Essay 15

Eine Art Zusammenfassung

Gerät man in eine unübersichtliche Situation, neigt man dazu, sich vor dem weiteren Agieren ein Bild von der Lage zu machen. Dieses aktive Machen beschreibt recht genau, um was es geht, nämlich die Strukturierung der zunächst unklaren Eindrücke, bis das Ganze einen Sinn bekommt. Dieser ergibt sich nicht aus dem äußeren Anschein einer Situation, sondern wird durch Zuschreibung generiert. Nichts anderes geschieht beim Fotografieren. Zwar erfolgt die schnelle Alltagsfotografie in der Regel nahezu automatisch, beim ambitionierten Fotografieren jedoch wird das Bild in Gestalt von Ausschnitt, Brennweite, Fokuspunkt, Schärfentiefe und einiger andere Parameter gestaltet. Das Bild wird nicht einfach genommen, es wird gemacht. Im Englischen beschreibt to take a picture den Vorgang des Fotografierens deshalb verkürzt. Im Deutschen ist der Ausdruck eine Aufnahme machen präziser, da er die aktive Seite des Gestaltungsprozesses einbezieht. Und dennoch steckt auch im Begriff der Aufnahme ein Rest des Gedankens, es werde von der Wirklichkeit so etwas wie ein Lichtabdruck genommen. Das englischsprachige make yourself a picture ist im Übrigen mit dem Sinngehalt des mach Dir selbst ein Bild im Deutschen identisch. In beiden Fällen geht es darum, eine zunächst unklare Situation mit Sinn zu versehen.

Alle Überlegungen zum Verhältnis von Wirklichkeit und fotografischem Abbild berühren die Objektivitätsfrage. Gibt es die Möglichkeit einer neutralen Sicht der Dinge, oder ist jede Erkenntnis perspektivisch und subjektiv?

Darüber hinaus steht die alte philosophische Frage im Raum, ob es Wirklichkeit an sich überhaupt gibt und wie diese gegebenenfalls beschaffen ist. Aber auch ohne abschließende Antwort gilt, dass Fotografieren eine kontingente Angelegenheit ist. Die gleiche Szene hätte sich auch auf eine andere Weise mit anderen Detailbetonungen fotografieren lassen. Eine Fotografie, die nur eine Möglichkeit des Abbilds zulässt, gibt es nicht. So betrachtet, hat sich die fotografische Wahrheitsfrage relativ schnell erledigt.

Die zur Verfügung stehenden fotografischen Stile weisen eine große Bandbreite auf. Sie reicht von der Dokumentarfotografie bis zum experimentellen Bild mit mühsam entschlüsselbaren Aussagen. Zwischen beiden liegen Welten. Letztlich muss bei der praktischen Fotografie eine Entscheidung getroffen werden. Gleichzeitig Reportagefotograf und lichtbildender Künstler sein zu wollen, gleichzeitig einen dokumentarischen und einen Stil experimenteller Ästhetik zu pflegen, ist eine kaum lösbare Aufgabe. Zum ambitionierten Fotografieren gehört deshalb in der Regel eine Festlegung, auf welche Weise die Welt interpretiert werden soll. Es werden dann genau solche Szenen und Motive entdeckt oder auch hergestellt, die zum gewählten Stil passen. Und es bauen sich im Laufe der Zeit einige gestalterische Routinen auf, die bevorzugt eingesetzt werden. Dieser Vorgang der Reduktion von Komplexität ist keine lästige Beschränkung fotografischer Freiheiten, sondern eine Voraussetzung für konstante, nicht-zufällige Ergebnisse. Eine eigene fotografische Handschrift will aktiv entwickelt werden.

Die Neue Sachlichkeit mit dem erklärten Wirklichkeitsbezug auf der einen Seite und die Subjektive Fotografie mit ihrer Betonung der künstlerischen Gestaltungsfreiheit auf der anderen wirken wie historische Antipoden aus dem vergangenen Jahrhundert. Aber auch heute ist nicht trivial, welchem Lager man sich fotografisch zurechnet. Beide Wege sind möglich, und beide können zu guten Fotografien, zu Anerkennung und Erfolg führen. Aber es muss eine Entscheidung getroffen werden, denn die Ansätze schließen sich aus, zumindest auf den ersten Blick. Bei differenzierter Betrachtung ergibt sich ein komplexeres Bild. Auch den Anhängern der Subjektiven Fotografie um Otto Steinert war bewusst, dass jede Aufnahme ein Geschehen vor dem Objektiv zur Voraussetzung hat, es also keine vollkommene Freiheit gibt und immer ein Bezug auf Wirkliches vorliegt. Und auf der anderen Seite wussten die Fotografen der Neuen Sachlichkeit, nicht zuletzt Albert Renger-Patzsch selbst, dass sie nicht einfach nur Reproduzenten der Realität waren, sondern ihre Aufnahmen aufgrund des persönlichen Stils und der eingesetzten Technik zu unterschiedlichen Abbildungen ein und desselben Objektes führen konnten.

Einiges spricht dafür, dass die Gegenwartsfotografie die Polarität zwischen subjektiver Bildkonstruktion und objektiver Sachlichkeit hinter sich gelassen und ein Verständnis des fotografischen Prozesses mit integrierter Sichtweise entwickelt hat.

Dies hängt nicht zuletzt mit der Verbreitung digitaler Techniken zusammen. Am Beispiel Andreas Gursky lässt sich zeigen, wie das Zusammengehen von detailgetreuer, großformatiger Farbfotografie mit digitaler Bildbearbeitung einschließlich subtiler Montagetechniken zu künstlerischen Wirklichkeiten ganz eigener Art führt, die sich nicht der Traditionslinie des nüchtern Sachlichen zuordnen lassen, aber auch nicht der Subjektiven Fotografie. Seine Bilder, der 1955 geborene Gursky stammt aus der Düsseldorfer Fotoschule und war Meisterschüler bei Bernd Becher, wirken zwar wie dokumentierende Sachaufnahmen, verraten jedoch beim genaueren Hinsehen einen zutiefst hintergründigen Charakter, der mit dem Wirklichkeitsbegriff gestaltend umgeht und ihn in seiner Absolutheit entzaubert.

Gurskys Fotografien sind Ergebnisse akribischer Planung. Nichts ist dem Zufall überlassen. Die Großformatkamera fördert das durchdachte, konzeptionelle Arbeiten und ermöglicht Aufnahmen mit höchstem Detailreichtum. Hier zeigt sich der Einfluss von Bernd und Hilla Becher, sowohl was die Technik anbelangt wie auch die zugrunde liegende Idee der klaren Dinglichkeit des Abgebildeten. Anders als bei den Bechers ist Gursky jedoch nicht auf Serielles oder ein bestimmte Sujets festgelegt. Er setzt sein Konzept mit Motiven unterschiedlichster Art um, bei denen allein die strenge Gliederung des Bildaufbaus ein wiederkehrendes Merkmal darstellt. Das Kompositionsmuster ist klar zu erkennen und ergibt eine über das ganze Bild führende homogene Wirkung. Ob es sich um Innenansichten von Supermärkten handelt, hunderte von Arbeitern, die in riesigen Hallen mit gleichförmigen Tätigkeiten beschäftigt sind, das hektische Treiben auf dem Börsenparkett oder um Menschenmassen an allen möglichen Orten und in allen möglichen Situationen, nahezu immer geht es Gursky um die Darstellung von Wiederholungen, Uniformität und die vordergründige Entindividualisierung des Menschen. Nähert man sich den großformatigen Bildern an und betrachtet sie im Detail, wird jedoch plötzlich der Variantenreichtum des aus der Ferne so Gleichförmigen erkennbar. Nun werden die Massen zu Individuen, und in den beleuchteten Fenstern des Wohnkomplexes werden Dinge und Menschen in schönster Farbigkeit und mit unterschiedlichsten Beschäftigungen erkennbar. Wer sich nicht der Mühe einer Nahbetrachtung unterzieht und in der Oberflächlichkeit der Entfernung verbleibt, wird dieses mikroskopische Gewimmel allerdings nicht wahrnehmen und im Bild lediglich die strenge Ordnung sowie das Immergleiche einer homogen wirkenden Struktur erkennen.

Gursky nutzt die das menschliche Sehvermögen überschreitende Fähigkeit der Großbildkamera und ihres hochauflösenden Objektivs konsequent. Alle Details der verschiedenen Entfernungsebenen sind in extremer Schärfe vereint. Ungewöhnliche Aufnahmestandpunkte, sei es von Dächern oder Hubschraubern, verstärken den Überblickscharakter, und es scheint, als ginge Gursky zunächst bewusst in die Distanz, um sich aus dem Geschehen herauszuhalten und den sachlichen Blick des dokumentierenden Fotografen zu kultivieren. Mit der mikroskopischen Detailansicht kommt dann jedoch eine Parallelwelt hinzu. Das normale menschliche Wahrnehmungsvermögen wird durch diese Gleichzeitigkeit von Nah und Fern nahezu überfordert. Während die großen Strukturen Ordnung formen, offenbaren Details die Unordnung im Kleinen. Die nicht selten nur subkutan empfundene Differenz zwischen Schein und Sein verunsichert den Betrachter. Trotz des sachlich erscheinenden Charakters der Bilder wird ein allzu schnelles Realitätsverständnis in Frage gestellt.

Die Motivwiederholungen in Gurskys Bildern sind Ergebnis digitaler Montagen und Bildbearbeitungen. Man sieht ihnen dies in der Regel nicht sofort an, und es dauert eine Weile, bis sich die unterschwellige Irritation in der Ahnung auflöst, dass da irgendetwas nicht stimmen kann. Geht man diesem Verdacht nach, steht plötzlich die Erkenntnis im Raum, dass uns der Künstler an der Nase herumgeführt hat. Die neutrale Sachlichkeit stellt sich als Schimäre heraus. So erkennen wir, dass ein großformatig abgebildetes riesiges Gebäude unmöglich in einer einzigen Aufnahme fotografiert worden sein konnte. Und richtig, Gursky hat mehrere Einzelaufnahmen zusammenmontiert und so eine Bildwirklichkeit geschaffen, die es in der Realität aufgrund der begrenzten Distanz zum Gebäude und des dadurch gegebenen Blickwinkels mit entsprechender Perspektivwirkung niemals hätte geben können. Auch bei den zahlreichen mikroskopischen Szenen in den Fenstern der Hochhäuser stellt sich dem Betrachter die Frage, ob es sich um gleichzeitig Stattgefundenes handelt oder um eine Zusammenfügung verschiedener Aufnahmen.

Gursky schafft mit den Mitteln der Montage eine erfundene Wirklichkeit, die nichts mit Objektivität zu tun hat, aber gleichwohl eine idealtypische Wahrheit ausdrückt, weil sie das Wesen der Dinge offenlegt.

Die aus vielen Einzelaufnahmen zusammenkomponierten Bilder sind weder wahr noch unwahr. Aber sie sind wahrhaftig. In anderen Werken vermischt er Satellitenaufnahmen der Meere mit Bildmaterial aus dem Internet zu ästhetisch anmutenden Weltsichten, die es in dieser Form nicht gibt. Aber es könnte sie geben. Auch hier suggeriert die Präzision der Bilder einen kühlen Realismus sowie spontane Plausibilität. Aufgrund der Anmutung als technisch perfektes Bild liegt beim ersten Blick die Wahrheitsvermutung nahe. Das frei Konstruierte eröffnet sich dem Betrachter erst beim zweiten Hinschauen.

Gurskys Bilder folgen nicht dem klassischen Objektivitäts- oder Wahrheitsanspruch der sachlichen Dokumentarfotografie. Die Montagen machen deutlich, dass mit einem authentischen Bild im strengen Sinne nicht zu rechnen ist. Verallgemeinert man dies zu einer grundsätzlichen Skepsis gegenüber dem Wirklichkeitsgehalt fotografischer, insbesondere digitaler Bilder, so wird der kritische, reflexive Charakter des Ansatzes deutlich. Blindes Vertrauen in die Wahrheit eines Bildes ist schlichtweg naiv. Letztlich ist nur sicher, dass es sich bei der Wirklichkeit des Bildes um eine Konstruktion handelt. Die Postproduktion einschließlich digitaler Montagen ist Bestandteil des Verwirrspiels, das Gursky zum Zweck der Irritation und des Nachdenkens einsetzt. Niemand kann sicher sein, aus welchen Quellen die dem Bild zugrunde liegenden Daten stammen. Es mag sich um Fotografien handeln, Daten aus dem Internet oder um freie Kreationen.

Gurskys Arbeiten repräsentieren den Stand der heutigen Erkenntnisse über das Wesen der digitalen Fotografie. Ihre Wurzeln liegen in der nüchternen Sachfotografie, und Gursky hat die Kamera immer als Mittel eingesetzt, um eine Verbindung zur gegenständlichen Außenwelt aufrecht zu erhalten. Diesen Realitätsbezug hat er dann jedoch systematisch relativiert und deutlich gemacht, dass die erzeugte Bildwirklichkeit ein Konstrukt ist und keine direkt widergespiegelte Realität. Er nimmt die Informationen aus der tatsächlichen Welt als Rohmaterial und gestaltet sie zu neuen künstlichen Welten. Die Wirklichkeit wird nicht abgebildet, sie wird aber auch nicht völlig frei geschaffen. Es ist etwas dazwischen, eine Art konstruktivistischer Realismus. Ob man diesen Fotografie nennt oder bildende Kunst, ist letztlich nur ein nomineller Unterschied.

Eine besondere Bedeutung bekommt der Bildtitel von Fotografien. Er prägt die Richtung der vom Betrachter vorgenommenen Interpretation.

Dazu ein Gedankenexperiment: Stellen wir uns fiktiv eine Fotografie an der Wand eines imaginären Museums vor. Es gibt sie nicht wirklich. Sie zeigt einen Stapel aufgeschichteter Leinwände, exakt ausgerichtet und von der Seite aufgenommen. Wir sehen vor unserem inneren Auge lediglich die Randseiten der Keilrahmen. Versehen ist die Fotografie mit dem Titel Bildersturm. Dazu auf einer Unterzeile der Werkzusatz Objekt sowie eine Jahreszahl. Aufgrund des Titels liegt die unwillkürliche Vermutung nahe, dass die gestapelten Leinwände einen Bezug zum religiösen Bilderverbot aufweisen. Es untersagte die Abbildung alles Göttlichen, weil, so die Annahme, dessen Reduktion auf eine profane zweidimensionale Fläche allem Übermenschlichen, Unendlichen nicht gerecht werden konnte. Wir vermuten deshalb, dass die Leinwände Dinge darstellen, die der Regel widersprechen und Verbotenes zeigen. Ein unbekannt bleibender Zensor hat dies erkannt und die Präsentation der Bilder verhindert. Nun liegen sie unspektakulär auf einem Stapel, den Blicken entzogen. Das alles, wir wiederholen es, ist imaginär. Es handelt sich um Assoziationen und Phantasien.

Die weiteren Überlegungen sagen dann vielleicht, dass der Künstler mit seinem Objekt eine kritische Botschaft vermitteln wollte, indem er genau jene Assoziationen hervorzurufen gedachte, die auch uns geleitet haben: Verbotene Bilder. Was die Leinwände wirklich zeigen, Unerlaubtes oder sonst etwas, spielt auf dieser Betrachtungsebene für das Kunstobjekt keine Rolle. Es geht ausschließlich um die Botschaft des Künstlers, der dem Werk den Namen Bildersturm gegeben hat. Der wahre Inhalt der Bilder ist für die Aussage ohne Belang. Wir sehen ihn ja nicht. Mag sein, dass es sich um leere Leinwände handelt.

Bei der Fotografie, die wir uns fiktiv vorstellen, handelt es sich um eine zweidimensionale Abstraktion. Sie zeigt einen Stapel Leinwände, ist aber selbst alles andere als ein Stapel von irgendetwas, sondern lediglich ein bedrucktes Blatt Papier. Wir haben also gedanklich eine Fotografie vor uns, versehen mit dem Titel Bildersturm, und interpretieren das Abgebildete als ein Kunstobjekt, das irgendwie zu diesem Titel passt. Hervorgerufen durch die Bildunterschrift geben wir dem bedruckten Blatt Papier einen Sinn. Meist funktioniert so etwas auch ohne Bildtitel, mitunter jedoch muss gerätselt werden. Objektivität im strengen Sinne ist jedenfalls nicht angesagt. Stets geht es um die Konstruktion einer Bedeutung. Diese kann durchaus eine intersubjektive Qualität haben. Bei Fotografien ist das sogar die Regel. Wenn andere in einem Bild das Gleiche sehen wie wir, ist dies der entscheidende Hinweis darauf, dass die Beteiligten als Angehörige eines gemeinsamen Kulturkreises gelernt haben, das Bild auf eine bestimmte Weise zu deuten.

Stets werden bei der Bildbetrachtung eine Reihe unwillkürlicher Prozesse mit unbewusst bleibenden Voraussetzungen in Gang gesetzt. Mitunter hat der Bildtitel, wie im genannten Beispiel, eine leitende Funktion. Er mag dem Verständnis des Bildes dienen, kann in anderen Fällen aber auch eine einflüsternde Wirkung entfalten. Ohne den Titel Bildersturm hätten wir lediglich einen Stapel aufgeschichteter Leinwände gesehen. Vielleicht würden wir ohne Bildtitel nicht einmal dies erkennen und rätseln, was das Werk darstellen soll. Assoziationen, die mit der Bilderstürmerei früherer Zeiten zu tun haben, wären jedenfalls unwahrscheinlich gewesen.

Die Frage nach dem Realitätscharakter der Erscheinungen dieser Welt bildet ein facettenreiches Kapitel im dicken Buch der Philosophie und auch der Fototheorien. Wie wirklich ist das, was wir sehen? Können wir es objektiv beschreiben und fotografieren?

Auch wenn es sich alltagspraktisch ohne komplexe Antworten auf solche Fragen gut leben lässt, bildet die Unterscheidung von Tatsachen und Fakes einen elementaren Bestandteil vernünftigen Miteinanders. Ja, die Wirklichkeit, sie ist ein scheues Reh. Aber solange nicht fünf Betrachter der Auffassung sind, dort hinten am Ende des Feldes steht ein Baum, während fünf andere die feste Überzeugung vertreten, da wächst nicht einmal ein Strauch, kommt man mit dem Konstrukt Wirklichkeit recht gut zurecht. Trotz Ungewissheiten lässt es sich in der Regel vernünftig kommunizieren. Dann jedenfalls, wenn der Wille vorhanden ist, einem Gegenüber zuzuhören und sich auf einen offenen Diskurs einzulassen. Auch die Frage nach dem Baum ist letztlich entscheidbar. Im Zweifel muss man sich darauf verständigen, hinzulaufen und gemeinsam die Dinge zu prüfen. Von vorneherein die eigene Sichtweise als allgemeingültig zu betrachten, wäre töricht.

Die Zeichen der Welt werden konstruiert und sind nicht einfach da. Gegensätzliches zu ertragen und die Fähigkeit zum Aushalten von Kontingenzen zu entwickeln, fällt jedoch schwer. Nicht selten ergibt sich daraus ein Verlangen nach verlässlichen Wahrheiten. Die Konjunktur einfacher Weltbilder hat hier eine ihrer Ursachen. Meist handelt es sich um Wunschvorstellungen nach einer Welt ohne globalisierte Diversität, ohne multikulturelle Lebensformen und ohne das Fremde überhaupt. Aber gerade deshalb und trotz der Auflösung eines absoluten Wahrheitsbegriffs gibt es gute Gründe, an der Unterscheidbarkeit von richtigen und falschen Behauptungen festzuhalten. Als herausfordernd erweist sich dabei die Tatsache, dass die einstmals von Kant über Nietzsche bis Foucault aufklärerisch gemeinte Entzauberung vormals unumstößlicher Wahrheiten heute in verhunzter Form von Mächtigen selbst genutzt wird, um missliebigen Ansichten anderer zu begegnen. Es sei doch alles eine Frage der Perspektive, sagen sie. Klimawandel? Alles Meinungssache und nur eine Angelegenheit der Sichtweise! Darwin? Warum an Schulen nicht gleichberechtigt auch Kreationismus lehren? Und dann die Verschwörungsgeschichten. So manche Potentaten und ihre Strippenzieher im Hintergrund beherrschen postmoderne Argumentationsmuster recht geschickt.

Jede perspektivische, aus Motiven und Interessen abgeleitete Behauptung hat ihre Voraussetzungen. Nach diesen kann gefragt werden. Man muss deshalb nicht schulterzuckend bei der Feststellung einer Relativität aller Dinge innehalten oder gar resignierend zurückweichen.

Auch die Wissenschaft gibt nicht auf, nur weil spätestens seit Karl Popper und Thomas Kuhn bekannt ist, dass ihre Paradigmen einem Wandel unterliegen. In jedem Universitätsfach ist es selbstverständlich, die eigene Geschichte zu reflektieren, um ein Gespür dafür zu entwickeln, dass auch das aktuelle Wissenschaftswissen wahrscheinlich nur ein vorläufiges ist. Dennoch macht es Sinn, den Begriff richtiger Erkenntnis aufrecht zu erhalten. Wie Niklas Luhmann gezeigt hat, wird exklusiv im Projekt Wissenschaft der Versuch unternommen, auf geregelte, sich selbst permanent überprüfende Weise Aussagen mit Gültigkeitsanspruch zu formulieren. Einzig aus der Wissenschaft selbst können die so gewonnenen Aussagen im Sinne des Falsifikationsprinzips auch wieder in Frage gestellt werden, nicht jedoch aus der Politik oder irgendwelchen Zeitgeistdiskursen. Und auch nicht aus der Kunst. Sie würde sich da überschätzen.

Kunst erhebt hier und dort den Anspruch, zu tieferen Wahrheiten durchzudringen, als es Empirie und rationale Theoriebildung vermögen. Ihre Botschaften sind aber nicht überprüfbar und deshalb von vorneherein immun gegen Widerlegung.

Kunst kann nicht irren. Das spricht nicht gegen sie. Ganz im Gegenteil. Sie findet jedoch in einem anderen Subsystem der Gesellschaft statt als Wissenschaft oder Politik. Die Dinge werden allerdings schnell vermischt. Genau hier liegen das Problem und eine Ursache für Missverständnisse. Argumente oder Denkformen aus einem der gesellschaftlichen Teilsysteme werden in ein anderes Feld übertragen. Politik nutzt wissenschaftliche Erkenntnisse in selektiver Weise, manche Künstler wissen sowieso alles besser oder halten sich für überlegen, und aus der Wissenschaft heraus wird der Versuch unternommen, die Sichtweise der jeweils eigenen Fachdisziplin als obersten Handlungsmaßstab zu generalisieren.

Hinzu kommen virtuelle Welten. Dass wir immer häufiger mit Szenen und Objekten konfrontiert werden, die von Maschinen mit künstlicher Intelligenz generiert wurden, ist bekannt. Viele Kunstwerke waren schon immer frei erfunden und ohne reales Vorbild. Warum sollten heutige Phantasiebilder dann ein Problem darstellen? Und was die Täuschung des Betrachters anbelangt, einige Realisten unter den Malern hatten es doch schon immer darauf angelegt, ihre Bilder wie Fotografien wirken zu lassen. Auch haben wir uns mit Trickfilmanimateuren angefreundet, die Avatare in einer faszinierenden Realitätsqualität erschaffen. Und nicht wenige setzen darauf, dass die Zukunft der virtuellen Welten Metaversum heißen wird. Die gegenwärtigen Sozialen Medien werden dann nur noch als angestaubte Kommunikationsmittel einer älteren Generation belächelt werden.

Google, Tesla und andere Techunternehmen investieren erhebliche Mittel in die Entwicklung programmierter Intelligenz. Stets geht es um die Delegation von Entscheidungen an Maschinen, die mit einer hohen Zuverlässigkeit arbeiten und in der Lage sind, neben riesigen Mengen an Standarddaten auch Unvorhergesehenes algorithmisch zu erfassen und in die Bewertung einzubeziehen. In der Vergangenheit war dies noch eine Domäne menschlicher Intelligenz. Künftig wird es jedoch immer mehr Bereiche des täglichen Lebens geben, in denen schwierige Entscheidungen an Maschinen übertragen werden. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis sich im öffentlichen Nahverkehr und in der Güterlogistik selbstfahrende Systeme durchsetzen. Gegenwärtig wird von Skeptikern noch mit den potentiellen Unvorhersehbarkeiten des Straßenverkehrs argumentiert. Es ist aber unabwendbar, dass die Entscheidungsalgorithmen von Maschinen selbst in unübersichtlichen Situationen der menschlichen Fähigkeit zur Informationsverarbeitung überlegen sein werden. Sicher, es wird Fehler geben, aber wahrscheinlich weniger als in Folge menschlicher Entscheidungen. Machen wir uns nichts vor, die Bilanz wird in absehbarere Zeit für die Maschine sprechen.

Die Potentiale künstlicher Intelligenz sind unmittelbar abhängig von den Rechnerkapazitäten. Dies wurde deutlich, als es im Rahmen eines Forschungsprojektes um die Erzeugung des Idealportraits einer fiktiven Person ging. Für das künstliche Bild benötigte der Computer Millionen von Entscheidungsschritten und viel Zeit. Das fertige Bild erinnerte an eine irgendwie bekannte Berühmtheit aus Hollywood, ohne sich konkret zuordnen zu lassen. Kein Wunder, war der Maschine doch die Aufgabe gestellt, aus tausenden realen Fotografien ein neues Bild zu kreieren, ohne zeittypische Schönheitsideale einfach nur additiv zusammenzufassen. Das konnten auch ältere Programme bereits leisten. Deren Ergebnisse waren allerdings ziemlich schnell als künstliche Bilder identifizierbar. In dem neuen Projekt wurden die vom Computer geschaffenen Idealbilder jedoch von einem zweiten System auf ihre Glaubwürdigkeit geprüft. Dieses war in der Lage, reale von künstlich erscheinenden Bildern zu unterscheiden und so das erste System zu korrigieren. Das Ganze war ein iterativer Prozess, bei dem sich beide Systeme beständig bemühten, das jeweils andere hereinzulegen, und gleichzeitig alles daransetzten, nicht selbst hereingelegt zu werden.

Was bedeutet das für die Wahrnehmung fotografischer Bilder? Dass sie im Zeitalter der digitalen Fotografie als dubiativ betrachtet werden müssen, wie Peter Lunenfeld es formulierte, ist hinlänglich bekannt. Während es bei der analogen Technik noch einen Bezug zwischen der fotografierten Realität und dem Filmnegativ gab, existiert ein solche Zusammenhang bei der digitalen Fotodatei nicht. Deren Daten sind flüchtig und können am Rechner, ohne erkennbare Spuren zu hinterlassen, verändert werden. Dem digitalen Bild ist ohne Zuhilfenahme forensischer Analysen nicht anzusehen, woher seine Daten stammen. Und dennoch wird auch einer digitalen Fotografie im allgemeinen Verständnis noch immer ein gewisses Maß an Glaubwürdigkeit zugesprochen. Sie wird als Beleg dafür betrachtet, dass sich etwas so ereignet hat, wie es das Bild zeigt. Ganz ähnlich wie in analogen Zeiten. Der Wahrheitscharakter einer Fotografie wird weiterhin höher eingeschätzt als der des gesprochenen oder geschriebenen Wortes, dem stets eine gewisse Subjektivität unterstellt wird. Dieser Nimbus der Fotografie wird jedoch mehr und mehr zugrunde gehen.

Künftige Verfahren zur Schaffung virtueller Realitäten werden nicht mehr als solche erkennbar sein und die Rezeption von Bildern jeglicher Art grundlegend verändern.

Während sich beim Wandel von der analogen zur digitalen Fotografie die breite Öffentlichkeit nur selten mit den abbildtheoretischen Unterschieden der Technologien befasste und beiden Bildformen einen glaubwürdigen Realitätsbezug unterstellte, werden die Auswirkungen der Künstlichen Intelligenz sehr viel deutlicher spürbar sein. Zwar hat man auch in der Vergangenheit von Bildmanipulationen gewusst, analogen wie digitalen. Die wegretuschierten Genossen Stalins oder die künstlich langgezogenen Beine des Supermodels in der Werbung waren schon immer Hinweise darauf, dass ein Foto Manipulationen aufweisen kann. Aber das waren Randphänomene der Bildwahrnehmung. Künftig werden alle technisch erzeugten Bilder von der Frage begleitet sein, ob sie etwas mit der Realität zu tun haben oder frei erfunden sind. Das Misstrauen gegenüber dem medialen Bild wird zum Bestandteil des Alltagsbewusstseins.

Seit Jahren werden Computerspiele immer realistischer, und beim Einsatz dreidimensional wirkender Techniken verstärkt sich der Eintaucheffekt in fremde Welten noch einmal zusätzlich. Vergleichbares gilt für den Film. Künstlich animierte Produktionen werden dem menschlichen Schauspieler den Rang ablaufen. Der programmierte Star macht keine Zicken, nimmt keine Drogen und benimmt sich auch sonst skandalfrei. Darüber hinaus ist er zu jedem Stunt und zu allerlei Zauberei bereit und kann bei Bedarf auch naturgetreu um die Ecke gebracht werden. Für die Produktion bietet das eine Menge Vorteile. Eine Handvoll Programmierer ist günstiger zu bekommen, als es die Gagen exaltierter Stars ausmachen. Hollywood, goodbye. Virtuelle Realitäten werden parallel mit dem Fortschritt bei den Rechnerkapazitäten immer weniger von wirklichen Realitäten unterscheidbar sein.

Schon heute stehen Algorithmen zur Verfügung, die Bilddaten realer Personen zum Ausgangspunkt nehmen und aus ihnen frei erfundene, jedoch realistisch erscheinende Filmaufnahmen kreieren. Gestik, Mimik und Sprache wirken echt. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis solche Möglichkeiten für politische Desinformationskampagnen genutzt werden. Das Prinzip wird auch Einzug ins Private halten. Für den Spaßbereich gibt es längst Software und Smartphone-Apps, die eine Portraitvorlage so verändern, dass die ursprüngliche Person mit seltsamsten Gesichtszügen versehen wird. Bislang sind die Ergebnisse nicht wirklich überzeugend. Mit weiterentwickelter Technik wird sich dies ändern. Es ist dann nicht nur eine Sache der Profis, Menschen um Jahrzehnte altern zu lassen oder aus einem fröhlichen Mitbürger einen unangenehmen Griesgram zu machen, sondern wir alle werden das in großer Perfektion am heimischen Computer bewerkstelligen können. Ein neues Plug-in für Photoshop genügt, um aus einem x-beliebigen Bild eine Reihe höchst unterschiedlicher und stets glaubwürdiger Varianten zu erschaffen. Aus Pferden werden dann Zebras oder aus einem Monet ein Van Gogh. Laien werden dies nicht bemerken. Die schöne neue Welt der Fotografie eben.