Essay 13

Soziologie mit der Kamera

Das fotografische Portrait erfuhr im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts einen Wandlungsprozess. Treiber waren nicht die etablierten Atelierfotografen mit ihren Requisiten zur Inszenierung bürgerlicher Repräsentationsbilder, sondern die zunehmende Schar selbsterklärter Kunstfotografen, die den gestelzten Arrangements mit gemalten Hintergründen, Säulen und Palmen einen individuellen Blick jenseits der auf Wirkung bedachten Rollendarstellung entgegensetzten. Man wollte hinter die bislang ausdruckslosen Gesichter blicken und der verborgenen Innerlichkeit auf die Spur kommen. Hinzu kam, dass die fotografische Technik zwar als preiswerter Ersatz für das gemalte Bild diente, aber nicht dessen Kunstnimbus bieten konnte. Der Piktoralismus wollte jedoch Bedeutsames ausdrücken. Als Mittel dienten softe Unschärfen, ausgefeilte Drucktechniken und gemäldeähnliche Präsentationen.

Die Gründe für diese Entwicklung lagen nicht zuletzt in der sozialen Dynamik jener Zeit. Die rollenorientierte Abbildung war im Fin de Siècle problematisch geworden, da sich ein latentes Gespür für die eingetretenen kulturellen Brüche und Widersprüche entwickelt hatte. Das fortschrittsoptimistische und noch vom sozialen Aufstieg getragene Repräsentationsportrait der Gründerzeit hatte an Kraft verloren, weil die Rollenmuster selbst brüchig geworden waren. In weiten Kreisen des Bürgertums wurde die Jahrhundertwende als mentale Krisenzeit erlebt. In den Jahrzehnten zuvor waren Entwicklungen in Gang gebracht worden, die in einer relativ kurzen Zeitspanne tradierte Lebensweisen, soziale Bindungen und normative Orientierungsmuster in Frage gestellt oder gar aufgelöst hatten. Der neue Weg konnte die Hoffnung auf eine paradiesische Zukunft jedoch nicht einlösen. Am Ende des Jahrhunderts war der Fortschrittsoptimismus, der eng mit den technischen und wissenschaftlichen Errungenschaften, der Modernisierung des Alltags und der politischen Konsolidierung Deutschlands verknüpft gewesen war, einer mentalen und kulturellen Verunsicherung gewichen. Das Lebensgefühl schwankte zwischen Krisenreflexionen auf der einen Seite und Verdrängungsversuchen auf der anderen.

Neben dem Festhalten am Überlieferten suchte man nach der Wende zum 20. Jahrhundert neue Antworten. Kunst, Literatur, Philosophie, Psychoanalyse, die frühe Frauenbewegung, Stadtflucht und Jugendbewegung, sie alle zeugten neben der politischen Parteiendynamik von einer Schwelle zwischen zwei Lebenswelten.

Überall stand das Alte neben dem Neuen, traditionelle Verteidigungsversuche überkommener Reflexions-, Ausdrucks- und Lebensformen neben avantgardistischen Entwürfen einer zeitadäquaten Symbolsprache und Alltagsgestaltung. Die Jahre zwischen 1890 und dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs waren durch die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen gekennzeichnet. Die künstlerische Avantgarde, auch die fotografische, entwickelte sich innerhalb eines kulturellen Klimas, dessen konservativer Pol die Neuerungen zwar zu behindern versuchte, das Drängen nach der ästhetischen Rebellion dadurch aber erst so richtig interessant machte.

Was in den 1920er Jahren bis zum Eskapismus eskalierte, deutete sich im ausgehenden 19. Jahrhundert bereits an. Die Suche nach Neuheiten zog immer breitere Kreise in ihren Bann. Das motorische Prinzip der industriellen Massenfertigung, die andauernde Ersetzung des Alten durch Neues, vermeintlich Besseres, wurde zur leitenden Regel. Im Gefolge schlich sich eine Trauer über den Niedergang des Bekannten ein, so dass sich eine brisante Mischung aus Fortschrittserwartungen und Verlustängsten ergab. Zwar haben alle historischen Epochen kulturelle Selbstdeutungen und Theorien hervorgebracht, denen die eigene Zeit Krisenzeit ist, nur waren diese Analysen meist aus der Sicht philosophischer Kontemplation oder eines elfenbeinernen Ästhetizismus verfasst und repräsentierten keinen allgemeinen, lebenspraktisch wirkenden Zeitgeist. Kennzeichnend für das Krisenbewusstsein des Bürgertums im ausgehenden 19. Jahrhundert war hingegen die Tatsache, dass es sich weder um das elitäre Gefühl weniger Kulturkritiker handelte noch um die Reaktion auf eine existenzielle Lebensunsicherheit. Es war vor allem eine Sinnkrise, die sich breitmachte und einen Mangel an konsistenten Deutungs- und Orientierungsmustern verriet. Die massiven industriellen und sozialstrukturellen Veränderungen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatten ein Tempo vorgelegt, dem der kulturelle Überbau in seiner relativen Trägheit nicht hatte folgen können.

Nicht zufällig war das letzte Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts durch einen künstlerischen Aufbruch geprägt. Der Paradigmenwandel beim fotografischen Portrait spiegelt dies wider.

Als Beleg für die Einnahme eines veritablen sozialen Status hatte das inszenierte Kulissenbild mit seiner rollengerechten Erfolgspose in modernen bürgerlichen Kreisen ausgedient. Man wollte nun mehr sehen, das Portrait sollte etwas vom Wesenskern des Abgebildeten zum Ausdruck bringen. Insbesondere diejenigen, die eine Affinität zu ästhetischen Fragestellungen und eine kulturmentale Sensibilität mitbrachten, erwarteten Tiefsinniges. Für das breitere Publikum blieb das Standardportrait mit Frontalansicht und starrer Pose allerdings noch für längere Zeit das Maß der Dinge.

Bis dahin ungewohnte Kopf- und Körperhaltungen, Beleuchtungen mit starken Schattenbildungen oder der Einbezug von Accessoires des Alltagslebens mit Symbolkraft waren für die neue Art des Portraits Mittel der Abgrenzung vom hergebrachten Kulissenbild. Statt um Rollendarstellung ging es nun um die Psychologie der Seele. Die Nüchternheit der fotografischen Technik mit ihrer Genauigkeit stand dem allerdings in gewisser Weise entgegen. Details waren nicht nur überflüssig, sondern lenkten ab und galten als störend. Das Weichzeichnerobjektiv bot eine Lösung. Aufgrund seines häufigen Einsatzes brachte die Epoche des künstlerischen Portraits jedoch immer mehr Bilder hervor, die sich am Ende ziemlich ähnlich sahen. Von Individualität war nicht viel zu erkennen. Der anfängliche Avantgardecharakter des piktoralistischen Dogmas hatte sich durch die immergleiche Bildwirkung selbst destruiert. Gleichwohl ist die Bedeutung der subjektiven Idee nicht zu unterschätzen. Den nächsten Schritt vollzog in den 1920er Jahren das Neue Sehen. Hier verband sich die Sicht auf das Individuelle mit dem selbstbewussten Einsatz der fotografischen Technik, die jetzt nicht mehr getarnt wurde. Das Fotografieren ohne Weichzeichnerverklärung löste eine Entwicklungsphase aus, die das Zwanzigste Jahrhundert dominieren sollte. Nun standen klare Konturen im Vordergrund. Auch beim Portrait. Soziales spielte immer mit.

Gesellschaft kann man nicht anfassen. Und obwohl sie mit ihren Normen und Sanktionen sowie ihrer ganzen Kultur von Menschen erfunden wird, bildet sie, wie schon Émile Durkheim am Ausgang des 19. Jahrhunderts festhielt, eine eigenständige Tatsache.

Nachfolgende Generationen werden in das von den Vorfahren geschaffene Regelwerk hineingeboren, lernen sich in ihm zu verhalten und entwickeln es weiter. Individuum und Gesellschaft bedingen sich wechselseitig. Ohne soziale Gemeinschaft kein sprach- und denkfähiges Individuum, ohne das Zusammenwirken Einzelner keine Gesellschaft. Spannungen sind bei diesem Beziehungsverhältnis an der Tagesordnung.

Die Soziologie versucht seit ihren Anfängen im 19. Jahrhundert zu verstehen, wie Gesellschaft funktioniert. Je nach dem gewählten Fokus liegt der Schwerpunkt entweder bei sozialen Strukturen und Funktionen oder bei den Handlungen des Einzelnen und seinen Interaktionsprozessen. Ihre Theorien wurden deshalb entweder mit dem Label kollektivistisch oder individualistisch versehen. Aber eigentlich wusste die Soziologie schon immer, dass Individuum und Gesellschaft zwei Seiten derselben Medaille sind. Es handelt sich deshalb um einen methodischen Kollektivismus bzw. Individualismus, nicht jedoch um einen tatsächlichen. Auguste Comte, Émile Durkheim, Max Weber, die späteren Systemtheorien Talcott Parsons oder Niklas Luhmanns betrachteten das Ganze vom gesellschaftlichen Ausgangspol, Robert Merton etwa oder George Herbert Mead sowie alle sozialpsychologischen Theoretiker aus der Sicht des Individuums. Alles eine Frage der Perspektive, jedoch keine von richtig oder falsch.

Eine Bereicherung der Diskussion ergab sich in den 1970er Jahren durch feministische Theorien und später die Genderforschung, die quer zu den Polen Individuum und Gesellschaft die Geschlechterdimension hinzufügte, sowie die Kultursoziologie, die an alltäglichen Erscheinungsformen des Gesellschaftlichen ansetzte und gleichermaßen Kollektives wie Individuelles in den Blick nahm. Dass frühere soziologische Außenseiter wie Georg Simmel, Walter Benjamin oder Norbert Elias von der neuen Kultursoziologie in gewisser Weise als Vorreiter betrachtet wurden, verwundert nicht. Gemeinsam ist ihnen eine Konzentration auf Phänomene des Alltags, die wie von einem Flaneur wahrgenommen und essayistisch beschrieben oder systematisch als Erscheinungsformen gesellschaftlicher Regeln gedeutet werden.

Die sich seit dem Ausgang des 20. Jahrhunderts etablierende Visuelle Soziologie knüpft an der für moderne Gesellschaften typischen Hervorbringung unendlicher Mengen von Bildmaterial an.

Dieses ermöglicht neue Sichtweisen auf das Alltagsleben. Zwar hatten sich auch aus den fotografischen Portraits des 19. Jahrhunderts, den Sammlungen August Sanders oder aus alten Familienalben Erkenntnisse hinsichtlich gesellschaftlicher Rollenanforderungen ableiten lassen, aber der gegenwärtige Massengebrauch der Fotografie eröffnet weitere, neue Möglichkeiten. Vieles von dem, was mit dem Smartphone aufgenommen und in den Sozialen Medien gepostet wird, wirkt auf den ersten Blick höchst individuell. Spätestens seit der Analyse der Gesellschaft der Singularitäten durch Andreas Reckwitz wissen wir jedoch, dass den Bildern ein kollektiver Drang zur Performance zugrunde liegt. Jeder und jede möchte sich als etwas Besonderes darstellen. So individuell, wie erhofft, sind die Ergebnisse dann eben doch nicht. Die Präsentationsmuster wiederholen sich. Die digitale Fotografie mit ihren medialen Verbreitungsmöglichkeiten hat diese Entwicklung massiv befördert.

Für die visuell orientierte Soziologie ergeben sich zwei Zugangswege zur Deutung kollektiver Prozesse. Entweder werden mit der Kamera soziale Situationen festgehalten und anschließend analysiert, oder es wird vorhandenes Bildmaterial ausgewertet. In beiden Fällen tragen Alltagsfotografien dazu bei, hierarchische Ungleichheiten, subkulturell verbreitete Verhaltensmuster und gesellschaftliche Idealbilder zu erkennen. Meist geht es um stabile Wiederholungen in Form alltäglicher Rituale, die einem vorgegebenen Skript folgen. Das Drehbuch bleibt den Ausführenden jedoch in der Regel unbewusst und wird nicht als überindividuelle Vorgabe wahrgenommen. Das Wissen um die Genormtheit des eigenen Verhaltens ist verdrängt. Systematisch analysiert, können Fotografien deshalb zum Hilfsmittel für die Kenntlichmachung des Normativen werden, hin und wieder aber auch des Bedürfnisses nach Widerstand gegen allzu Einengendes. Wer genau hinschaut, erkennt Areale des Ausbruchs mit Emotionen, Kreativität, spontanem Verhalten und Extravaganzen verschiedenster Art. Das Streben nach sinnvollem Handeln weist auf Spielräume hin, die trotz aller gesellschaftlichen Normierungen gesucht und genutzt werden.

Einige phänomenologisch angelegte Sozialfotografien nutzen subjektive Formen. Basis des Geschichtenerzählens ist dabei die Herstellung einer imaginären Beziehung zwischen Fotograf und Betrachter. Ganz ähnlich wie in der literarischen Welt.

Nur selten werden Texte verfasst, die nicht von einer potentiellen Verstehbarkeit ausgehen. Hermetisch Abgeschlossenes, das sich ausschließlich in der Innenwelt des Autors abspielt, bleibt die Ausnahme. Noch eindeutiger scheint dies bei der Fotografie der Fall zu sein. Im Alltagsdenken herrscht sowieso die Auffassung vor, sie ließe sich spontan und ohne Interpretationsaufwand verstehen. Hat sie doch seit ihren Anfängen behauptet, die Welt objektiv abzubilden. Dies ist jedoch nur die halbe Wahrheit. Die Fähigkeit zum Interpretieren von Bildern ist Ergebnis eines kulturellen Vermittlungsprozesses. Fotografische Erzählwerke sind deshalb vor allem dann verständlich, wenn sie auf Rezipienten treffen, die auf ähnliche Weise wie der Fotograf oder die Fotografin sozialisiert worden sind. Mitunter bleibt es dennoch bei der Ratlosigkeit des Betrachters. Dies ist aber keine Besonderheit der Fotografie. Anderen Künsten geht das ähnlich.

Erzählende Fotografien können gestellte Szenen zum Inhalt haben. Auch diese ermöglichen Rückschlüsse auf tatsächliche Realitäten. Inszenierten Bilder sind nicht von vorneherein Kunstprodukte mit bestenfalls ästhetischem Wert, sondern potentielle Instrumente zur Reflexion sozialer Wirklichkeiten. Sie können zur Visuellen Soziologie werden, wenn sie plausible Geschichten erzählen und Einblicke in fremde Welten ermöglichen, die Wahrhaftiges suggerieren und ein Gefühl des Es-hätte-so-sein-können bieten. Einen Meilenstein setzte die in den 1970er Jahren entstandene Serie der Untitled Film Stills von Cindy Sherman, die an Hollywoodfilme der fünfziger Jahre erinnern, ohne jedoch den wirklichen Standbildern jener Zeit nachgestellt zu sein. Sherman nutzt die in unseren Köpfen abgespeicherten Geschlechtsrollenstereotype einschließlich Klischees genormter Blicke und Körperhaltungen. Für Gesten der Unterwürfigkeit oder des Überlegenheitsanspruches, für die Codes des Flirts wie für die kokette Abwendung stehen Verhaltensmuster zur Verfügung, die der einzelne nicht selbst erfunden hat, sondern die zum Repertoire des Sozialen gehören. Die Untitled Film Stills machen uns bewusst, dass die meisten von uns nicht nur eine Reihe alter Filme gesehen haben, sondern wie tief die dort verwendeten Rollenmuster als Material für bleibende Assoziationen in der Erinnerung eingegraben sind. Das betrifft männliche wie weibliche Rollenklischees gleichermaßen. Die inszenierten Fotografien Cindy Shermans sind zu Recht als Beitrag zur Geschlechtsrollenkritik verstanden worden.

Einen anderen Weg schlug Matthias Leupold ein. Geboren und aufgewachsen in der DDR, vollzog er in den 1980er Jahren nach einer Reihe künstlerischer Aneckungen mit dem offiziellen Kulturverständnis des Staates die Ausreise in den Westen. Hier setzte er die Arbeit mit gestellten Sujets fort. Der Bildband Die Vergangenheit hat erst begonnen – Szenische Photographien dokumentiert das so entstandene Werk aus den Jahren 1983 bis 1999. Typisch sind die ironischen Elemente, etwa in den Serien Fahnenappell, Leupolds Gartenlaube oder Die Schönheit der Frauen. Konzeptionelles, Serielles und Inszeniertes gehen eine Verbindung ein, die als kritische Gesellschaftsanalyse verstanden werden kann. Ob Leupold nun Gemälde der 1950er Jahre aus dem Genre des Sozialistischen Realismus nachstellt und dies mit der Kamera festhält, so dass die Gestaltungsregeln der Propaganda durch ihre übersteigerte Anwendung bis hin zum Lächerlichen sofort ins Auge fallen, ob es sepiagetönte Fotografien sind, die dem Stil der Gartenlaube aus dem Kaiserreich nachempfunden und mit passenden Bildtexten versehen sind, oder um weibliche Akte, deren historische Vorbilder wie frühe Sexbildchen wirkten, die durch kunstbeflissene Erläuterungen getarnt wurden, stets ging es Leupold darum, die Vertrautheit eingeübter Sehgewohnheiten durch Neuinszenierungen ins Wanken zu bringen. Man erkennt das platt Agitatorische des Sozialistischen Realismus ebenso wie den verklärenden Charakter der Gartenlaube oder die Funktion der Aktfotografien als Hilfsmittel zur Steigerung überwiegend männlicher Phantasietätigkeit.

Cindy Sherman und Matthias Leupold stehen beispielhaft für eine Form der Fotografie, die wie auf der Theaterbühne realistisch Wirkendes zeigt, durch die Kontextualisierung als künstliche Darstellung jedoch daran erinnert, dass es sich um nachgebildete Wirklichkeiten handelt. Schon Brecht hatte beim Konzept des Epischen Theaters inszenatorische Hilfsmittel entwickelt, um den Zuschauer aus der Phantasiewelt der Bühne ins reale Leben zurückzuholen. Die inszenierte Fotografie vermag Ähnliches zu leisten und zeigt, in welchem Ausmaß wir durch Bilder als Grundmaterial von Medien jeglicher Art konditioniert sind. Gezielt inszeniert, nicht nur in der Werbung, gewinnen sie ein Eigenleben, rutschen in die Tiefenschichten des Bewusstseins und verlieren ihren Charakter als Rollenskripte. Die Re-Inszenierungen solcher Bildmuster lösen beim Betrachten kognitive Dissonanzen aus, da einerseits die aus der Tiefe stammenden Assoziationen Vertrautheit suggerieren. Andererseits aber ist spürbar, dass da etwas mit der vermeintlichen Authentizität nicht stimmt. Bei Cindy Sherman geschah das eher subkutan. Der Witz oder die Ironie in Matthias Leupolds Serien ließen es ein wenig offenkundiger werden.

Seit es Gesellschaften gibt, besteht ein Spannungsverhältnis zwischen den kollektiven Anforderungen an den Einzelnen und seinen Behauptungen gegenüber dem sozialen Umfeld.

Gleichwohl bilden Individuum und Gesellschaft zwei Pole, die nicht voneinander zu trennen sind. In der Öffentlichkeit treffen sie aufeinander. Den Gegenpol bildet das Private. Die Verhaltensweisen in beiden Bereichen haben sich im Laufe der Zeit grundlegend verändert. Einiges von diesem Prozess spiegelt sich in der Praxis der Fotografie wider. Der heute in den Sozialen Medien zur Gewohnheit gewordene öffentliche Umgang mit privaten Bildern war noch vor wenigen Jahrzehnten undenkbar.

Erst mit der Aufklärung wurde die Dichotomie von Öffentlichkeit und Privatheit zu einem Grundmerkmal bürgerlichen Lebens. Am ausgeprägtesten zeigte sich dies im 18. und vor allem im 19. Jahrhundert. In der Öffentlichkeit wurden Dinge von kollektiver Bedeutung verhandelt, das Private hingegen wurde als Rückzugsraum verstanden, der vor den Blicken anderer abzuschotten war. Dass dieses Konstrukt zu keiner Zeit frei war von Verklärung, ist hinlänglich bekannt. Privatheit und Familie lassen sich nicht losgelöst von gesellschaftlichen Prägungen und Beeinflussungen verstehen. Bis in das Alltagsleben hinein finden soziale Transferprozesse statt. Ereignisse der Konsum- und Arbeitswelt durchdringen die Mauern des Privaten, das im Übrigen heute nicht nur dem klassischen Familienmuster folgt, sondern eine immer größer werdende Varianz aufweist. Im Gegenzug wird die Gesellschaft, unabhängig von den konkreten individuellen Lebensformen, stabilisiert, indem das Private Kompensationsleistungen zum Funktionieren des Einzelnen, etwa in der Arbeitswelt, erbringt.

Familiensoziologie und Genderforschungen haben gezeigt, dass der öffentliche Raum im Bürgertum der vergangenen Jahrhunderte überwiegend männlich dominiert war, während die Organisation des Privaten nicht selten als weibliche Domäne galt. Zum Ende des 19. Jahrhunderts befand sich dieses Familienmodell auf seinem Höhepunkt. Anschließend begann der langsame Zerfall als gesellschaftsdominantes Muster. Es verlor an Glaubwürdigkeit. Das Private ist politisch. Mit dieser Ansage machten SDS-Studentinnen aber auch 1968 noch deutlich, dass viele männliche Genossen weiterhin geprägt waren von traditionellen Vorstellungen. Und selbst die sexuelle Befreiung stellt sich im Rückblick in mancherlei Hinsicht als eine Strategie dar, die trotz antiautoritärem Wortgeklingel insbesondere die männliche Freiheit vor Augen hatte.

Es waren vor allem Künstlerinnen, die seit den 1970er Jahren dem vermeintlich Privaten seinen Ideologieschleier nahmen.

Was wie Voyeurismus aussah, war durch und durch politisch, nicht zuletzt geschlechterpolitisch, inspiriert. Nan Goldin öffnete ihr Privatleben bis hin zu intimen Ereignissen und zeigte ein Selbstportrait mit blauem Auge, das ihr von einem Lover zugefügt worden war. Andere Fotografinnen und Videokünstlerinnen, später auch Männer, gingen ähnliche Wege. Stets ging es darum, mit Hilfe von Bildern die Grenze zwischen öffentlichem und privatem Raum zu dekonstruieren. Dies und die Hinwendung zu intimen Themen war in der Kunst nicht neu. Literatur, Theater, Malerei und der Kinofilm zogen aus ihnen schon immer einen Teil ihrer Stoffe. Aber das alles war artifiziell, künstliche Kunst eben. Leser und Betrachter konnte sich wiedererkennen, stets jedoch gab es den Schutz des Imaginären. Schließlich war ja nur fiktiv, was man da lesen oder sehen konnte. Die neue Fotografie und das Video wiesen demgegenüber einen anderen Charakter auf. Sie zeigten Szenen, von denen man annehmen musste, dass sie im Augenblick der Aufnahme eine Entsprechung im Realen hatten.

Solange die Fotografie nicht als kritisches Instrument eingesetzt wird, sondern normenkonform für die Schaffung netter Erinnerungsbilder, weist sie kein Störpotential auf. Es bleibt beim Harmlosen aus dem Privaten. Die Bilder können problemlos im Freundeskreis vorgeführt werden. Oder es handelt sich um heimlich Angefertigtes mit erotischen Inhalten. In früheren Jahrzehnten blieben solche Bilder unter Verschluss und durften nicht dem Licht der Öffentlichkeit ausgesetzt werden. Einen Sonderfall bildeten künstlerische oder auch pornografische Aktaufnahmen, die von vorneherein für die Ausstellung, die Fotozeitschrift oder für den Handel mit einschlägigen Bildchen gedacht waren. Von ihrem Entstehen im 19. Jahrhundert bis in die 1960er Jahre hielt sich die Fotografie an diese Regeln. Abgesehen von wenigen Ausnahmen gab es einerseits die moralgerechten, öffentlichkeitsgeeigneten Bilder und daneben die unter Verschluss gehaltenen.

Durch die Sozialen Medien und aufgrund der massenhaften Verwendung des Smartphones als Kamera haben sich die Grenzen zwischen Öffentlichkeit und Privatsphäre vollkommen verschoben beziehungsweise aufgelöst.

Was mit dem antiautoritären Das Private ist politisch in den 1960er Jahren begonnen hatte, zeigt heute seine Fortsetzung in einer Gestalt, an die noch vor fünfzig Jahren kaum jemand gedacht hat. Ohne Ende werden private Bilder öffentlich gemacht. Einer der Gründe liegt in der Suche nach Anerkennung. Präsentationen in den Sozialen Medien erfolgen mit dem Ziel, konsumiert und im besten Fall mit einem Gefällt versehen zu werden. Kommerzielle Kampagnen kommen hinzu. Bei diesen geht es immer um Umsatzsteigerung. Private Posts hingegen rufen nach Anerkennung. Man will wahrgenommen werden und bei den Likes vorne liegen. Es wird gepostet, wo auch immer man sich befindet. Je ungewöhnlicher der Ort oder der Selfieblick auf das eigene Ich, umso besser. Das gibt Punkte im Singularitätswettbewerb. Aber alles hat seinen Preis. Das Private unterwirft sich der öffentlichen Normierung. Je besser der Mehrheitsgeschmack getroffen ist, umso erfolgreicher der Beitrag. Gezahlt wird mit der partiellen Aufgabe des Privaten. Wer alles ins Netz stellt, läuft im Übrigen Gefahr, in der eigenen Selbstwahrnehmung am Ende dem zu entsprechen, was im Netz steht.

Der Buchumschlag von Peter Sloterdijks Die schrecklichen Kinder der Neuzeit ist mit einer apodiktischen Warnung versehen: Die moderne Welt wird sich als eine Zeit erweisen, in der die Wünsche durch ihr Wahrwerden das Fürchten lehren. Was vor langer Zeit als Aufklärung begann, ist vielfach zu einer instrumentellen Vernunft derjenigen mutiert, die ihre Partikularinteressen mit liberalem Credo als fortschrittlich und universalistisch vernebeln. Die strukturellen Aspekte der dahinterstehenden Interessen sowie die Funktionsweisen der Warengesellschaft sind hinreichend beleuchtet worden, etwa von der Kritischen Theorie. Der klassische Konsummechanismus lässt auf Dauer eine innere Leere entstehen. Die Erfüllung eines Wunsches hat meist ein depressives Erwachen zur Folge.

Dramatisch wird es bei kollektiv angelegten Zukunftsentwürfen, wenn deren Verwirklichung mit orwellscher Konsequenz in Angriff genommen wird. Politische Programme erliegen der Versuchung, einfache Antworten auf komplexe Herausforderungen zu geben, um anschließend nach diesen Rezepten zur Tat zu rufen.

Zukunft ist dabei nicht unbedingt ein hoffnungsvoller Begriff, sondern wirkt, insbesondere für Verunsicherte, wie eine janusköpfige Angelegenheit. Schließlich ist sie immer auch unklar und damit potentiell bedrohlich. Wir wissen nicht, was kommen wird, und mancher fürchtet um das, was er jetzt noch hat. Da wundert es nicht, wenn aus Angst vor Neuem neben einfachen Antworten auch Bilder gesucht werden, die Stabilität und Dauerhaftigkeit suggerieren. Periodisch neu aufgelegte Bildbände mit historischen Fotografien, nicht nur politischer Art, es können auch Kunstbücher sein, erfüllen solche Stabilisierungsfunktionen. Sie reduzieren die Vergangenheit auf einen übersichtlichen Kern. Ausstellungen mit historischen Themen haben die gleiche Funktion. Die Welt wird geordnet. Mit wachsendem Abstand zum tatsächlichen Geschehen bleibt dann nur noch das im Gedächtnis, was die Kompilationen zeigen. Sie geben eine selektive Orientierung für die Zukunft vor, indem sie die Erinnerungsüberflutung und die Komplexität des Vergangenen reduzieren.

Wenn die These stimmt, dass Bilder Sicherheit schaffen, ist deren immense Zunahme ein Symptom für Verunsicherung. Je ausgeprägter das Bedürfnis nach einer Verankerung im Treibsand, umso mehr wird fotografiert. Umso fataler ist es, wenn Fotografien nicht mehr zu trauen ist. Das digitale Bild ist von seinem Wesen her zweifelhaft, weil unklar bleibt, welchen Ursprung es hat. Dieser kann in der Realität liegen, es kann aber auch das Ergebnis von Bearbeitungen am Rechner, frei generiert oder mit Daten aus anderen Quellen kombiniert sein. Die Zeit ist im Übrigen nicht fern, dass sich neben Bildern auch täuschend echte Audiodateien erzeugen lassen. Damit sind keine synthetisch klingenden Computerstimmen gemeint, sondern realistisch erscheinende Fakes. Ebenso können Videoaufnahmen so manipuliert werden, dass Gestik und Mimik zu frei erfundenen Sprachinhalten passen. Für politische oder gewerbliche Desinformationskampagnen eröffnen sich neue Wege. Die Rezeption medialer Informationen wird sich daher zwangsläufig verändern und das Entstehen von Misstrauen fördern. Begleitend wird der wachsende Bedarf an Fake-Enttarnungen einen prosperierenden Markt von Spezialisten hervorbringen, die technisch zu einer solchen Detektivarbeit in der Lage sind.

Die schöne neue Welt medialer Möglichkeiten erzeugt dreidimensional wirkende Ereignisse und ein Verlangen nach noch mehr künstlichem Realismus. Virtual Reality wird in die Haushalte einziehen. Ein böses Erwachen ist aber, wie stets in der Konsumwelt, nicht auszuschließen. Mediendaten, gleich welcher Art, sind nicht geeignet, in einer komplexen Welt mit offener Zukunft so etwas wie Sicherheit zu fördern. Wir können nicht wissen, wie wirklich die präsentierte Wirklichkeit wirklich ist. Irgendwann wird das zwar vielleicht egal sein und niemanden mehr interessieren. Bis dahin aber werden die mit dem eigenen Smartphone vor einer selbstgewählten Kulisse aufgenommenen Selfies das Authentischste sein, was uns bleibt. Bei ihnen weiß man jedenfalls, was man hat. Aber es bleibt eine individuelle Gewissheit.

Im Gegensatz zu früheren Zeiten gibt es keine exklusiv richtige Interpretation der Welt mehr. Nichts ist beschreibbar, ohne dass es aus einer Perspektive wahrgenommen wird. Nur schlichte Gemüter sind weiterhin davon überzeugt, über die einzig mögliche Wahrheit zu verfügen.

Insbesondere gilt dies bei der Beschreibung sozialer Tatsachen. Bis zu Renaissance und Aufklärung war die soziale Schichtung eine übersichtliche Angelegenheit. Jeder kannte in der Hierarchie seinen Platz. Kaum jemand stellte diesen in Frage. Dies hat sich grundlegend geändert. Die soziologischen Systemtheorien von Talcott Parsons bis Niklas Luhmann haben gezeigt, wie sich die Gesellschaft in Teilbereiche ausdifferenziert hat, mit denen der Einzelne in unterschiedlicher Weise verbunden ist. Wesentliche Subsysteme sind die Wirtschaft, die Politik, das Rechtssystem, die Religion, das Bildungssystem und die Wissenschaft. Hinzu kommen die Welt der Kunst sowie das Netz privater Beziehungen. Ein eindeutiges Zentrum, aus dem heraus alles gesteuert wird, gibt es im Gegensatz zu vormodernen Gesellschaften nicht. Vieles spricht zwar für die Dominanz ökonomischer Strukturen und Prozesse, aber als alleiniges Erklärungsmodell reicht dies nicht aus. Abhängig davon, aus welchem Diskurssystem heraus die Dinge betrachtet werden, entwickeln sich unterschiedliche Vorstellungen vom Ganzen.

Das soziale Handeln und die Kommunikation in den Subsystemen folgen eigenen Logiken. Die Wirtschaft wird durch das Leitmedium Geld bestimmt, in der Wissenschaft ist es das Kriterium Wahrheit, die Politik folgt der Logik der Macht sowie der Legitimation in Form von Wahlen, die öffentliche Verwaltung und das Rechtssystem den Prinzipien eines sauberen Verfahrens und die Kirche der Überzeugungskraft des Glaubens. Aus systemtheoretischer Sicht überrascht es deshalb nicht, dass die Bewertung ein und desselben Sachverhaltes je nach Perspektive und Subsystem zu unterschiedlichen Ergebnissen führt. Das hat nichts mit einem wertelosen Relativismus zu tun, sondern ist Ergebnis einer Gesellschaftsstruktur ohne zentrale Deutungshoheit. Die Zeiten, in denen ein Beobachter oder ein Machtzentrum einschließlich kirchlicher Institutionen die Erscheinungen der Welt verbindlich deuten konnte, sind vorüber. Zumindest gilt dies für demokratisch verfasste Gesellschaftssysteme.

Bezogen auf die Fotografie kommt hinzu, dass es keine eindimensionale Bedeutung eines Bildes gibt. Für einen ästhetisch Interessierten, einen Kunstspekulanten, einen Bildredakteur, einen Historiker oder für Freunde und Bekannte kann ein und dieselbe Fotografie höchst unterschiedliche Bedeutungen haben. Aber nicht nur das. Ob es das zentralperspektivische Bildparadigma ist, das in der monokularen Sicht des Fotoapparates seine Bestätigung zu finden scheint, ein mit überzogenen Objektivitätsversprechen verknüpftes Dokumentarverständnis, oder ob es die Produkthersteller sind, die technisch das jeweils Machbare vorgeben, stets wird deutlich, dass Fotografieren alles andere als eine neutrale Angelegenheit ist. Darüber hinaus findet der Kameragebrauch in heterogenen Bereichen statt. Das genormte Passbild aus dem Bahnhofsautomat, die anthropologische Sammlung von Gesichtern aus fremden Welten, die Polizeidatenbank, das Überwachungsfoto, das Selfie zum Festhalten des gerade Erlebten, das professionelle Foto der Fachkamera und schließlich die sogenannte Kunstfotografie sind so unterschiedliche Erscheinungsformen, dass eine definitorische Homogenisierung nicht einmal auf der Metaebene Sinn macht.

Fotografie findet, wie das Leben, im Kontext verschiedener gesellschaftlicher Welten statt.

Politik, Staat, Ökonomie, Wissenschaft, Kunst und Privatheit wurden bereits genannt. Der Versuch, das fotografische Muster aus einem der Subsysteme heraus begreifen zu wollen und verallgemeinernd auf andere zu übertragen, ist dennoch so alt wie die Fotografie selbst. Und so kommt es, dass Dokumentaristen den objektiven Charakter des mit der Kamera aufgenommenen Bildes betonen, während Künstler seine grundsätzliche Unabhängigkeit reklamieren und jeden Wirklichkeitsbezug für eine überflüssige Idee halten. Den Machern privater Erinnerungsbilder wiederum sind solche Überlegungen egal. Sie tendieren zu einem pragmatischen Verständnis, das frei ist von bildtheoretischen Überlegungen. Man vertraut einer stabilen Relation zwischen der wirklichen Tante Erna und ihrem Abbild. Das ist alltagspraktisch auch völlig in Ordnung. Die Dinge permanent zu hinterfragen, würde nur verrückt machen. Auf der reflexiven Ebene hingegen erscheint es sinnvoll, statt allgemeingültige Sichten auf das Wesen der Fotografie zu formulieren, deren verschiedene Bedeutungen zu betrachten.

Aus wissenschaftlicher Sicht als einer der möglichen Perspektiven lässt sich fragen, ob ein Bild wahr ist oder gefälscht. Jede Fotografie muss heutzutage schließlich als grundsätzlich zweifelhaft betrachtet werden. Viele Manipulationen können nur noch von Digitalspezialisten entdeckt werden. Eine rechtliche Sichtweise befasst sich etwa mit der Frage, ob eine Person in herabwürdigender Weise dargestellt wurde. Es könnten Rechte am eigenen Bild verletzt worden sein. Und es gibt Urheberrechte, zum Beispiel für bestimmte Gebäude und Kunstwerke. Die ökonomische Perspektive ist bei professionellen Veröffentlichungen nahezu immer relevant. Was verdienen der Fotograf oder die Fotografin? Werden die Auflage oder die Nutzerzahlen eines Mediums gesteigert? Oder, wie muss eine Fotografie vom Galeristen vermarktet werden, um das Bild gut verkaufen zu können? Eine mediale Perspektive könnte mit der Überlegung verknüpft sein, ob eine Veröffentlichung verlegerisch opportun ist und dem Image des Verlagsprogramms entspricht. Die Übergänge zu ökonomischen Fragestellungen sind fließend. Im politischen Kontext gibt es neutrale Bilder so gut wie gar nicht. Die Geschichte der Fotografie ist voll von apologetischen, reaktionären, revolutionären, aber auch harmlos erscheinenden Beispielen. Veröffentlichungen eines verwirrt blickenden Ministers mit zu langen oder zu kurzen Hosen oder einer Ministerin, die gerade im schlechtsitzenden knallbunten Kostüm verträumt ihr Smartphone beäugt, sind stets Ausdruck gezielter medialer Strategien. Eine künstlerische Perspektive wiederum kümmert sich nicht um politische Opportunitäten oder wirtschaftliche Aspekte, jedenfalls nicht bei der vordergründigen Betrachtung. In der Praxis fragen sich allerdings auch Künstler und Künstlerinnen, ob der Erlös ihrer Arbeit dazu beiträgt, den Lebensunterhalt zu sichern. Vorherrschend ist bei der Kunstperspektive jedoch etwas anderes. Ästhetische Normen gelten nicht zeitlos, sondern sind Modetrends unterworfen. Künftig werden Bilder erfolgreich sein, denen gegenwärtig noch keine Beachtung geschenkt wird. Wer künstlerische Trends von morgen antizipieren will, muss sich auf Ungewissheiten einlassen. Und schließlich die private Perspektive. Kunstfragen oder pekuniäre Interessen spielen hier kaum eine Rolle. Meist geht es um den persönlichen Erinnerungswert oder um die Funktion eines Bildes im Rahmen sozialer Beziehungen einschließlich seiner Präsentation in den Sozialen Medien.

Bei aller Ausdifferenzierung in Subsysteme mit jeweils eigenen Logiken hat die Digitalisierung eine neue, homogenisierende Realität geschaffen. Ein gedankliches Experiment mag dies demonstrieren. Nehmen wir das mit dem Smartphone aufgenommene Selfie von Max Mustermann, der sich gerade als Zuhörer in einer Wahlkampfveranstaltung befindet. Im Hintergrund ist eine prominente Politikerin zu erkennen, im Vordergrund grinst Max in sein Smartphone. Ist er belustigt oder enttäuscht? Oder ist die Rede der Politikerin einfach nur langweilig? Wir können dem Bild, das Max umgehend in den Sozialen Medien postet, eine Antwort nicht entnehmen. Die Bildaussage bleibt offen, da Max keine Erklärung hinzugefügt hat. Die Freundinnen und Freunde erfahren lediglich, dass er sich gerade auf einer Wahlveranstaltung befindet.

Wir betreten nun eine fiktive orwellsche Welt und sehen uns das weitere Schicksal von Max an. Automatisierte Bildauswertungsalgorithmen, die das Internet beobachten, haben das Selfie ebenfalls registriert. Sie sind mit einer Datenbank verknüpft, die seine Identifizierung ermöglicht. Aber der Algorithmus kann noch mehr. Er weiß aus einer anderen Datenbank, dass Max kürzlich einige Bücher im Online-Handel bestellt hat, die zusammen mit seinen sonstigen Lektüregewohnheiten die Schlussfolgerung zulassen, dass er mit den Meinungen der Politikerin nicht einverstanden ist. Auch diese Information hat sich der Algorithmus im Bruchteil einer Sekunde verschafft. Und dann wird aus einer weiteren Quelle gemeldet, dass Max vor einer Stunde im Supermarkt Eier und Tomaten gekauft hat. Alles das hat der Algorithmus erkannt, ohne dass irgendjemand einen Computer bedienen musste. Der Aufenthalt von Max ist aufgrund der Bildaufzeichnung am Eingang der Veranstaltungshalle sowie seiner sofortigen Identifizierung ohnehin bekannt. Aufgrund der Verknüpfung mit den übrigen Daten wird nun vom Algorithmus ein Verdachtsalarm ausgelöst, der bei den Personenschützern der Politikerin eingeht. Die Reaktion erfolgt umgehend. Nun muss sich Max von Männern mit Knopf im Ohr einige Fragen gefallen lassen. War er im Supermarkt, um dort weichgewordenes Gemüse und Eier für ein Attentat einzukaufen? Max kommt ins Schwitzen. Ob sein Hinweis auf das geplante abendliche Tomatenomelett für ein paar Freunde überzeugt, wissen wir nicht.

Die Geschichte von Max Mustermann ist Fiktion. Sie zeigt jedoch, welche Potentiale im Digitalen stecken. Daten aller Art, somit auch fotografische, können aufgrund ihres gleichförmigen Codes in Form von Bits und Bytes mit anderen Daten verknüpft werden. Diese Kombinierbarkeit beinhaltet ein Potential zur Gewinnung unendlich neuer Erkenntnisse. Big Data ist das Synonym. Wurden in der klassischen systemtheoretischen Betrachtung die verschiedenen gesellschaftlichen Subsysteme vorwiegend mit ihrer jeweils eigenen Logik betrachtet, so hat die Digitalisierung eine einheitliche Plattform zur technische Informationsverknüpfung von Daten sämtlicher Lebensbereiche geschaffen.

Der parasitäre Datensammeleifer der Internetgiganten ist bekannt. Ihr Geschäftsmodell besteht nicht in der freundlichen Zurverfügungstellung von Kommunikationsforen oder einer leistungsfähigen Suchmaschine, sondern im Sammeln von Daten jeglicher Art, die aufbereitet und zum Kauf angeboten werden.

Nur damit wird Geld verdient, und nur darum geht es den Unternehmen. Dass darüber hinaus überall auf der Welt polizeiliche und geheime Dienste Big Data für Überwachungs- und Kontrollzwecke nutzen, ist kein Geheimnis. Die Dinge vermischen sich, und die ursprünglich für kommerzielle Zwecke gesammelten Daten können bei einer Verknüpfung mit weiteren Informationen zu Profilerkenntnissen führen, die sich konkreten sozialen Gruppen und Einzelpersonen zuordnen lassen. Hier geht es nicht mehr um Business im klassischen Sinne. Auch mediale Desinformationskampagnen aus Trollfabriken fremder Staaten basieren auf solchen Möglichkeiten, ebenso wie die personalisierte Wahlwerbung, die längst, völlig legal, von Parteien eingesetzt wird, um das potentielle Wählerklientel mit eigens auf sie zugeschnittenen Informationen zu füttern.

Haben diese Szenarien etwas mit der Fotografie zu tun? Ja, natürlich, denn alle ins Netz gestellten Bilder sind durch Dritte analysierbar. Jedes Bild verrät Informationen über den Fotografen oder die Fotografin. Niemand kann sich mehr der Illusion hingeben, der Gebrauch einer Kamera habe nur Folgen im Privaten. Alles, was wir digital tun, hinterlässt Spuren. Auch durch Fotos geben wir Daten preis, egal ob in den Sozialen Medien, in Clouds oder im Rahmen der Übermittlung an Fotobuchhersteller. Die Spuren dokumentieren, was und wen wir wann und wo fotografiert haben. Computeranalysen können im Sekundenbruchteil Gebäude, Orte, mitunter selbst Landschaften identifizieren, und die maschinelle Gesichtserkennung ist so ausgefeilt, dass von einer signifikanten Trefferquote ausgegangen werden kann. Bilder und Texte zeugen von unserem Verhalten, unserem Bekanntenkreis, unseren Interessen und von unseren Vorlieben.

Das alles gilt auch für analog aufgenommene Fotografien, wenn sie digitalisiert und ins Netz gestellt werden, selbst wenn es lediglich für die private Sicherung, etwa in einer Cloud, oder für einen Post auf Facebook geschieht. Aber nicht erst dies, schon unser Scanner ist nicht ausspähsicher, ebenso wenig sind es die etablierten Programme zur Bildbearbeitung. Wirklichen Schutz vor Datenklau bietet die analoge Fotografie nur dann, wenn die Filme selbst entwickelt und die Negative in der eigenen Dunkelkammer vergrößert werden. Und Fotobücher mit eingeklebten Bildern lassen sich ja auch per Post verschicken. Zurück in die fotografische Steinzeit? Eine rein analoge Option gibt es bei realistischer Betrachtung nicht mehr wirklich. Überall, wo ein analog aufgenommenes Negativ oder Bild in fremde Hände gelangt oder mit Digitaltechnik in Berührung kommt, entstehen Daten, die nicht verborgen werden können.

Das Unbehagen an der digitalen Kultur hat seine Wurzeln in ihrer Undurchschaubarkeit.

Gleichzeitig ist das digitale Paradigma so weit in den Alltag eingedrungen, dass seine Existenz nicht auffällt. Lediglich Erinnerungsstücke aus vordigitaler Zeit wie der Plattenspieler, die mechanische Schreibmaschine oder die analoge Kamera zeugen davon, dass es einstmals auch anders ging. Aber diese Techniken bleiben Randphänomene wie spaßige Oldtimer. Allein schon aufgrund der mit ihnen verknüpften Umständlichkeit sowie der Kosten haben sie im Alltagsgebrauch gegenüber den modernen Nachfolgern keine Chance. Man muss sich analoge Technik, wie jegliches Spielzeug, eben auch leisten können. Und so sind es nur wenige, die sich in der durchdigitalisierten Welt ihre kleinen Nischen jenseits von Big Data bewahren. Im Netz jedenfalls gibt es keine analogen Fotografien. Keine! Sie alle sind digitalisiert und können so zum Ausgangsmaterial für Analysen werden. Und es lassen sich Synapsen herstellen. Die Verknüpfungen zwischen den Subsystemen kennen wir aber nicht.