Aufklärung zu Ende gedacht

Seit den Anfängen der Fotografie steht die Frage im Raum, in welchem Verhältnis das Kamerabild zur sogenannten Realität steht. Handelt es sich um eine objektive Widerspiegelung oder um eine subjektive Stellungnahme? Alltagspraktisch ist die Fragestellung allerdings ohne große Bedeutung. Gerade in digitalen Zeiten wird drauflos fotografiert, ohne dass über den philosophischen Hintergrund des Prozesses nachgedacht wird. Das ist auch völlig in Ordnung. Nicht alles im Leben muss reflektiert werden. Es genügt, dass sich ein paar Theoretiker mit einigen Kernthemen der Erkenntnistheorie befassen, die für die Frage nach dem sogenannten Wesen der Fotografie relevant sind. Direkt schädlich ist es aber natürlich nicht, wenn sich auch der ambitionierte Praktiker damit auseinandersetzt, was beim Druck auf den Kameraauslöser und beim Betrachten einer Fotografie eigentlich geschieht. Die Besinnung auf die Geschichte des Mediums zeigt im Übrigen, dass es diesbezüglich höchst unterschiedliche Vorstellungen gab.

Vorherrschend war zunächst die naive Vorstellung, ein fotografisches Bild repräsentiere einfach nur die Wirklichkeit, wie sie ist. Aber schon die frühen Aufnahmen der fotografischen Pioniere mit menschenleeren Straßen weckten Zweifel. Denn menschenleer waren die Straßen allein aufgrund der anfangs noch sehr langen Belichtungszeiten. Alles Bewegliche hatte sich aufgelöst. So einfach war es mit der fotografischen Objektivität wohl doch nicht. In den folgenden Jahrzehnten bis zum Auftauchen der Leica in den 1920er Jahren änderten sich die technischen Voraussetzungen jedoch radikal. Nun konnte sich aufgrund der möglich gewordenen kurzen Belichtungszeiten und der handlich gewordenen Kamera die Vorstellung durchsetzen, eine Fotografie gebe das wider, was im Augenblick der Aufnahme Wirklichkeit gewesen ist. Das Paradigma der Fotografie als eines objektiven Mediums zur Dokumentation des Alltäglichen konnte sich etablieren. Für manche gilt dies bis heute. Aber schon die Subjektive Fotografie hielt dieser Auffassung entgegen, dass es unendlich viele Möglichkeiten zur Abbildung ein und derselben Realität gibt und eine Fotografie immer Ausdruck einer Auswahlentscheidung ist. Von Objektivität im strengen Wortsinn könne deshalb nicht die Rede sein.

In verschiedenen fotosinn-Essays sind die fotografischen Paradigmen zwischen neutraler Dokumentation und kontingenter Subjektivität näher beleuchtet worden. Dies alles soll hier nicht wiederholt werden. Im Ergebnis ist jedoch festzuhalten, dass unsere Sicht auf die Welt und unser Verständnis von Fotografien stets das Ergebnis eines Lern- bzw. Sozialisationsprozesses ist. Zeit- und kulturunabhängige Blicke und Wahrheiten gibt es bei diesem Verständnis nicht. Dafür handelt man sich allerdings zwei nicht-triviale Themen ein. Erstens die Frage, ob es denn eine Realität an sich überhaupt gibt, wenn diese in reiner Form grundsätzlich nicht erkannt werden kann. Von Platon bis Kant hat sich die Philosophie mit diesem Problem befasst. Zweitens die Frage, ob der Verzicht auf einen unbedingten, zeit- und kulturunabhängigen Wahrheits- und Wirklichkeitsbegriff nicht die Tür zu einem bodenlosen Relativismus öffnet, der in die moralfreie Dekadenz führt.

Die Kultur- und Geistesgeschichte zeigt, grob zusammengefasst, zwei Antworten auf das Dilemma. Entweder wird die Lösung in einer übermenschlichen, göttlichen Instanz gesehen. Dies war die Antwort von Platon. Oder es wird auf Vernunft und Wissenschaft gesetzt. Für diese Variante plädierte Immanuel Kant. Und auch Habermas geht davon aus, dass der vernünftige, herrschaftsfreie, kulturunabhängige Diskurs Williger eine Verständigung hinsichtlich des Wesens der objektiven Realität ermögliche. Mit allen diesen Überlegungen zur Auflösung des Dilemmas hat der Philosoph Richard Rorty radikal aufgeräumt. Stattdessen plädiert er dafür, auf alle unbedingten, außermenschlichen Messlatten zu verzichten. Sowohl der Rekurs auf einen transzendenten Willen wie auf eine wissenschaftliche Letztinstanz zur Feststellung einer objektiven Realität seien Überbleibsel autoritär fixierter Erwartungen. Das Denken in Kategorien endgültiger Wahrheiten und auch die Suche nach einem Wesen der Dinge führe zu nichts und sollte konsequent aufgegeben werden.

Richard Rorty, 1931 in New York geboren, studierte Philosophie in Chicago und an der Yale University, erhielt einen Lehrstuhl für Analytische Philosophie in Princeton, gelangte dann jedoch im Zuge des linguistic turn zu der Überzeugung, dass alles Wissen und alle Bedeutungszuschreibungen hinsichtlich der Dinge dieser Welt Ergebnisse zeitbedingter Kommunikation und Sprache seien. Begriffe wie Wahrheit oder objektive Wirklichkeit spielen in diesem Denkgebäude keine überzeugende Rolle mehr. Folgerichtig gab er seine Professur in Princeton auf. Rorty starb 2007. Einigen, etwa Robert B. Brandom, gilt er heute als Vollender aufklärerischen Denkens, das bislang vor letzten Konsequenzen noch zurückgeschreckt hatte. Rortys Kritik der vernunftorientierten Philosophie gehe da den entscheidenden Schritt weiter. In dem 2023 bei Suhrkamp erschienenen Pragmatismus als Antiautoritarismus, der Zusammenfassung einer Vorlesungsreihe aus dem Jahr 1996, präsentiert sich sein Denken in Höchstform und Vollendung.

Jede Hoffnung auf außermenschliche Wahrheiten wird in Rortys Vorlesungen ad absurdum geführt. Alles Wissen ist Ergebnis sozialer Beziehungen und kulturell gebundener Kommunikationsprozesse, so seine Kernthese. Mehr als eine pragmatische Verständigung sowie die Rechtfertigung von Behauptungen seien nicht möglich. Weder der Bezug auf Transzendentes im Sinne über- bzw. vormenschlicher Wahrheiten noch auf Wissenschaft im Sinne einer Annäherung an Naturgesetze beziehungsweise eine objektive Wirklichkeit helfe da weiter. Rortys Alternative zielt auf einen konsequenten Antiautoritarismus, der auf sämtliche von Menschen unabhängige Instanzen verzichtet. Der Pragmatismus John Deweys und die Philosophie Nietzsches gaben ihm dazu wesentliche Denkanstöße. Die Diskursethik von Habermas erschien ihm hingegen trotz deutlicher Sympathien nicht konsequent genug, da auch hier Rudimente der Vorstellung erhalten seien, es gäbe eine Wirklichkeit/Wahrheit/Objektivität an sich, die schon vor allen sozialen Konstitutionsbedingungen vorhanden ist und der es sich anzunähern gelte.

Für die praktische Philosophie bedeutet dies, dass es ein sinnloses Unterfangen ist, nach irgendwelchen universell gültigen und unbestreitbar moralisch richtigen Normen im Sinne objektiver Fundamente zu suchen. Die Wahrheiten der einen Kultur seien nicht mehr und nicht weniger wert als die Wahrheiten einer anderen. Noch nie in der Geschichte der Menschheit habe es schließlich, so Rorty, irgendwelche, allgemein akzeptierten Überzeugungen gegeben, die eine überkulturelle, ewige Geltung besaßen. Behauptungen, auch Forderungen nach dem richtigen und guten Verhalten, können deshalb immer nur daran ausgerichtet sein, in der jeweiligen Gegenwartsgesellschaft von möglichst vielen als eine überzeugende, wenngleich immer noch kontingente Lösung für die Regelungen des Zusammenlebens akzeptiert zu werden.

Im Kern geht es Rorty um Rechtfertigungspraktiken. Und damit betritt er das Feld des Politischen. Eine demokratische Politik, die Betonung liegt auf demokratisch, müsse daran ausgerichtet sein, nach Glaubwürdigkeit, Gemeinwohlorientierung, Ausdauer und Inklusion zu streben und eine möglichst große Gruppe zu erreichen. Eine Begründung mit moralischen Werten bringe dabei seiner Auffassung nach nichts, auch nicht die Strategie, einem ablehnenden Gegenüber die Fragwürdigkeit seiner Argumente vorzuhalten. Vielmehr gehe es um das Ernstnehmen und Abwägen von Argumenten im Sinne eines offenen Dialogs. Das erinnert an die Diskursethik von Habermas, nur eben ohne die Vorstellung, das Ziel liege in einer unbedingten Letztwahrheit.

Mehr als Rechtfertigung und Akzeptanz sind nach Rorty nicht zu haben. Wahrheit bedeute nicht die theoretische Abbildung einer objektiv gedachten Realität, sondern die Suche nach dem, was kollektiv als das Bessere empfunden werde. Der Wert von Konzepten und Ideen liege darin, emotionale und vor allem soziale Wirkungen auf Menschen zu entfalten, die bei die Suche nach Lösungen für komplexe Herausforderungen ihren Beitrag leisten wollen. Entscheidendes Kriterium sei, dass es um eine gute Praxis für möglichst viele gehe. Dass es dabei einen potentiellen Konflikt zwischen gruppeneigenen, auch nationalen Interessen und einer globalen Betrachtung gibt, war ihm bewusst. Einen fertigen Lösungsvorschlag konnte er da, wie Rorty einräumte, nicht anbieten. Das beschriebene Dilemma anzuerkennen erschien ihm jedoch immer noch sympathischer als die Suche nach simplen Lösungen dumpfer Art, die alles Fremde ablehnt und als Bedrohung empfindet.

Vieles deutet darauf hin, dass in der heutigen Zeit ein toleranter, angstfreier Umgang mit Widersprüchen und deren Aushaltenkönnen zu einer ausschlaggebenden Primärtugend zu zählen ist. Was das alles für das Nachdenken über Fotografie bedeutet, wird uns weiter beschäftigen. Ungeachtet dessen ist Richard Rortys Pragmatismus als Antiautoritarismus unbedingt lesenswert.

 

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