Essay 11

Sehenlernen und Gestalten

Zentraler Bestandteil aller Wahrnehmungsprozesse ist ein strukturierender Sinn, der bereits bei der Reizaufnahme mitwirkt und die Komplexität der Eindrücke ordnet. Die Informationsaufnahme durch Rezeptoren und die Sinnidentifikation greifen ineinander und stützen sich wechselseitig. Die Art und Weise, wie Objekte und Räume wahrgenommen und interpretiert werden, ist dabei nicht angeboren und auch keine Angelegenheit individueller Wahlfreiheit. Was die Dinge bedeuten und für uns sind, ist Ergebnis eines Lernprozesses, bei dem in der kindlichen Entwicklung Sehen und Sinnverstehen parallel ausgebildet werden. Der Einzelne steht der Welt weder autonom noch einsam gegenüber. Stets ist er Teil eines sozialen Netzwerkes, und die auf den ersten Blick subjektive, individuelle Wahrnehmung erweist sich in der Regel als eine intersubjektiv ähnliche Wahrnehmung auch anderer. Nur so funktioniert Gesellschaft. Schon lange vor der Postmoderne wurden von Alfred Schütz der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt sowie von Peter L. Berger und Thomas Luckmann die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit plausibel beschrieben.

Als Medium der Sinnkonstituierung wirkt die Sprache. Die Gesellschafts- und Kulturwissenschaften betrachten sie als wichtigsten Schlüssel für das Verständnis von Subjekt, Gesellschaft und Welt.

Der Begriff des linguistic turn unterstreicht diese Fokussierung. Sämtliche Vorstellungen einer eindeutig gedachten Realität und der Möglichkeit ihrer objektiven Abbildung, auch in Form von Fotografien, haben an Überzeugungskraft eingebüßt. Mehr noch, da Wirklichkeit und Gesellschaft im Rahmen sprachlich gebundener Prozesse konstituiert werden, liegt der ontologische Zweifel nahe. Gibt es überhaupt eine Wirklichkeit an sich? Und wenn ja, welche Rolle spielen bei ihrer Deutung die gesellschaftlichen Prozesse? Derrida, Foucault, Lacan, Deleuze, Lyotard, Baudrillard und auch Roland Barthes waren mit solchen Fragestellungen zur philosophischen Avantgarde aufgestiegen, bis der gleiche Roland Barthes schließlich zu der Erkenntnis gelangte, dass durch die Fotografie ein positiver ontologischer Beweis möglich wäre. Schließlich seien, so Barthes, die nach Belichtung und Entwicklung fixierten Silbersalze des Negativs ein Beleg dafür, dass im Augenblick der Aufnahme etwas vor der Kamera gewesen sein oder stattgefunden haben muss. Wie auch immer es sinnhaft gedeutet wird.

Alle Objekte dieser Welt lassen sich phänomenologisch, das heißt plausibel und ihrem evidenten Anschein nach, innerhalb eines Raumes mit drei Koordinaten beschreiben, so etwa der Schrank von Ikea mit Höhe, Breite und Tiefe. Die Fotografie des gleichen Schrankes im Katalog weist dann allerdings nur noch zwei Ausdehnungen auf, eine Höhe und eine Breite. Die Tiefe ist verschwunden, das Bild des Schrankes stellt eine reine Fläche dar. Trotz dieses Unterschieds haben wir in der Regel keine Schwierigkeit, im Ikea-Kaufhaus mit dem Katalog in der Hand genau den Schrank zu finden, den wir uns zuvor ausgesucht hatten. Das ist ein bemerkenswerter Vorgang: Ein Schrank aus gepressten Holzspänen und einigen Metallteilen wird als übereinstimmend mit einer bunten Abbildung auf einer Papierseite inmitten vieler anderer bunter Gegenstände erkannt. Solche Identitätsfeststellungen sind nicht selbstverständlich. Zum Erkennen des Schrankes bedarf es erstens der Fähigkeit zum Sehen an sich und zweitens des Bilderverstehens.

Ein Kind baut nach und nach eine kognitive Repräsentanz seiner Umwelt auf, nicht zuletzt, indem es die Beschaffenheit und Eigenschaften der Gegenstände im wahrsten Sinne des Wortes begreift.

Es wächst in eine Welt hinein und lernt, sich in dieser zu bewegen und mit ihr umzugehen. Von der kognitiven Psychologie wurde die Entwicklung des Sehvermögens in den ersten Lebensmonaten ausführlich beschrieben. Dabei ist auf der einen Seite der enge Zusammenhang mit der Ausdifferenzierung und zunehmenden Verknüpfung der Nervenfasern zu erkennen, andererseits aber auch die Verbindung mit dem allgemeinen Fortschreiten der Entwicklung. Während die Pupillen des Kindes nach der Geburt zunächst lediglich grobe Lichtreize wahrnehmen, haben sich nach drei Monaten erste Fähigkeiten des Kontrastsehens ausgebildet. Einige Zeit später setzt das Unterscheidungsvermögen zwischen nah und fern ein und die Entwicklung des räumlichen Sehens beginnt. In diese Phase fällt auch die Ausdifferenzierung des Farbensehens. Abgeschlossen ist die Ausreifung des Sehvermögens im Wesentlichen mit etwa sechs Jahren. Parallel zu diesem Prozess vollziehen sich die Schritte der allgemeinen kognitiven Entwicklung. Die Personen und Dinge der kindlichen Umwelt werden nicht nur voneinander unterschieden, sondern es wird auch deren Bedeutung erfasst. Hier kommt die Gesellschaft ins Spiel, zunächst überwiegend in Gestalt der unmittelbaren Bezugspersonen. Gleichzeitig lernt das Kind, zwischen sich und der Umwelt zu unterscheiden, und es entwickelt eine Idee davon, dass die Objekte existent bleiben, auch wenn sie sich nicht mehr im Blickfeld befinden. Hier begründet sich im Übrigen die Bedeutung des Versteckspiels für die kindliche Intelligenzentwicklung. Weiterhin kommt dem Gebrauch der Hand eine wichtige Funktion zu, da mit ihrer Hilfe Gegenstände in der räumlichen Verortung verändert und so die Folgen des eigenen Handelns getestet werden. Der hinzukommende Spracherwerb ermöglicht es, zwischen einem Symbol als Repräsentant der Objekte und dem Objekt selbst zu unterscheiden. Sprache ist die Voraussetzung nicht nur für Kommunikation, sondern auch für die Herstellung von gedanklichen Beziehungen zwischen den Dingen auf der Symbolebene. Schließlich leitet das Kind aus selbstformulierten Annahmen Schlussfolgerungen ab, um diese auszutesten. Etwa mit dem zwölften Lebensjahr ist das logische Denken entwickelt. Heranwachsende können nun Probleme abstrakt analysieren, mathematische Operationen vornehmen und komplexere Hypothesen aufstellen. Theoretisch jedenfalls. Wenn das grundlegende Lernpotential in den ersten Lebensjahren nicht ausgeschöpft wurde, kann das Versäumte später nur schwer oder gar nicht mehr nachgeholt werden.

Das Licht wird von Rezeptoren in der Netzhaut registriert und in elektrische Impulse umgewandelt. Nach der Strukturierung dieser Informationen werden sie in den dafür zuständigen Hirnregionen mit anderen Informationen zusammengeführt, mit vorhandenen Daten abgeglichen und schließlich als visuelles Bild mit einer kognitiven Bedeutung, einem Sinn, versehen. Erst dieser gesamte Verarbeitungsprozess kann als Sehen bezeichnet werden. Parallel entwickelt sich die Fähigkeit zur räumlichen Wahrnehmung. Die Einschätzung eines weit entfernten Objektes als real größenkonstant gegenüber einem gleichen, jedoch näheren, ist Ergebnis einer Abstraktionsleistung. Ebenso wird ein sich drehendes Objekt als körperkonstant bewertet, obwohl sich seine Oberflächenansichten permanent verändern. Ist dies einmal begriffen, wird es aufgrund der aufgebauten kognitiven Repräsentanz eines Objektes möglich, die Informationen eines zweidimensionalen Bildes, etwa einer Fotografie, zurückzuübersetzen und gedanklich mit einem realen, ursprünglich dreidimensionalen Objekt in Verbindung zu bringen. Ein Kind ist deshalb erst ab einem bestimmten Alter in der Lage, ein Bild oder eine Fotografie zu verstehen. Dies hat auch kulturelle Gründe.

Untersuchungen zeigen, dass Angehörige fernab lebender indigener Kulturen, die erstmals mit fotografischen Bildern in Kontakt kommen, deren Wirklichkeitsbezug zunächst häufig nicht erkennen.

Erst nach Hinweisen auf bestimmte Einzelheiten wird ein Zusammenhang zwischen dem Bild und der realen Umgebung entdeckt. Im der uns vertrauten Kultur findet dieser Lernprozess in der Kindheit anhand von Bilderbüchern statt. Bilderlernen heißt nichts anderes als Herstellen von Beziehungen zwischen zweidimensionalen Abbildungen und den Dingen des dreidimensionalen Raumes. Die abgebildeten und die wirklichen Objekte erhalten einen gemeinsamen Sinn, der in der Regel durch ein Sprachsymbol ausgedrückt wird. Der Ball im Bilderbuch, der reale Ball im Kinderzimmer und das Wort Ball gehören zusammen. Nur auf dieser Basis werden Fotografien verstehbar. Auch die Wiedererkennung des Schrankes von IKEA wäre sonst nicht leistbar.

Noch vor der Bedeutungszuschreibung setzen bei der Bildwahrnehmung unbewusste Strukturierungsleistungen ein, die Ordnung in die zunächst chaotische Informationsmenge bringen. Einzelne Bildelemente oder Bildpunkte werden zu plausiblen Einheiten zusammengefasst, und es entstehen Figuren, die sich vom Hintergrund abheben. Diese Strukturierungsleistung scheint eine vorkulturelle Qualität zu besitzen. Die konstruierten Einheiten bilden sich nicht erst durch sprachgebundene Sinnzuschreibungen, sondern durch Mechanismen, die offenbar angeboren sind. Auf deren Funktion für die Wahrnehmung hat insbesondere die Gestaltpsychologie hingewiesen. Sehen bedeutet Informationskomplexität eindämmen, Ordnung schaffen und Zusammenhänge konstruieren. So werden Punkte, die in hinreichender Dichte auf einer gedachten Vierecklinie angeordnet sind, als Quadrat oder Rechteck interpretiert. Andere Gestaltgesetze besagen, dass ähnliche Elemente als zusammengehörig gesehen werden oder dass Linien dem einfachsten aller möglichen Wege folgen. Bilden sie ein Kreuz, werden sie nicht als abknickend interpretiert, sondern als durchgehend.

Diese Prinzipien folgen auf wirkungsvolle Weise der Einfachheitsregel beziehungsweise dem Ziel der Reduktion von Komplexität. An welcher Stelle der Signalverarbeitung vom aufgenommenen Lichtreiz auf der Netzhaut bis zur Bedeutungszuordnung in der zuständigen Hirnregion die Gestaltungsleistungen einsetzen, ist von sekundärer Bedeutung. Entscheidend ist, dass solche Strukturierungen überhaupt stattfinden und dass bei der Einordnung visueller Reize hirnaktive Prozesse beteiligt sind. Deutlich wird dies am Beispiel eines sogenannten Vexier- oder Kippbildes, das entweder zwei sich zugewandte Gesichter zeigt oder aber einen Pokal. Den meisten gelingt es, zwischen beiden Varianten zu wechseln und das aktuell wahrgenommene Bild in das jeweils andere kippen zu lassen. Aber es sind niemals beide Bilder gleichzeitig zu sehen. Allein hierdurch wird deutlich, dass es mit der Objektivität und Eindeutigkeit eines Bildes so eine Sache ist.

Während die Kamera in der Regel mit nur einem Objektiv ausgestattet ist, nimmt der Mensch die gegenständliche Umwelt mit zwei Augen wahr. Diese registrieren alles mit einem Perspektivunterschied von einigen Zentimetern, dem Abstand der Augen voneinander.

Die beiden Bilder sind nicht identisch, sondern unterscheiden sich geringfügig. Diese Differenz genügt dem Gehirn, um in einem schnellen Rechenprozess die Entfernung und reale Größe des wahrgenommenen Objektes einzuschätzen. Schließt man hingegen eines der Augen, entfällt das zweite für die Berechnung benötigte Bild und wir sind bei der Bestimmung von Entfernung und Größe eines Objektes stark eingeschränkt. Die Abschätzung kann dennoch gelingen, wenn in einem vorangegangenen Erfahrungsprozess die reale Größe der Dinge erlernt worden ist und sich eine entsprechende kognitive Repräsentanz aufgebaut hat. Irgendwann wissen wir dann, wie groß ein VW Golf ungefähr ist, egal wie klein er aus der Entfernung erscheint. Dies gilt sogar bei der Wahrnehmung von teilweise verdeckten Objekten. Im Übrigen verweist allein die Konstellation des Verdeckten auf ein Davor und Dahinter und damit auf Räumlichkeit. Diese Erfahrungen im dreidimensionalen Realraum werden abstrahiert und auf das Verstehen einer zweidimensionalen Fotografie angewandt.

Hinzu kommen ästhetische Bewertungsaspekte. Offensichtlich gibt es bei einem Kunstwerk, einem Gebäude oder einem Gebrauchsgegenstand Formen, die als gelungen oder schön empfunden werden. Weisen solche Empfindungen einen universellen, zeitlosen und kulturunabhängigen Charakter auf? Immer wieder hat es Versuche gegeben, mit Hilfe mathematischer oder geometrischer Formeln allgemeine Gesetze für Schönheit zu entdecken. Mit Euklid fing die Geschichte des Goldenen Schnitts an. Wie können, so seine Ausgangsfrage, Proportionen geschaffen werden, die eine angenehme, harmonische Wirkung zur Folge haben? Ergebnis war die irrationale Zahl 1,618, die als Konstante bei der Teilung einer Strecke in zwei Abschnitte dem Verhältnis der Gesamtstrecke zu ihrem größeren Teil ebenso wie dem Verhältnis des größeren zum kleineren Streckenteil entspricht. Später haben Leonardo da Vinci und Albrecht Dürer Überlegungen bezüglich der bildlichen Darstellung des menschlichen Körpers unter Berücksichtigung von Proportionalgesichtspunkten entwickelt.

Bis in das 19. Jahrhundert hinein ist der Goldene Schnitt als vorherrschende Regel nachweisbar, etwa bei Gemälden von Caspar David Friedrich oder Adolph Menzel.

Dann nahm die Suche nach der Schönheitsformel obskure Züge an. Überall wurden kabbalistische Zahlengesetzmäßigkeiten entdeckt. Wenn man nur lange genug suchte, fanden sich in nahezu allen Gemälden Proportionen zwischen irgendwelchen Bildelementen, die dem Goldenen Schnitt entsprachen. Aber ebenso gut hätte man nach etwas anderem suchen können und auch dann etwas gefunden. Dennoch, es lässt sich nicht von der Hand weisen, dass klassische Proportionalgesichtspunkte in der Kunst, der Architektur und im Design auffallend häufig angewandt werden. Ist also neben aller Zahlenmystik vielleicht doch etwas dran am Goldenen Schnitt? Und was sagt die Natur zu dieser Frage? Wenn es sich um eine divina proportione handelt, dann müsste sich die Regel doch gerade hier nachweisen lassen. Bei der Suche nach entsprechenden Naturformen, ob nun als Schneckengehäuse, Pflanzenblüte oder Tiergestalt, stößt man in der Tat auf bestimmte Konstruktionskonstanten. Aber es sind eben nicht nur Proportionen des Goldenen Schnitts, sondern auch andere Zahlenverhältnisse. Letztlich gibt es in der Natur keine einheitliche Teleologie einer bestimmten Proportion, zu der alles hinstrebt. Dennoch blieb man der Goldenen Regel im 19. Jahrhundert hartnäckig auf der Spur.

Im Jahr 1876 zeigte Gustav Theodor Fechner, dass von den meisten Versuchspersonen unter mehreren Vierecken das mit dem Seitenverhältnis des Goldenen Schnitts deutlich bevorzugt wurde. Dieses Ergebnis ließ sich später allerdings nicht zeit- und kulturunabhängig reproduzieren. Bei heutigen Experimenten erhält oftmals das Quadrat die meiste Zustimmung. Dies stützt die These, dass Proportionalempfindungen einem Wandlungsprozess unterliegen und Geschmackssache sind. So können es bekannte und vertraute Formen sein, aus denen sich eine ästhetische Erwartungshaltung entwickelt, die aus Faktischem im Sinne eines sich selbst bestätigenden Prozesses Normatives macht. Aber ob nun universell geltend oder kulturabhängig, praktisch hat der Goldene Schnitt bis in die Gegenwart eine Bedeutung.

Das genaue Einhalten von Proportionalregeln, gleich welcher Art, ist dennoch kein Selbstzweck.

Das gilt gerade auch in der Fotografie. Zwar wird der Goldene Schnitt häufig bewusst als Gestaltungsmittel eingesetzt. Ebenso häufig wird jedoch erst bei der nachträglichen Bildanalyse festgestellt, dass er zur Anwendung kam. Andere Fotografien, auch viele herausragende, sind hingegen vollkommen frei von Merkmalen des Goldenen Schnitts. Es gibt deshalb keinen Zwang zu seiner strengen Anwendung, er ist nicht einmal universell gültig oder naturgegeben, und dennoch ist er mehr als bloßer Aberglaube, den man getrost über Bord werfen könnte. Dazu ist er zu wirkungsvoll. Im Übrigen gibt es neben dem Goldenen Schnitt weitere Gestaltungsprinzipien. Bei der Fibonacci-Spirale handelt es sich um eine Verfeinerung, die ebenfalls davon ausgeht, dass zentrale Positionierungen des bildprägenden Motivs häufig langweilig oder spannungsarm wirken. Intuitiv arbeitende Fotografen wissen das ohnehin. Dies wird deutlich, wenn ein Raster mit den Linien des Goldenen Schnitts, der Drittelregel oder der Fibonacci-Spirale über ein Bild gelegt wird. Signifikant häufig befinden sich die bildwichtigen Motive nahe bei den markierten Betonungspunkten. Und dennoch sind Abweichungen, die als ästhetisch ansprechend empfunden werden, in zwei Richtungen möglich. Einmal kann das Motiv deutlich entfernt von einem theoretischen Idealpunkt liegen. Aufgrund der Abweichung ergibt sich eine Dynamiksteigerung. Das Gegenstück ist der symmetrische Bildaufbau. Statt Dynamik ergibt sich eine Statik mit hohem Ruhepotential. Im Extremfall stehen sich zwei Flächen spiegelidentisch und vollkommen gleichgewichtig gegenüber. Hinzu kommt die Raumfrage.

Jede aktive Bildgestaltung setzt sich mit der Frage auseinander, in welchem Verhältnis die Elemente zueinander sowie zum Ganzen stehen sollen. Wird eine räumliche Wirkung angestrebt oder hat die Flächenkomposition Vorrang?

In der Fotografie, wie auch in der Malerei, stehen für die jeweilige Umsetzung eine Reihe von Hilfsmitteln zur Verfügung. Insbesondere beim Fotografieren geht es jedoch meist um die Anwendung sowohl der Perspektivgesetze wie gleichzeitig der Flächenregeln. Gleichwohl kann im Einzelfall die Betonung stärker auf der Wirklichkeitsaffinität liegen oder der Harmonie der Bildkomposition. Die Reportagefotografie etwa strebt eine realistische Widergabe an, so dass vor allem die perspektivischen Regeln zur Illusionierung von Räumlichkeit Berücksichtigung finden. Bei der abstrakten, gegenstandslosen Fotografie geht es dagegen weniger um Raumwirkung, sondern um die Proportionen in der Bildfläche.

Entscheidend bleibt in beiden Fällen, dass die Fähigkeit zum Verstehen eines Bildes erlernt ist. Wer noch nie ein Auto gesehen hat und dessen Funktion nicht kennt, könnte mit der Fotografie eines Mercedes nichts anfangen. Ähnlich geht es uns, wenn wir Abbildungen von Alltagsgegenständen fremder Kulturen betrachten. Hat ein freundlicher Ethnologe dem Bild keinen Begleitkommentar beigefügt, können wir mitunter bestenfalls raten oder ahnen, welche Bedeutung ein Gegenstand hat. Ist es ein Werkzeug? Ein Kultobjekt? Ein Kunstwerk?

Kognitive Folgen analoger und digitaler Kameratechnik

Einiges deutet darauf hin, dass es einen Zusammenhang zwischen der mentalen Haltung eines Fotografen und der verwendeten Technik gibt. Jedenfalls ist die Dauer der Zeitspanne zwischen Betätigung des Auslösers und der Betrachtung des fertigen Bildes nicht ohne Bedeutung. Das Ergebnis einer Digitalaufnahme können wir auf dem Kameramonitor sofort begutachten. Wer hingegen analog arbeitet, die Filme nicht selbst entwickelt und über keine Dunkelkammer verfügt, ist auf ein externes Labor angewiesen und muss Geduld mitbringen. Bei der Reportagefotografie alter Schule, die es heute analog nicht mehr gibt, ging das alles zwar relativ schnell, aber auch hier gab es stets eine länger anhaltende Spannung, ob aus der Aufnahme etwas geworden war. Barbara Klemm, als Fotojournalistin viele Jahre nahezu ausschließlich analog und in Schwarzweiß unterwegs, hat in einem Interview einmal hervorgehoben, dass es immer eine Zitterpartie gewesen sei, wenn man die Filme von unterwegs in die Redaktion geschickt hatte und auf die Ergebnisse warten musste.

Allein das Vergrößern eines Negativs in der Dunkelkammer erfordert Zeit, insbesondere wenn das Bild mit filigraner Technik hervorgezaubert wird. Was mit Photoshop lediglich ein paar Mausklicks benötigt, die bei Nichtgefallen umgehend korrigiert werden, stellt sich im analogen Labor als eine zeitaufwändige Angelegenheit dar. Meist müssen einige Tests erfolgen, bis die Belichtung stimmt und der beabsichtigten Wirkung entspricht. Betrachtet man den Prozess vom Druck auf den Kameraauslöser bis zum Dunkelkammerergebnis als zeitliche Einheit, wird deutlich, dass bei der analogen Fotografie ein langer Atem benötigt wird. Die digitale Fotografie hingegen befriedigt das Bedürfnis nach dem Sehenwollen des Bildes umgehend. Insbesondere beim Smartphone handelt es sich um eine schnelle Nummer, die mit einem kurzen Blick auf den Monitor auch schon wieder erledigt ist.

In der Psychologie wird zwischen zwei motivationalen Typen unterschieden. Auf der einen Seite gibt es Charaktere, bei denen der Drang zur sofortigen Erfüllung aller Wünsche im Vordergrund steht. Andere können warten, bis die Zeit reif ist.

Untersuchungen haben gezeigt, dass es mit frühkindlichen Erfahrungen zu tun hat, in welche Richtung die Haltung tendiert. Das Ergebnis kann sich auf die gesamte Lebensführung auswirken. Die Umsetzung komplizierterer Vorhaben setzt nun einmal Geduld voraus und die Motivation muss über einen längeren Zeitraum gehalten werden. Verfliegt sie, sinkt die Aussicht für eine Zielerreichung rapide ab. Es sei denn, an die Stelle von Ausdauer treten Hilfsmittel wie Geld oder Macht. Mit einem Bankkredit oder durch Druck auf andere lässt sich die Wartezeit bis zur Befriedigung eigener Wünsche zwar verkürzen. Nicht in allen Fällen ist dies jedoch möglich. Manches lässt sich nicht erzwingen, wie etwa die Fähigkeit zum Spielen eines Musikinstrumentes oder auch die zum ambitionierten Fotografieren. Am Üben führt hier kein Weg vorbei.

Einiges deutet darauf hin, dass Menschen mit entwickelter Selbstkontrolle höhere Konzentrationsleistungen erbringen, besser mit Stress umgehen und in Gemeinschaft mit anderen eher in der Lage sind, gedanklich die Perspektive ihres Gegenübers einzunehmen. Stets geht es um die Beherrschung der eigenen Spontaneität zugunsten einer Berücksichtigung von Impulsen aus der sozialen Umgebung. Die angeborene Triebdynamik des Menschen entspricht dem aber nicht so recht. Das Kind möchte am liebsten alles, und zwar sofort. Dies funktioniert ab einem bestimmten Lebensalter jedoch nicht ohne Widerstände, und so werden das Wartenkönnen und das strategische Verhalten zu hilfreichen Tugenden. Erschwerend steht dem entgegen, dass eine kurze Zeitspanne zwischen Bedürfnis und Bedürfnisbefriedigung als angenehm empfunden wird und einen Drang zur schnellen Wiederholung auslöst. Dieser Mechanismus nutzt sich jedoch erstens ab und ist zweitens zum Aufbau von Frustrationstoleranz nicht geeignet. Diese bildet aber nun einmal eine notwendige Voraussetzung für die Erreichung komplexer Ziele. Nur wer die Fähigkeit zum langfristigen Üben entwickelt, auch wenn sich zunächst keine Fortschritte einzustellen scheinen, wer auch einmal einen Umweg gehen und sich bei Enttäuschungen neu motivieren kann, wird langfristig besondere Leistungen vollbringen. Bei Genies mag sich das anders darstellen, diese sind aber seltener als schwarze Schwäne.

Auf die Schattenseite der Triebkontrolle sei hier nur am Rande hingewiesen. Dass es sie gibt, zeigen nicht nur lästige, ansonsten jedoch harmlose neurotische Spleens, sondern Erkrankungen wie Depressionen, Angststörungen und Süchte. Nicht selten ist ihnen ein Druck zur rigiden Eigensteuerung einschließlich der Verdrängung von Bedürfnissen vorausgegangen. Ein Hohelied auf die Triebkontrolle wäre deshalb unangebracht. Im Übrigen lebt die Konsumwirtschaft vom Wunsch nach der schnellen Bedürfnisbefriedigung. Habenwollen ist das entscheidende Kaufmotiv. Es besteht somit ein Dilemma. Die Entwicklung einer erfolgsorientierten Persönlichkeitsstruktur setzt das Erlernen von Triebbeherrschung voraus, die konsumorientierte Warengesellschaft jedoch tut alles dafür, durch Werbung und andere Anreize die antrainierte Bedürfniskontrolle zu unterminieren.

Ob als Literatur, Malerei, Musik oder Schauspielerei, der künstlerische Ausdruck setzt in der Regel Üben voraus. Nur Wenigen bleibt dies erspart.

Die Anforderung besteht darin, in der Phase des Lernens mit Geduld und Frustrationstoleranz an der Entwicklung der Fertigkeiten zu arbeiten, um erst dann, wenn diese sicher ausgeprägt sind, auch der impulsiven Expressivität Raum zu geben. Letztlich kann nur in der Kombination etwas Einzigartiges, also Regelfreies entstehen. Nicht viel anders, wenn auch weniger dramatisch, stellt sich dies bei der Fotografie dar. Die digitale Technik verleitet dazu, mit dem Prinzip von Versuch und Irrtum an die Dinge heranzugehen. Eine Aufnahme wird ohne lange Überlegung sofort auf dem Monitor betrachtet. Bei Nichtgefallen lässt sich der Prozess wiederholen. Im Übrigen verlockt die Speicherkapazität der Kamera zur flinken Aufnahme ganzer Serien. Wird hingegen analog fotografiert, müssen vor der Betätigung des Auslösers bestimmte Entscheidungen wohlüberlegt getroffen werden. Das Ergebnis lässt sich schließlich erst später beurteilen. Zu korrigieren ist dann meist nichts mehr.

Aus Sicht der Lernpsychologie bleiben die Dinge ambivalent. Liegt zwischen einer Handlung und der Bewertung ihrer Folgen eine kurze Zeitspanne, kann sofort reagiert werden und der Lerneffekt ist relativ hoch. Die digitale Fotografie bietet da Vorteile. Diese werden zugunsten des Trial and Error Verfahrens jedoch häufig nicht genutzt. Nur, wer auch mit der digitalen Kamera reflektiert und bewusst fotografiert, profitiert von ihren Potentialen zur umgehenden Korrektur. Bei der analogen Technik ist hingegen stets ein geplantes Handeln angesagt. Der Lerneffekt ist auf Dauer wirkungsvoller als bei der digitalen Schnellkorrektur.

Bedächtigkeit beim Fotografieren ist nicht zwingend gleichzusetzen mit einer aufwändigen Bildgestaltung oder langsamer Kameratechnik.

Niemand ist gezwungen, es Ansel Adams gleichzutun und mit schwerem Stativ sowie großem Format solange an der Komposition zu werkeln, bis alles passt und schließlich der Auslöser betätigt wird. Ambitioniertes Fotografieren bezieht dennoch stets die Phase der gedanklichen Vorbereitung mit ein. Das ist der entscheidende Punkt. Die eigentliche Aufnahme kann sorgsam inszeniert sein oder schnell geschehen, digital genauso wie analog. Im Übrigen handelt es sich beim spontanen Vorgehen um eine durchaus sinnvolle Strategie. Ausschnitt festlegen, auslösen und darauf setzen, dass sich aus dem Negativ oder der Datei später ein interessantes Bild gestalten lässt. Die Erfolgsquote mag begrenzt sein. Dies ist normal, wie die Kontaktbögen professioneller Fotografen zeigen. Auch sie haben auf einem Film oftmals nur wenige oder lediglich einen Treffer. Und dennoch, es führt zu anderen Ergebnissen, wenn statt digitaler Technik eine Analogkamera eingesetzt wird. Allein das Wissen um die beschränkte Filmkapazität diszipliniert den Prozess und fördert das geplante Handeln.

Obwohl die sofortige Verfügbarkeit eines digital aufgenommenen Bildes dazu verlockt, in den Trial an Error Modus zu verfallen oder alles den Automatiken sowie der späteren Korrektur am Rechner zu überlassen, weist die moderne Technik einen höheren Komplexitätsgrad auf als die Arbeit mit dem analogen Film. Ähnliches gilt für die Postproduktion. Die Dunkelkammer verlangt zwar das größere handwerkliche Geschick, dafür sind beim digitalen Workflow die zu berücksichtigenden Parameter zahlreicher. Wer meint, die digitale Fotografie sei eine simple Angelegenheit, irrt. Zwar kann man mit dem Smartphone einfach draufhalten und auch bei der Digitalkamera alles auf Auto stellen. Mitunter entstehen auf diese Weise sogar beeindruckende Bilder. Wer jedoch vor dem ersten Druck auf den Auslöser einer neuen Kamera die Betriebsanleitung studiert und sich mit den zahlreichen Konfigurationsmenüs befasst, muss Geduld aufbringen. Sind dann die Besonderheiten der digitalen Technologie verstanden und hat man den Workflow im Griff, ist der Prozess schneller als bei der analogen Fotografie.

Die digitale Fototechnik ist nicht verantwortlich für die Entwicklung von Charakterzügen, die das spontane Habenwollen zum Ziel haben. Eher gilt umgekehrt, dass die digitale Fotografie in eine Zeit des schnellen Konsums passt. Und ebenso gilt, dass die analoge Fotografie nicht automatisch die Ausprägung frustrationstoleranter und empathischer Persönlichkeiten fördert. So einfach ist es nun doch nicht. Sie fördert bestenfalls einen überlegten und entschleunigten Gebrauch der Kamera. Insbesondere gilt dies für die Entscheidung, ob eine Aufnahme eher den Gestaltungsprinzipien des Raumes oder denen der Fläche folgen soll.

Beim fotografischen Bild handelt es sich um ein Dokument der Welt. Gleichzeitig ist es ein Zeugnis der Innenwelt des Fotografierenden.

Damit stellt es unter sämtlichen Bildformen einen einzigartigen Sonderfall dar. Alle anderen, nichtfotografischen Bilder haben ihren Ursprung in der Innenwelt, also der Vorstellung des Malers, Zeichners oder Grafikers, weisen jedoch keine zwingende Außenweltabhängigkeit auf. Die Fotografie ähnelt hingegen einem Topos, der schon in vorfotografischer Zeit die Romantiker beschäftigte. Novalis formulierte es im Jahr 1799 in den Fragmenten so: Die Vorstellung der Innen- und Außenwelt bilden sich parallel, fortschreitend – wie rechter und linker Fuß. Dies entspricht modernen erkenntnistheoretischen Konzepten.

Jede Welterkenntnis ist letztlich ein Konstrukt, das die Unabhängigkeit von Subjekt und Objekt aufhebt. Stets handelt es sich um das Ergebnis eines Dialogprozesses zwischen Geist und Materie. Wie wir die Welt sehen, ist die Welt. Den Romantikern war dies bewusst. Wer ihnen lediglich süßliche Weltverklärung und träumerische Ichbezogenheit unterstellt, verkennt die Modernität ihrer Überwindung der Dualität von Ich und Außenwelt. Wie der Mensch die Welt sieht, ist erlernt! Physiologisches und Kulturelles greifen ineinander. Hinzu kommt Individualpsychologisches. Novalis bezeichnete den Schnittpunkt zwischen Innen- und Außenwelt als Seele. Diese Metapher lässt sich zur Beschreibung des Wesens der Fotografie nutzen. Wir fotografieren das, was wir als Objekt, erstens, wahrnehmen und, zweitens, sehen wollen. Die Lichtspuren der Außenwelt bilden das Rohmaterial. Gleichzeitig ist jede Fotografie subjektiv geprägt und perspektivisch angelegt. Die Wirklichkeit auf eine bestimmte Weise wahrzunehmen und sinnhaft zu deuten, geschieht, wie die kognitive Entwicklungspsychologie und die konstruktivistische Soziologie gezeigt haben, selektiv auf der Basis eines vorangegangenen Lernprozesses. Jedes Bild, das wir mit der Kamera aufnehmen, offenbart somit ein Stück unserer Seele.