Die Antinomien des Fotografischen
Vom Maler, Fotografen, Literaten und collagierenden Dadaisten Raoul Hausmann (1886 – 1971) liegen eine Reihe fotografietheoretischer Texte aus den 1920er bis in die 1960er Jahre vor, die auch heute noch Beachtung verdienen. Meist geht es um das Changieren zwischen freier Kunst und Wirklichkeitsabbildung sowie, dazwischen, den Möglichkeiten und Grenzen der Fotografie. Trotz der Begeisterung für das in den Zwanziger Jahren im Massengebrauch noch relativ jungen Medium, welches Hausmann als eine Bereicherung künstlerischer Techniken wahrnahm, merkte er auch Skeptisches an. Letztlich führte dies zu einer Abgrenzung der Fotografie vom übrigen Bildgestalten.
Gegenübergestellt werden hier ein von Raoul Hausmann verfasstes fiktives Gespräch mit Werner Graeff unter dem Titel Wie sieht der Fotograf, das 1933 in Das deutsche Lichtbild veröffentlicht wurde, und der Beitrag Ich war kein Photograph aus dem Jahr 1959. Beide Texte sind im Buch Raoul Hausmann. Kamerafotografien 1927 – 1957 des Verlags Schirmer/Mosel (1979) dokumentiert. Bemerkenswert für das Verständnis der Fotografie ist der Unterschied der Perspektiven.
Das Gespräch mit Graeff war von Hausmann frei erfunden, das vorweg. Nachdrücklich plädierte er in den Wortbeiträgen, die er sich selbst zuschrieb, für eine Orientierung der Fotografie an klassischen Bildkriterien, zumal er davon ausging, dass fast alle Fotografierenden von den wichtigsten künstlerischen Fragen keine Ahnung haben. Bildausschnitt, Blickführung, Verhältnis von Raum und Form – das alles sind den meisten leere Begriffe. Gleichzeitig betrachtete er die Fotografie als eine Zwischenstufe von Kunst und Technik. Beide seien zwar nahe verwandt, trügen jedoch auf unterschiedliche Weise zur Klärung der Stellung des Menschen in der Welt der Dinge bei, die Kunst eher im Gefühlsmäßigen, die Fotografie im Praktischen. Hausmann war im Übrigen davon überzeugt, dass Kunst von Können komme, also auch hier technische Fertigkeiten eine Rolle spielen. Die Unterschiede zwischen klassischer Kunst und Fotografie seien demnach nicht substanziell. Es mache für die Gestaltung nichts aus, ob wir die Mittel der Malerei benutzen oder die im Bruchteil einer Sekunde arbeitenden fotografischen Mittel. Entscheidend sei in beiden Fällen die Frage, Wer da Was sieht.
Sein im Text fiktiv einbezogener Gesprächspartner Werner Graeff, im wirklichen Leben ebenfalls Fotograf und Autor des 1929 erschienenen, damals wegweisenden Buches Es kommt der neue Fotograf, merkte sinngemäß an, dass sich auch mit der Kamera abstrakte, grafisch wirkende Werke erzielen ließen. Eine formal gute Fotografie sei nicht darauf angewiesen, unbedingt einen erzählenden Sinn, also einen wirklichkeitsnahen Inhalt zu transportieren, auch wenn viele Lehrbücher einen solchen Glauben verbreiten würden. Die Anwendung klassischer Gestaltungsregeln sei viel entscheidender. Form und Formdetail, hell und dunkel, groß und klein, ist allein imstande, die Fotografie aus einer nachahmenden, bestenfalls dokumentierenden Technik zum gestaltenden Ausdrucksmittel zu machen. Aus heutiger Sicht konventionell blieb Graeff, alias Hausmann, hingegen, wenn er bei alledem empfahl, den Zufall im Bilde möglichst auszuschalten. Die Bildgestaltung galt als eine rationale, gut zu bedenkende Angelegenheit.
Hausmann und Graeff waren sich, kaum verwunderlich, in dem erfundenen Gespräch weitgehend einig. Bildende Kunst und Fotografie verfügen zwar über unterschiedliche technische Voraussetzungen, diese sind jedoch gradueller Natur. Gemeinsam ist ihnen, so lässt sich der Text zusammenfassen, die Orientierung an einer überlegten Gestaltung, gleichermaßen im Gegenständlichen wie im Abstrakten. Und selbst das Ergebnis fotografischer Zufälligkeiten, fügen wir hinzu, ließe sich im Nachhinein schließlich danach bewerten, ob das so gewonnene Bild gestalterischen Ansprüchen genügt.
Einen gänzlich anderen Tenor zeigt der Text von 1959. Hausmanns Anmerkungen mit dem Titel Ich war kein Photograph, die auf einen unveröffentlichten Aufsatz Wir sind nicht die Photographen aus dem Jahr 1921 zurückgehen, verweisen auf Begrenzungen des Fotografischen, die in einem gewissen Kontrast zur mitunter etwas naiven Fortschrittsgläubigkeit der 1920er Jahre stehen. Dies hängt insbesondere mit den technischen Vorgaben der Kamera und ihrer zwangsläufig eingenommenen Zentralperspektive zusammen. Das fotografische Bild ist kein freies künstlerisches Produkt, sondern von vorneherein technisch determiniert. Dabei gilt: Die tote Mechanik unseres durch Newton bestimmten Sehens ist nicht Sehen, ist nicht Wahrnehmen – sie ist nur Trennung der lebendig-dynamischen Erscheinung in lauter rubrizierte Klassen, Kategorien und Begriffe. Die objektivgebundene Zentralperspektive der Kamera suggeriert zwar einen, nomen est omen, objektiven Blick. Dabei geht jedoch das Bewusstsein der Stellung des Menschen in der Welt der Beziehungen verloren, in der er nicht mehr naiv-egozentrisch den Gipfel der Pyramide bildet. Die nicht-fotografische Kunst sei da wesentlich freier. Nur für diese stellt die Zentralperspektive keine vorgegebene und damit einschränkende Bedingung dar.
Hausmanns Fazit bezüglich der Fotografie fällt kritisch aus. Nur Malerei und Plastik bilden kein kaltes Denkmal erstarrender Hilfskonstruktionen des Erinnerns an das kleine tägliche Ich, an den kümmerlichen Zustand, dessen Zufälligkeiten die Photographie vollständig ausdrückt. Und als Abschluss des Textes schließlich: Nein, wir sind nicht und wir wollen nicht sein: die Photographen!
Hausmann verstand sich als Künstler. Die bildgebende Fotografie im klassischen Sinne beherrschte er zwar, aber sie gehörte einer anderen Welt an. Dinge wie Fotocollagen oder kameralose Experimente in der Dunkelkammer schien er hingegen dem Künstlerischen zugerechnet zu haben. Hier spielt die Zentralperspektive ja auch keine Rolle. In dem konstruierten Gespräch mit Graeff werden die Antinomien innerhalb der Spannbreite fotografischer Möglichkeiten allerdings nicht so recht deutlich.
Hausmanns Anmerkungen zur Fotografie sind für den fototheoretischen Diskurs um Kunst und Wirklichkeitsabbildung eine Bereicherung. Je nach Metaebene und eingenommener Perspektive lassen sich beide Stränge, Fotografie als Kunst und als Nicht-Kunst, in sich schlüssig nachvollziehen. Aber es geht ja auch nicht darum, eine eindeutige Definition festzuschreiben.
Die Berlinische Galerie, die einen Teil des Nachlassen verwaltet, bereitet für den Herbst des Jahres eine Ausstellung Raoul Hausmann Vision. Provokation. Dada. vor. Vom Verlag Hatje Cantz ist das Buch Raoul Hausmann (1886 -1971). Vision. Provokation. Dada. angekündigt. Man darf gespannt sein, wie dort die Ambivalenzen im fotografischen Verständnis ihren Niederschlag finden.
Zur Fotografie und Kunst der 1920er Jahre bieten die fotosinn Essays Befreiung von der Malerei und Der Raum, die Fläche und das scharfe Detail sowie Die Sache mit der Kunst einige Anmerkungen über Hausmann und Graeff hinaus.