. Eine deutliche Dynamik in der Designentwicklung zeigte sich zwischenzeitlich bei den Systemkameras im MFT-Format, bei denen der Abstand zwischen Objektiv und dem kleineren Sensor kürzer ist und somit die Geräte kompakter gebaut werden können. Zunächst entstanden einige neue Formen. Mit dem aufkommenden Retrotrend wurde dann jedoch ein Design vorherrschend, das sich an analogen Vorbildern orientierte. Den Maßstab stellt oftmals die Leica dar, deren digitale Möchtegernschwestern von anderen Herstellern zu einem deutlich günstigeren Preis angeboten werden, leistungsmäßig jedoch in einer vergleichbaren Spielklasse oder sogar darüber angesiedelt sind. Sie folgen dem Vorbild der motorgetriebenen Kutsche ohne Pferd. Eine wirklich neue Designwelt des Fotografierens entstand erst mit dem Aufkommen des Smartphones als Multifunktionsgerät, dessen Fotofähigkeit längst die der kaum noch genutzten einfachen Kompaktkameras übertroffen hat.
Während einige Übergangserscheinungen den Eindruck erweckten, das Digitale solle verschämt hinter einer analogen Fassade verborgen werden, gab es parallel auch einen gegenläufigen Trend.
Gerade in der Frühzeit der digitalen Fotografie wurde bei der Bildbearbeitung am Computer kräftig zugelangt. Damit sind nicht nur die Übertreibungen etwa bei der Schärfung gemeint, die meist zu einer Verschlimmbesserung führen, sondern digitale Filterexperimente mit wildesten Effekten. Verfremdungen veränderten das Aufgenommene in Farbe, Kontrast und Textur, so dass psychedelische, an Pop Art erinnernde Bildorgien entstanden. In den Frühjahren der digitalen Bildbearbeitung ging die Begeisterung für die technischen Möglichkeiten immer einmal wieder mit dem Künstler durch, aber auch heute noch besteht bei den schnell anwendbaren, vorkonfektionierten Softwarefiltern die Gefahr, dass der Schieberegler der dramatischen Wirkung wegen zu intensiv betätigt wird. Meist jedoch bleibt es beim Effekt. Spätestens bei der dritten Wiederholung ist der Mechanismus erkannt, und die Bildwirkung wird nicht der Kreativität des Fotografen zugeschrieben, sondern der gekauften Software.
In der etablierten bildenden Kunst registrierte man aufmerksam die neuen Entwicklungen und experimentierte mit pseudodigitalen Adaptionen. Hatte Roy Lichtenstein noch mit dem auf die Leinwand übertragenen Rasterdruck analoger Technik gearbeitet, gab es vor allem in den 1990er Jahren Bilder in Öl oder Acryl, die das vergrößerte digitale Grundmuster des quadratischen Pixels adaptierten und als Stilmittel einsetzten. Diese Bilder ließen sich als kritische oder auch apologetische Kommentierungen der Zeit verstehen. Die Welt zeigte sich bei entsprechender Vergrößerung in Form genormter Quadrate. Aufgrund der konventionellen Maltechnik gehörten diese Werke jedoch der klassischen analogen Kunstwelt an. Einzig der Bildinhalt selbst nahm Bezug auf Erscheinungsformen des Digitalen. Pixelähnliche Quadratstrukturen oder Verfremdungen aus der Welt der Softwarefilter wurden mit analogen Maltechniken zu digital anmutenden Bildern gestaltet. Solange dies neu war, konnte es eine gewisse Aufmerksamkeit erregen. Heute wirken solche Bilder im besten Falle handwerklich gut gemacht, sind aber meist in den Abteilungen Kitsch oder Kunstgeschichte gelandet.
Ein anderes Phänomen jener Zeit bildete die Computerkunst oder Computergrafik. Hier wurde das Bild ausschließlich durch die Eingabe von Befehlsdaten in Form von Rechneralgorithmen geschaffen. Da dies ohne Einspeisung externer Wirklichkeitsdaten geschah, wies das Ergebnis keinen Abbildcharakter auf. Es handelte sich um ein reines Kunstprodukt. Insbesondere in der Frühzeit der digitalen Bildexperimente spielte die Computergrafik eine nicht unbedeutende Rolle. Wie auch bei anderen technischen Neuerungen galt es zunächst, die Möglichkeiten und Grenzen des Machbaren auszuloten. Man sieht den Versuchen diese Euphorie an. Was einige Jahre später schon wieder weitgehend unbeachtet blieb, weil es längst Bestandteil des üblichen Kanons grafischer Figuren geworden war, galt in den frühen achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts als herausfordernd und neu. Die geschwungenen parallelen Farblinien, die sich drehten, verknäulten, spiegelten und in absoluter Exaktheit durch das Bild rasten, waren etwas zuvor nicht Gesehenes, bestenfalls bekannt vom grünen Monitor des Oszillografen im Physiklabor. Die Formen an sich hätten auch von jedem analog mit dem Zeichenstift arbeitenden Grafiker auf dem Papier erzeugt werden können, und in der Tat gab es Vorläufer solcher Computergrafiken mit einer gewissen Wirkungsverwandtschaft, etwa die Nagelbilder von Günther Uecker mit ihren akribisch umgesetzten Linien, Flächen und Wellenbewegungen, dann die fotografischen Langzeitbelichtungen pendelnder Lichtquellen vor schwarzem Hintergrund, durch die sich kinetische Liniengrafiken ergaben, oder die von avantgardistischen Lehrern im Kunstunterricht der späten sechziger Jahre initiierten Objekte, bei denen zwischen den auf einer Holzplatte eingesetzten Nägeln solange Fäden gesponnen wurden, bis sich flächige, wabernde Wirkungen ergaben. Diese Bilder wie auch einige psychedelische Pop Art Versuche aus gleicher Zeit nahmen die Wirkungen der Computergrafiken vorweg. Als diese dann tatsächlich auftauchten, waren es gar nicht so sehr ihre Formen und Farben, die zu Überraschungseffekten führten, sondern vielmehr die bislang nicht erreichte Genauigkeit der Linienführung sowie die Schnelligkeit der Bildproduktion. Mit Hilfe des Computers ließen sich Ideen nun mit einer so großen Exaktheit umsetzen, dass die handwerklichen Fähigkeiten des traditionellen Grafikers kaum noch mithalten konnten.
Da man durch die Lektüre von Walter Benjamin desillusioniert war, was die auratische Wirkung vervielfältigbarer Kunst anbelangte, und stattdessen der Gefallen an ihrem demokratischen Charakter zunahm, waren die Vorzüge der mit Hilfe des Computers erstellten Grafiken und Bilder gegenüber der analogen Handarbeit des Künstlergenies akzeptabel geworden. Nur der traditionelle Kunstbetrieb lehnte die Computergrafiken überwiegend ab. Zu sehr schienen die mit Hilfe von Maschinen entstandenen Bilder dem Ideal des autonomen, kreativen Künstlers zu wiedersprechen. Auch handelte es sich bei vielen der ersten Computergrafiker nicht um Künstler im herkömmlichen Sinne, sondern um Mathematiker, Naturwissenschaftler und Techniker, die in den siebziger Jahren exklusiven Zugang zu Großrechnern hatten.
Mit dem Einzug der Personalcomputer in den Alltag der Privathaushalte wurde der Niedergang der den Spezialisten vorbehaltenen Computergrafik eingeleitet, denn nun konnte nahezu jeder mit dem heimischen Rechner und etwas Software seinem Spieltrieb freien Lauf lassen.
Die herkömmliche Computergrafik sah plötzlich ziemlich alt aus. Zusätzlich zur Demokratisierung der Technik kam es zur Konvergenz bzw. einer Überschneidung mit der Digitalfotografie. Woher die Informationen für die rechnergestützte Bildproduktion stammen, ist seitdem nicht mehr eindeutig. Die Eingabe kann, wie bei reinen Grafikprogrammen, in Form von Befehlsdaten erfolgen oder, wie bei der Bildbearbeitung, als Fotodatei. Beide Formen lassen sich kombinieren, und selbst einfache Bildbearbeitungsprogramme bieten heute Funktionen für die Hinzufügung von Pixeln an, die nicht Element der zugrunde liegenden Fotodatei waren. Die virtuelle Realität ist zum alltäglichen Bestandteil der digitalen Fotografie geworden.
Als die analoge Fotografie nicht mehr als einzige und deshalb selbstverständliche Technik der maschinellen Bildaufnahme betrachtet werden konnte, musste das Anderssein des Digitalen zum expliziten Thema werden.
Handelte es sich lediglich um eine neue Technologie, so wie die Plattenkamera durch das Fotografieren mit dem Film abgelöst wurde, oder hatten sich durch die Digitalisierung auch das fotografische Paradigma und das Wesen der Fotografie verändert? Die der klassischen Fotografie zugeschriebene Realitätsnähe war nicht zuletzt Ergebnis des vermeintlich entsubjektivierten Aufnahmeprozesses. Die Alltagsvorstellung ging davon aus, dass die äußere Wirklichkeit im Zuge eines neutralen technischen Vorganges durch eine Linse auf den Filmträger gebannt wird, um dann wiederum vom Negativ in ein Abbild der ursprünglichen Realität zurückverwandelt zu werden. Zwar stellt bereits die Transformation der dreidimensionalen Wirklichkeit in eine zweidimensionale Ebene eine Abstraktion dar, aber dennoch stand die Fotografie lange Zeit als Garant für eine objektive Abbildung. Auch die Entfärbung des Realen durch die Schwarzweißfotografie, die brennweitenbedingte Perspektivveränderung, die Fixierung schnellster Bewegungen durch extrem kurze Belichtungszeiten oder blendenabhängige Unschärfen führten bestenfalls zu einer Relativierung des Objektivitätscharakters, nicht jedoch zu seiner grundsätzlichen Infragestellung.
Dann erfolgten die konstruktivistischen Verunsicherungen. Moderne Erkenntnistheorien in der Tradition nachkantianischer Philosophien, die Strukturalisten und Semiotiker, die kognitive Entwicklungspsychologie, neuere Forschungen zur Funktionsweise der Sinnesorgane und zum Hirnaufbau sowie eine allgemeine Skepsis gegenüber dem allzu Eindeutigen stellten nicht nur jedes naive Wirklichkeitsverständnis in Frage, sondern auch den Objektivitätsanspruch der Fotografie. Allein die Einsicht, dass wir jede Wirklichkeit immer nur aus der gerade eingenommenen Perspektive betrachten, also bereits die Perspektive des zwei Meter entfernt stehenden Nachbarn anderes beinhaltet, weist auf das Dilemma hin. Was ist unter diesen Bedingungen Realität an sich? Seit Kant wissen wir, dass diese eben nicht unmittelbar erkannt werden kann. Wir nehmen lediglich perspektivische Erscheinungen wahr und formen gedanklich die Vorstellung eines Gesamtbildes, die Idee des Objektes. Die Angehörigen eines Sprach- und Kulturkreises tun dies sozialisationsbedingt auf eine sehr ähnliche, also intersubjektiv gültige Weise. So entstehen Konstruktionen, die innerhalb einer Gesellschaft konsensual als Realität bezeichnet werden.
Während sich in Zeiten der analogen Fotografie lediglich einige Erkenntnistheoretiker mit solchen Fragen befassten, änderte sich dies mit der Digitalisierung und dem Aufkommen des Begriffs der virtuellen Realität. Zufall war dies nicht, stellte die digitale Fotografie doch nicht nur etwas technisch Revolutionäres dar, sondern führte zwangsläufig zu einer neuen Befassung mit der Realitätsfrage. Waren die Fotografien alter Zeit vielleicht wirklicher gewesen als die mit der neuen Technik angefertigten? Immerhin ergibt sich ein folgenreicher Unterschied zwischen analoger und digitaler Technik durch die Speichermedien, also den Negativfilm beziehungsweise die Chipkarte. Auf dem Film haben sich die von den Objekten reflektierten Lichtstrahlen in Form einer chemischen Umwandlung von Silbersalzen verewigt. Ohne Reflexion von Licht durch reale Objekte hätte es keine Filmbelichtung gegeben und ohne Belichtung keine chemische Reaktion. Die Molekülstruktur des Filmes wurde durch diesen Vorgang unumkehrbar verändert, die Realität hat sich im Negativfilm sozusagen materialisiert. Manche haben hieraus gar den ontologischen Beweis für die Existenz der Wirklichkeit abgeleitet.
Ein vergleichbares Original wie beim analogen Negativ gibt es bei der digitalen Fotografie nicht. Die Belichtung des Kamerasensors führt nicht zu einer unumkehrbaren chemischen Reaktion, sondern zu einem quantenmechanischen Photovoltaikeffekt. Die Siliziumdioden des Sensors werden entsprechend der empfangenen Lichtmenge elektrisch aufgeladen, und die Addition sämtlicher Sensorinformationen wird als Bilddatei zusammengefasst. Diese Informationen bleiben, anders als beim Negativfilm, flüchtig, da sich die Aufladung der Siliziumdioden bei der nächsten Aufnahme wieder verändert und auch die auf der Speicherkarte eingeschriebenen Daten nicht fest und schon gar nicht unumkehrbar fixiert worden sind.
Das digitale Foto ist aufgrund dieser Eigenschaften mit einer größeren Zweifelhaftigkeit belegt als sein analoger Vorgänger. Es beruht nicht auf einem stabilen Original, wie es das Negativ darstellt, sondern auf binären Informationen, die veränderbar sind, ohne dass dies Spuren hinterlässt. Deutlich wird dies bei einer näheren Betrachtung der Prozesskette. Nach der Belichtung des Sensors werden die Informationen vom Kameraprozessor aufbereitet und in der Regel als RAW- oder JPG-Datei abgespeichert. Später erfolgt die weitere Bearbeitung am Computer. In allen diesen Phasen werden die ursprünglichen Sensorinformationen beeinflusst und geformt. Dies gilt selbst für die RAW-Datei, die keinesfalls etwas Naturbelassenes darstellt, sondern Ergebnis der Arbeit des vom Hersteller programmierten Kameraprozessors ist. Bei der JPG-Datei handelt es sich sowieso um eine Bearbeitung der ursprünglichen Sensordaten, die bestimmten Gefälligkeitskriterien hinsichtlich eines als attraktiv empfundenen Bildes folgt. Hinzu kommen sowohl bei der RAW- wie der JPG-Datei die Einwirkungen im Rahmen der weiteren Prozesskette bis zum fertigen Bild. Eine Fotodatei weist somit zu keinem Zeitpunkt einen unprogrammierten Originalstatus auf.
Jede Datei lässt sich, ohne dass man ihr dies ansieht, verändern. Anders stellt sich dies beim klassischen Filmnegativ dar, wenn es fixiert vorliegt.
Die Entwicklung kann zwar auf unterschiedliche Weise erfolgen und zu unterschiedlichen Ergebnissen führen. Auch die Eigenschaften des verwendeten Films spielen eine Rolle für die Anmutung des späteren Bildes. Liegt das Negativ jedoch erst einmal fertig entwickelt vor, kann es nur noch mit chemischen oder physikalischen Mitteln bearbeitet werden, eine unsichtbar bleibende Retusche ist jedoch so gut wie unmöglich. Jede Veränderung des Negativs, also des Bildoriginals, würde bei entsprechenden Analysen entdeckt werden. Dies unterscheidet es grundlegend von der digitalen Datei, schließt jedoch nicht aus, dass von ein und demselben Negativ unterschiedliche Vergrößerungen angefertigt werden können. Aber dennoch existiert in Form des Negativs ein stabiles, nicht mehr veränderbares Original im Sinne eines Unikats. In der digitalen Welt hingegen macht der Begriff des Unikats nur dann Sinn, wenn nach der Erstellung eines Prints die zugrunde liegende Datei gelöscht wird. Das Positivbild wäre dann das einzig verbleibende Unikat.
Pikanterweise hat sich ausgerechnet die fotorealistische Malerei an diesem erkenntnistheoretischen Diskurs beteiligt, wenn auch auf indirekte Weise. Ihr wesentliches Kennzeichen ist die Steigerung der Bildgenauigkeit des Gemäldes bis ins Hyperreale. Als Vorlage dienen meist Fotografien, die anhand der Rastertechnik auf eine Leinwand übertragen oder mit Hilfe von Diaprojektionen kopiert werden. Phänomenologisch steht der Fotorealismus dem klassischen Naturalismus mit seinem Anspruch einer getreuen Wiedergabe der Wirklichkeit nahe. Dies ist eine gewollte Irreführung. Bei genauer Betrachtung wird deutlich, dass es sich beim Fotorealismus nicht zuletzt um einen Diskursbeitrag zur Ergründung des Wesens fotografischer Bilder handelt. Gemalt werden eben nicht gegenständliche Objekte an sich. Als Vorbild dient vielmehr ein einziges Objekt, nämlich die Fotografie als Papierabzug oder Diapositiv. Genau dies macht den wesentlichen Unterschied zum Naturalismus aus. Die Welt der Dinge hat beim Fotorealismus nur eine sekundäre Bedeutung. Die dargestellten Objekte sind Mittel zum Zweck. Es geht um Medienreflexion.
Das fotorealistische Gemälde wirkt vordergründig wie eine Fotografie, erinnert jedoch daran, dass es, wie schon die Vorlage, ein gestaltetes Bild ist und nicht Ergebnis einer automatisierten, eindeutigen Wirklichkeitswiderspiegelung. Dies wird bei zunehmender Nähe des Betrachters zur Leinwand deutlich. Nun werden die Spezifika, also die Texturen und Pinselstriche oder gegebenenfalls die Artefakte des Spritzwerkzeugs, erkennbar. Hinzu kommt, dass ein fotorealistisches Gemälde Abweichungen von der einfachen Nachahmung eines Vorbildes aufweisen kann. So lassen sich Dinge weglassen oder farblich verändern. Fotografische Vorlagen können auch zu Collagen kombiniert werden, die Objekte in eine surreale bildliche Verbindung bringen, oder perspektivisch unmögliche Sichten zeigen. Es wird zwar der Eindruck erweckt, das Bild verweise indexikalisch auf etwas Wirkliches, das fotorealistische Gemälde kann und will dieses Versprechen jedoch nicht einlösen. Stets handelt es sich um ein von Hand geschaffenes Bild, also nicht um die automatisierte Kopie einer Vorlage. So wenig, wie das fotorealistische Gemälde eine exakte Reproduktion einer fotografischen Vorlage sein kann, handelt es sich bei der Fotografie um eine eindeutige Reproduktion der Wirklichkeit. Der Begriff der Reproduktion ist deshalb vom Fotorealismus grundsätzlich kritisch-ironisch oder auch subversiv gemeint. Der nachdenkliche Betrachter kommt nicht umhin, sich mit dem Wirklichkeitscharakter sowohl eines Gemäldes wie einer Fotografie zu befassen.
Der Fotorealismus entstand Ende der 1960er, Anfang der 70er Jahre, also in einer Zeit vor Erfindung der Digitalfotografie. Bei den damaligen Vorlagen handelte es sich ausschließlich um analoge Aufnahmen. Die dementsprechende Anmutung bildete beim frühen Fotorealismus den Maßstab und somit das Ziel der angestrebten Wirkung. Pikanterweise lässt sich aus den gleichen Gründen auch eine digitale Aufnahme dem Fotorealismus zuordnen. Wie der gemalte Fotorealismus ist die digitale Fotografie ein Medium zur Erzeugung realistisch erscheinender Fiktionen. Beide bemühen sich, wie eine Fotografie aus analogen Zeiten auszusehen.
Interessant wird es, wenn dem fotorealistischen Gemälde eine digitale Aufnahme als Vorlage dient. Bei extremer Vergrößerung lässt sich deren Pixelraster Quadrat für Quadrat exakt auf die Leinwand übertragen. Abgesehen von der Oberflächenstruktur des Leinwandbildes gibt es auf der phänomenologischen Ebene keinen sichtbaren Unterschied zwischen der digitalen Vorlage und dem Gemälde. Natürlich lässt sich auch eine analoge Fotografie in Rasterquadrate aufteilen und Schritt für Schritt auf die Leinwand übertragen. Diese Technik wurde in der Hochzeit des Fotorealismus oftmals angewandt. Das digitale Pixelquadrat weist jedoch eine grundsätzlich andere Qualität auf als das Hilfsraster einer analogen Vorlage. Ersteres ist aufgrund seines Binäralgorithmus in den Grenzen des einzelnen Quadrats vollkommen homogen, das hilfsweise geschaffene analoge Quadrat hingegen prinzipiell in sich differenziert mit verlaufenden Farb- oder Grautönen.
Die Masse der alltäglichen Fotografien wird auch künftig zur Kategorie der schnellen Bilder gehören. Schnell aufgenommen, schnell konsumiert und häufig auch schnell wieder vergessen.
Der heutige Umgang mit dem Bild unterscheidet sich vom Fotoalbum alter Zeiten. Dieses war noch Ergebnis eines langen Weges von der Aufnahme bis zum Einkleben der Bilder in ein buchähnliches Werk, das man in ein Regal stellen und immer wieder hervorholen konnte. Heute reduziert sich der Prozess bis zur Bildbetrachtung auf einige Tastenbefehle. Ein Planungsprozess mit langem Atem erübrigt sich, und zahlreiche Fotografien werden nur einmal kurz nach der Aufnahme angeschaut, um dann auf Nimmerwiedersehen zu verschwinden. Anschließend richtet sich die Aufmerksamkeit auf das nächste Bild.
Die Bildsprache und der Bildgebrauch haben sich entsprechend angepasst. Ähnlich, wie sich durch die Ablösung des handschriftlichen Briefes in Form der elektronischen Mail der Stil verändert hat, ist auch die alltägliche Gebrauchsfotografie weniger artifiziell als früher. Die schnelle Fotografie ist formloser, verzichtet auf Repräsentationsansprüche und geht von einer kurzen Halbwertzeit aus. Dafür steigt die Frequenz der Nutzung. Immer mehr Situationen und Aktivitäten werden einbezogen. Neben den Helmkameras für den Outdooreinsatz von Mountainbikern, Drachenfliegern und Bergsteigern wird es Armbanduhren und Brillen oder Kontaktlinsen geben, die das Fotografieren noch weiter miniaturisieren und das Herumtragen eines Gerätes in der Hand überflüssig machen. Der Phantasie sind keine Grenzen gesetzt.
Aber auch die künstlerische Fotografie profitiert von der Digitalisierung. Ihre Freiheitsspielräume nehmen zu. Systembedingt sind die Beziehungen zwischen einem digital erzeugten Bild und der äußeren Realität schwächer ausgeprägt als bei der analogen Silbersalzfotografie. Das Negativ zeugte noch davon, dass zum Zeitpunkt der Aufnahme etwas vor dem Objektiv gewesen sein musste. Die ontologische Rettung der Wirklichkeit durch Roland Barthes basierte auf diesem Zusammenhang. Ohne Lichtabstrahlung eines Objektes wäre es nicht zu einem chemischen Prozess und der Veränderung des Filmmaterials gekommen. Die digitale Fotografie ist hingegen frei von einer ähnlich zwingenden Realitätsbeziehung. Aber gerade deshalb besitzt sie ein größeres experimentelles Potential und muss nicht darum kämpfen, als Medium einer möglichst exakten Realitätsabbildung anerkannt zu werden. Das schließt ihre Anwendung für Dokumentationszwecke nicht aus, ihr Wesen liegt aber in der prinzipiellen Freiheit vom Diktat des Objektiven. Aus der Perspektive des Kreativitätspotentials ist die verwandtschaftliche Beziehung zwischen der Malerei und der digitalen Fotografie deshalb ausgeprägter als die zwischen der digitalen und der analogen Fotografie.
Es hat eine gewisse Pikanterie, dass man analog und digital entstandenen Bildern ihre unterschiedlichen Eigenschaften nicht unbedingt ansieht. Auch digitale Fotografien können den, nun allerdings falschen, Eindruck erwecken, sie wären indexikalische Zeichen einer Wirklichkeit vor dem Objektiv. Vielen Fotografen ist die damit verbundene Problematik nicht bewusst. Es wäre jedoch für die digitale Fotografie viel gewonnen, wenn sie sich reflektiert und selbstbewusst von der analogen Vorgängerin mit ihrem Objektivitätsanspruch abgrenzt und sich dem Medienlager zurechnet, in dem es nur noch künstlich erzeugte Bildrealitäten gibt.
Das digitale Bild ist entmystifiziert, es ist befreit von allen Zwängen, es fordert vom Betrachter keine Ehrfurcht, man darf es als wahr betrachten oder auch nicht, es lädt ein zum Ausprobieren und Experimentieren, es ist demokratisch und doch so elitär wie jede Kunst.
Und genau dahin führt der Weg der ambitionierten digitalen Fotografie. In dem Maße, wie sie sich vom Realitätsanspruch der analogen Fotografie verabschiedet, findet sie sich wieder in einer Medienwelt, die nicht trennsicher abzugrenzen ist von dem, was in der heutigen Zeit Kunst genannt wird. Die digitale Fotografie spielt dabei nicht nur eine Rolle als Produzentin statischer, solitärer Bilder. Die Grenzziehungen zu Performances, lichtkinetischen Experimenten und multimedialen Arrangements sind fließend. Somit ist durch die digitale Revolution, die zunächst eine technische Entwicklung war, die Frage mehr und mehr obsolet geworden, ob es sich bei der Fotografie um Kunst handelt. Dies war eine klassische Frage des Neunzehnten und Zwanzigsten Jahrhunderts, die heute nur noch aus historischer Perspektive von Belang ist. Die Ablösung der Kornstruktur des analogen Negativfilms durch digitale, quadratische Pixelkacheln ist auch Symptom für die Chance eines neuen Verständnisses der Fotografie.