Cyborgs und digitalreale Neuwelten

Die Auseinandersetzung mit Fragen der Künstlichen Intelligenz ist verbunden mit Paralleldiskursen bezüglich der Medienentwicklung sowie des Mensch-Maschine-Verhältnisses. Die KI zeigt ja erst einmal nur, dass es Programmen gelingen kann, realistisch empfundene Wirklichkeiten zu schaffen. Und sie haben offenbar ein Potential zur Lösung von Aufgaben, das über bisher Bekanntes hinausgeht. Insbesondere mit dem Ausbau der Rechnerkapazitäten bis hin zum Quantencomputer wird die KI in viele Lebensbereiche eingreifen. Gleichwohl fehlt den Diskussionen häufig ein Gesamtbild, wohin die Reise geht.

Vieles bleibt bei der Beschreibung einzelner Anwendungsbereiche stehen oder, wie etwa im Fall der Fotografie, bei der Frage, welche Auswirkungen sich für die bisherige Praxis ergeben. So ist durchaus nachvollziehbar, dass sich professionell Fotografierende verunsichert fühlen. Wenn im Feld der Werbefotografie künftig nicht nur keine Models mehr benötigt werden, sondern auch ein Fotograf überflüssig wird, sind einige traditionelle Arbeitsplätze in Gefahr, ganz ähnlich, wie es früher bei der Ablösung klassischer Druckverfahren durch den Computersatz der Fall gewesen ist. Auch der Widerstand der Filmschaffenden in Hollywood gegen den Einsatz von Avataren antizipiert diese Entwicklung. Wozu sich noch mit blasierten Schauspielerinnen und Schauspielern rumärgern, wenn es auch ohne sie geht. Die Betreffenden ahnen die Bedrohung und ihre Widerstände sind verständlich. Letztlich handelt es sich aber um Rückzugsgefechte zur Verteidigung bestehender Erfahrungswelten und Einkommensverhältnisse.

Ähnliches gilt für den Umgang mit KI-erzeugten Bildern. Die Frage, ob man diese als Fotografien bezeichnen dürfe, entspringt einer Defensivstrategie und scheint nur noch dann berechtigt, wenn es um die Dokumentarfotografie geht, bei der ein nachvollziehbares Verhältnis von Realität und Bild gefordert ist. Im Bereich der Kunstfotografie, was auch immer das sein mag, ist die ganze Debatte hingegen zweifelhaft. Wenn sich Veranstalter von Fotoausstellungen oder Fotowettbewerben genötigt sehen, sich von KI-Werken abzugrenzen, und diese eventuell sogar ausschließen, grenzt das an ein Gefecht auf verlorenem Posten. In früheren Blogbeiträgen wurde begründet, warum die Abgrenzung problematisch ist. Insbesondere scheint der Versuch untauglich, an einer eindeutigen Unterscheidbarkeit von wirklichen und virtuellen Realitäten festzuhalten. Wer dies dennoch tut, ist einem Denken verhaftet, das sich als nicht mehr adäquat erweisen könnte.

Vielen KI-Diskussionen mangelt es an einer Vorstellung, in welche Richtung die parallel verlaufenden technologischen Entwicklungen gehen werden, und in welcher neuen Welt man/frau sich in wenigen Jahren oder Jahrzehnten wiederfindet. Die KI ist Bestandteil einer größeren Revolution. Eine Anpassung des Blickfeldes ist geboten.

Seit einigen Jahren taucht der Begriff Metaversum auf. Aufmerksam wurde die Öffentlichkeit, als sich der Facebook-Mutterkonzern in Meta umbenannte und man sich mit dessen Visionen zu befassen begann. Dabei war das Unternehmen selbst gar nicht der Schöpfer des Wortbegriffs Metaversum, sondern agierte strategisch, indem er eine bereits vorhandene Technikphantasie durch die neue Namensgebung mit dem Konzern verknüpfte. Letztlich war die Umbenennung in Meta eine Investition in die Zukunft. Das kann schiefgehen, mag sich aber auch als visionär erweisen. Konzerne wie Microsoft oder Nvidia sowie eine Reihe anderer Unternehmen, beispielsweise aus der Bekleidungsindustrie, sind ebenfalls im Geschäftsfeld Metaversum aktiv.

Metaversum steht als Synonym für eine virtuelle Welt, deren Erscheinungen sich an der realen Welt orientieren, dabei jedoch reine Digitalprodukte sind. Benutzer können sich in dieser künstlichen Umgebung als selbst gewählte Avatare bewegen, sie können dort mit anderen Avataren kommunizieren, E-Sport betreiben, Geschäfte tätigen, zum Beispiel Bekleidungsstücke anprobieren und kaufen, sowie auch selbst richtig(es) Geld in Form von Kryptowährungen verdienen, das sich anschließend bei Bedarf in die Realwelt transferieren und eintauschen lässt. Je wirklichkeitsnäher das Ganze stattfindet, umso immersiver, also lebensechter, nimmt ein Benutzer diese Welt wahr. Grundlage wird eine weiterentwickelte Version des Internets sein, das auf Basis der Blockchain-Technologie dezentral organisiert ist, bei dem einige Plattformbetreiber aber, wie auch heute schon, ordentlich mitverdienen. Ideal für diese Net-Unternehmen wären Benutzer und Benutzerinnen, die ihr Leben zumindest teilweise ins Virtuelle verlagern. In deren Alltag sind die Grenzen zwischen äußerer Realität und Digitalwelt verschwommen.

Das alles hört sich aus heutiger Sicht noch etwas verspinnert an. Kritische Anmerkungen sind verständlich. Und dennoch stellt sich die Frage, ob wir nicht längst auf einem Weg sind, bei dem reale und virtuelle Welten eine nahezu vergleichbare Wirkung auf die Selbstwahrnehmung des Einzelnen entfalten. Noch halten wir das Smartphone in der Hand und es gibt eine physische Distanz zwischen dem Mediengerät, letztlich einer Art Interface, und unseren Augen und Ohren. Mit der Reduzierung dieser Distanz, etwa durch VR-Apparate, wird die kognitive Verarbeitung von Sinneseindrücken jedoch unmittelbarer. Man wird kaum umhinkommen, bisherige Antworten auf die Frage nach dem Realitätscharakter der wahrgenommenen Informationen zu überdenken.

Gehen wir davon aus, dass die VR-Brille nur ein technisches Zwischenstadium darstellt, das durch weitere Entwicklungen abgelöst wird, so werden die Grenzen zwischen realer und virtueller Wirklichkeit weiter verwischt. Am Ende wird es eine mit Chip versehene Kontaktlinse oder ein Interface zwischen Digitalwelt und humanbiologischem Kognitionsapparat geben, das wir uns heute noch gar nicht konkret vorstellen können. Dabei sind wir längst in einer digital unterfütterten Welt angelangt. Und damit ist ein weiterer Entwicklungsstrang berührt, der ebenfalls einen subkutanen Hintergrundrahmen der aktuellen KI-Diskussionen darstellt.

Die unter dem Begriff Transhumanismus zusammengefassten Denkmodelle befassen sich, sowohl technisch wie philosophisch, mit den Entwicklungen zum organischen Zusammenwirken von Mensch und Maschine. Die Grundannahme geht davon aus, dass sich biologische Grenzen durch den Einsatz von Technologien überwinden lassen. Auch hier spielen KI-Programme eine Rolle, ebenso körperverändernde Operationen und genetische Manipulationen, prothetische Ersatzteile oder Cyborg-Implantate. Das hört sich nach Science Fiction an, ist jedoch in Gestalt etablierter Techniken längst Bestandteil des Alltags. Bei sehkraftkorrigierenden Brillen oder Linsen handelt es sich noch um externe Apparate. Hörgeräte mit Verbindung zum auditiven Cortex, Herzschrittmacher und andere Implantate, chipgesteuerte Prothesen, die mit dem Nervensystem verbunden sind und eines Tages vielleicht Querschnittlähmungen kompensieren können, sind hingegen Technologien auf dem Weg zu einem Cyborg, der die biologische Begrenztheit mit unmittelbaren Mensch-Maschine-Interfaces überwindet.

Warum diesen Weg nicht weiterdenken und davon ausgehen, dass auch ein direkter Austausch zwischen externen Digitalinformationen und internen kognitiven Prozessen möglich sein wird? Einige Unternehmen arbeiten längst an Schnittstellen, um die technologischen Voraussetzungen hierfür zu schaffen. Kritische Anmerkungen ließen auch hier nicht lange auf sich warten. Den Menschen anhand technischer Perfektions- und Funktionalitätskriterien optimieren zu wollen, löst bei vielen spontane Abwehrreaktionen aus. Transhumanismus gilt ihnen als eine gruselige Angelegenheit oder gar als Religion des Teufels. Der amerikanische Politikwissenschaftler Francis Fukuyama beschrieb ihn als vielleicht gefährlichste Idee der Welt. Eine gemischte Szene von Impfgegnern, Esoterikern und Klimawandelleugnern sieht gar eine weltumspannende Verschwörung am Werk. Und ob Techniken wie die Kryonik, bei der ein Organismus eingefroren wird, um ihn bei einem späteren Stand der Wissenschaft wieder zum Leben zu erwecken, oder das Mind-Uploading, bei dem mit dem Ziel der Unsterblichkeit Kognitionsinhalte vom Gehirn auf einen externen Speicher übertragen werden, jemals funktionieren, bleibt bis auf Weiteres ungewiss.

Gleichwohl zeigt die Erfahrung, dass alle Dinge, die möglich sind, letztlich auch umgesetzt werden. Wenn dies so ist, bestünde die einzige Möglichkeit zur Einflussnahme darin, kollektiv, also transnational, über die Regeln der Anwendung zu beraten und solche Regeln auch zu etablieren. Entsprechende Bemühungen gibt es, etwa zur Schaffung eines KI-Kodex, der sich am Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) orientiert. Da es bei solchen Verpflichtungen jedoch, wie wir wissen, nicht nur um ethische Aspekte geht, sondern auch um nationale und vor allem ökonomische Interessen, die sich auf lange Sicht meist durchsetzen, sollte man nicht allzu sehr auf regulierende Einschränkungen setzen. KI-Anwendungen werden nicht aufzuhalten sein, Biotechnologie und Robotik werden sich weiterentwickeln, das Metaversum und der Cyborg werden kommen. Genau betrachtet, ist das alles in Ansätzen längst Bestandteil der Realität.

Bringt man die Entwicklungen der Künstlichen Intelligenz, der Parallelwelt des Metaversums und des technologischen Transhumanismus gedanklich zusammen, erscheint am Horizont eine ganzheitlich analog-digitale Welt, bei deren Reflexion herkömmliche Realitätskonzepte nicht mehr ausreichen. Die meisten von uns werden dieser neuen Welt nicht ausweichen können und vielleicht auch gar nicht wollen. Sie wird Teile des Alltags bestimmen. Die kleinteilige Frage, ob ein KI-generiertes Bild als Fotografie bezeichnet werden kann, wird dann als Relikt vergangener Diskurse nur noch altbacken klingen.

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