Essay 06
Befreiung von der Malerei
Begriffe wie Fotografie oder Photographie tauchen in den Werken Heinrich Heines nicht auf. Sie waren zu seiner Zeit noch ungebräuchlich. Heine verwendete lediglich den Ausdruck Daguerreotypie, und auch das nur an wenigen Stellen. Dies hängt auch mit seiner französischen Wahlheimat zusammen. Heine lebte von 1831 bis zu seinem Tod 1856 in Paris, dessen liberale Kultur und Politik ihm im Vergleich zu Deutschland ein bevorzugtes Umfeld boten. Darüber hinaus galt die Stadt als Zentrum der Wissenschaft und der kulturellen Moderne. So wurde die neue Abbildungstechnik der Öffentlichkeit nicht zufällig gerade hier präsentiert. Niépce, der schon länger mit lichtempfindlichem Material experimentierte, stand ab 1829 im Kontakt mit Daguerre, dem es schließlich 1837 gelang, eine beschichtete Silberplatte zu entwickeln und das schemenhafte Bild dauerhaft zu fixieren. Zwei Jahre darauf stellte er das Verfahren der Akademie der Wissenschaften vor. Insbesondere im Bürgertum fand die Daguerreotypie große Aufmerksamkeit. Sie sollte in den folgenden Jahrzehnten zum bevorzugten Mittel seiner bildlichen Selbstvergewisserung werden, nicht zuletzt in Gestalt inszenierter Idealposen. Insbesondere die Präsentation der Geschlechterrollen folgte streng vorgegebenen Mustern.
Heinrich Heine, der das Alltagsleben seiner Zeit ebenso aufmerksam beobachtete wie später in den ersten Jahrzehnten des Zwanzigsten Jahrhunderts Georg Simmel, Walter Benjamin oder Werner Sombart, hat die Anfänge der Daguerreotypie nur beiläufig registriert. Deren erste Eindrücke waren aus seiner Sicht nicht ausreichend, um ihr eine größere Beachtung zu schenken. Trotz seines scharfen Blickes auf die Marotten und Zwänge der Mitmenschen ahnte er in den 1840er Jahren noch nicht, welche Bedeutung das neue Medium in gar nicht so ferner Zukunft bekommen sollte. Einige Jahre später wäre das anders gewesen, aber da war Heine bereits an das Bett, seine Matrazengruft, gefesselt und konnte nicht mehr am öffentlichen Leben teilnehmen.
Mit der aristokratischen Kunstvorstellung der Goethezeit wollte Heine nichts mehr zu tun haben. Der Idee des Genies, das erleuchtet den Lauf der Welt deutet und über den Dingen schwebt, stellte er das Konzept einer Kunst gegenüber, die seziert, collagiert und Partei ergreift.
Seine Vorbehalte galten aber auch dem einfältigen Naturalisten, der einfach nur dupliziert, was er als Oberfläche der Dinge wahrnimmt. Mal war Heine ein Journalist, der Momente des sozialen Alltags dokumentierte, dann wieder sprang er in die Rolle des Till Eulenspiegel, der kritisch-analytisch hinter den ersten Anschein blickte, um anschließend eigene, höchst subjektive Empfindungen und Reflexionen beizufügen. Objektiv oder naturalistisch war wirkliche Kunst für Heine jedenfalls nicht. Sie habe mehr darzustellen als eine Nachahmung von Oberflächen. Der Beweis für diese These werde indirekt, so Heine, durch die Daguerreotypie erbracht, die genau dies tue, nämlich nachzuahmen, dabei jedoch nur klägliche Ergebnisse erziele. Aufgrund der anfänglichen Qualität der neuen Technik ist das Verdikt nachvollziehbar. Aber Heines Vorbehalte gingen tiefer. Ein analytischer oder gestaltender künstlerischer Wille sei bei einer Daguerreotypie nicht erkennbar. Ihr naturalistisches Paradigma könne deshalb keinen Kunstansprüchen genügen. Bestenfalls sei sie als Hilfsmittel für dokumentarische Zwecke geeignet.
In einem Brief an den Fürsten Pückler-Muskau bezeichnet Heine die Pariser Berichte über Politik, Kunst und Volksleben als daguerreotypisches Geschichtsbuch, worin jeder Tag sich selber abkonterfeite. Die Skizzen alltäglicher Begebenheiten seien, in Analogie zur Daguerreotypie, zunächst nur ein treu authentisches, also dokumentarisches Abbild des Geschehens. Kunst sei dies nicht unmittelbar, räumte er ein, sondern Naturprodukt im Sinne einer nüchternen Widerspiegelung. Höheres komme erst durch einen ordnenden Geist ins Spiel, der Eindrücke selektiert, zusammenfasst und dem Ganzen eine Gestalt sui generis verleiht. Sich selbst ließ er übrigens nicht daguerreotypieren. Da traute er dem kunstlosen Medium nicht über den Weg.
Bevor sich die neue Technik etablieren konnte, hatten bereits die Camera obscura, die Laterna magica und der Schattenschnitt einige unterstützende Verfahren zur bildlichen Darstellung realer Objekte angeboten.
Durch die Verbesserung der fotografischen Prozesse, die nicht lange auf sich warten ließ, entstand dann jedoch etwas Neues. Mit Hilfe der Kamera ließen sich direkte Abdrücke der dinglichen Realität nehmen. Den bisherigen Reproduktionsverfahren war die Technik paradigmatisch haushoch überlegen. Zeitgenössische Texte zeugen vom Ringen um ihre Einordnung. Meist wurde vor allem die Fähigkeit der exakten Wiedergabe betont. Dieses Verständnis mündete in das erste, das naturalistische Paradigma der Fotografie. Es folgte der Überzeugung, die Dinge so zeigen zu können, wie sie sind. Die Vertreter der etablierten Künste fühlten sich bedroht oder waren zumindest irritiert. Schließlich war die bildliche Wiedergabe der Wirklichkeit bislang ihr Metier gewesen. Als gleichwertige Ausdrucksform konnte und wollte man die Fotografie nicht begreifen. Kunst war sie jedenfalls nicht, gab man sich, wie Heinrich Heine, überzeugt. Bald wurden die Möglichkeiten der neuen Konkurrenz jedoch auch als Chance begriffen. Wenn sich mit Hilfe der Kamera die Welt der Dinge so überaus genau abbilden ließ, konnte die Malerei doch nun die Flucht nach vorne antreten und sich vom Realitätsbezug, ihrem bisherigen Arbeitsauftrag, lösen. Nur folgerichtig, dass im ausgehenden 19. Jahrhundert der Siegeszug der künstlerischen Moderne einsetzte. Formen und Farben wurden impressionistisch, später dann expressionistisch, abstrakter und die Bilder schließlich vollkommen gegenstandslos. Die Malerei hatte durch das Auftreten der fotografischen Konkurrenz nach Abklingen der ersten Verunsicherungen an Freiheit gewonnen.
Mit einem Seitenblick auf die nun gelöst aufspielende Kunst wuchs auch in der Fotografie das Verlangen nach einer Überwindung des herkömmlichen Paradigmas. Insbesondere in den 1920er Jahren erweiterte sich ihr Selbstverständnis. Gegenstandslose Experimente, Fotogramme und Dunkelkammermanipulationen überwanden das naturalistische Prinzip und ersetzten es durch das Paradigma Malen mit Licht. Das Tun des Fotografen erschöpfte sich nicht mehr im Einsatz der Kamera. Lichtmalen war auch ohne Fotoapparat möglich. Entsprechend erweiterten sich die Definitionsgrenzen der fotografischen Verfahren. Entscheidend war, dass mit lichtempfindlichem Material gearbeitet wurde. Aber dies stellte noch nicht den Abschluss der Entwicklung dar.
Das Paradigma Malen mit Licht wurde in den letzten beiden Jahrzehnten des Zwanzigsten Jahrhunderts abgelöst bzw. ergänzt, als mit der digitalen Fotografie eine neue Technologie das Spielfeld betrat.
Statt des analogen Films, bei dem sich die Lichtspuren der Objekte unumkehrbar in dessen Silbersalzemulsion einfressen, dienen zur Aufnahme der Daten nun ein Sensor und die digitale Speicherkarte. Im Gegensatz zum Film sind die so festgehaltenen Informationen allerdings veränderbar. Der Beweischarakter für das Vorhandensein eines Objektes, wie noch bei der analogen Fotografie, entfällt. Das digitale Bild ist grundsätzlich zweifelhaft und folgt einem dritten Paradigma, dem des Dubiativen. Da vielen Bildern nicht unmittelbar anzusehen ist, ob sie analog oder digital entstanden sind, war damit jede Fotografie zweifelhaft geworden. Postmoderne Wirklichkeitsdeutungen trugen zusätzlich zur Infragestellung alter Selbstverständlichkeiten bei.
Bei einer digitalen Aufnahme kann in der Regel nicht beurteilt werden, inwieweit sie durch die Kamera, eine spätere Bildbearbeitung oder frei auf der Basis künstlicher Algorithmen entstanden ist. Das Aufeinandertreffen der klassischen analogen und der neuen digitalen Technik bestimmte deshalb eine Zeit lang die fototheoretischen Diskurse. Heute kann hingegen von einer friedlichen Koexistenz ausgegangen werden. Beide Techniken sind zum Fotografieren geeignet, weisen aber Eigenheiten auf. Der Charakter des fotografischen Prozesses scheint jedenfalls ausreichend durchdacht und alle Argumente wiederholen sich wie in einer Endlosschleife. Seit den 2010er Jahren entwickelt sich deshalb ein neues Paradigma, das die Alternative analog oder digital nur noch als Fragestellung am Rande betrachtet. Ob es sich um die Kunstfotografie oder ihre alltäglichen Schwestern bis hin zur Fotografie mit dem Smartphone handelt, es gibt keine Grenzen mehr und keine verbindlichen Vorgaben. Es ist das Zeitalter des vierten, des Anything goes Paradigmas. Alles ist möglich und alles ist erlaubt.
Irgendwann könnte eine Sättigung hinsichtlich der grenzenlosen Freiheit eintreten. Dennoch gibt es keinen Grund, von einem postfotografischen Zeitalter zu sprechen oder gar vom Tod der Fotografie.
Solche Thesen würden nur dann Sinn machen, wenn exklusiv das Paradigma Malen mit Licht oder das naturalistische Prinzip zu ewigen Konstitutionsbedingungen der Fotografie stilisiert werden. Die digitale Technik wäre dann ausgeschlossen, da sie auf Algorithmen beruht und weder auf eine äußere Realität noch die unmittelbare Wirkung von Licht angewiesen ist. Stirbt die analoge Fotografie aus, wäre dann in der Tat bei einer engen Definition das Ende der Fotografie erreicht. Dazu wird es jedoch nicht kommen. Analoge Verfahren werden Bestand haben, wenn auch in einer Nische. Wie der Plattenspieler. Wahrscheinlich ist deshalb eine Zukunft, in der die Frage des Aufnahmemediums, Film oder Datenspeicher, ohne Bedeutung ist, dafür das ungebrochene Bedürfnis nach dem statischen Bild als Ausdruck angehaltener Zeit umso mehr seine Wirksamkeit entfaltet. Dies könnte bedeuten, dass nach Jahrzehnten des Austestens von Grenzen und des Anything goes wieder stärker einer bildmäßigen, gegenständlichen Fotografie Raum gegeben wird. Ein Revival des naiven, naturalistischen Paradigmas ist aber unwahrscheinlich. Zukunftsfähig erscheint eher eine Fotografie, die das reflexive Spiel mit den Fragen nach der Wirklichkeit, der Objektivität und der Wahrheit einschließt. Dies könnte eine Rückbesinnung auf die fotografischen Diskurse der 1920er Jahre mit sich bringen.
Als 1929 aufgrund der einsetzenden Weltwirtschaftskrise die Fahrt auf dem goldenen Karussell ein jähes Ende mit weitreichenden politischen Folgen fand, war die Bedeutung des zu Ende gehenden Jahrzehnts für die sich immer mehr differenzierenden künstlerischen Ausdrucksformen noch gar nicht absehbar. Erst aus dem zeitlichen Abstand ist erkennbar, welch produktive Spannung sich aufgebaut hatte, die schließlich in einer bemerkenswerten Dynamik zur Entladung kam. Die Neue Sachlichkeit betrat im Jahr 1925 mit der von Gustav Friedrich Hartlaub kuratierten Ausstellung in Mannheim mit einem Paukenschlag die Bühne. Nahezu zeitgleich kam die Leica als serienreifes Produkt auf den Markt, um die Ära der schnellen Fotografie einzuleiten. Schließlich war es László Moholy-Nagy, der im selben Jahr mit dem Buch Malerei, Fotografie, Film das theoretische Fundament für die Überwindung der traditionellen Bildsprache schuf. Er gehörte zu denen, die schon früh das Potential der modernen Fototechnik erkannten. Alle diese Erscheinungen zusammengenommen, war 1925 für die Moderne ein bedeutsames Jahr, nicht nur für die Fotografie, die auf zeitlich etwa halbem Weg zwischen den ersten Daguerreotypien um 1830 und der digitalen Gegenwart ihre Forderungen an eine neue Form des Sehens anmeldete.
Vorbedingung für den fotografischen Take-off war schon vor dem Auftauchen der Leica die Entwicklung kleinerer und mobiler Kameras, so dass die gestelzte Standbildfotografie des 19. Jahrhunderts mit ihren langen Belichtungszeiten mehr und mehr durch auch für Laien handhabbare Apparate verdrängt worden war. Parallel dazu hatte sich das herkömmliche Bildverständnis der Malerei mit seinem allgemeinem Gültigkeitsanspruch aufgelöst. Ergebnis waren in den Metropolen Europas Abspaltungen von den traditionellen Kunstsalons, denen weitere, radikalere Sezessionen folgten. Mit den Impressionisten hatte es begonnen, dann kamen die Expressionisten sowie realitätsgelöste Abstrakte, Kubisten, Futuristen, Dadaisten und vielerlei andere Strömungen. Bereits vor dem Schlüsseljahr 1925 hatte sich in Kunst und Kultur eine Polyperspektivität entwickelt, durch die das eher homogene künstlerische Deutungssystem des 19. Jahrhunderts in unterschiedliche Stile ausdifferenziert worden war. Obwohl von einer allgemeinen Kunstfreiheit noch nicht die Rede sein konnte, waren die Grenzen des Erlaubten immer weiter hinausgeschoben worden. Es gab nicht mehr die Kunst oder das Bildverständnis. Zumindest hatte sich neben dem Etablierten eine alternative Szene entwickelt, die vom gebildeten Publikum mit Interesse zur Kenntnis genommen wurde.
Die vom Traditionellen wegstrebenden Zentrifugalkräfte führten in unterschiedliche Welten. Einerseits in eine immer phantastischer, wilder, verrückter, dada und für manchen gaga werdende Kunst, die mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln das durchgewirbelte zeitgenössische Lebensgefühl aufgriff und beim gespaltenen Publikum teils auf begeisterte Sensationsgier stieß, teils auf blankes Entsetzen. Und auf der anderen Seite entwickelte sich ein technikaffines und modernistisches, dem Rationalismus des Ingenieurs nacheiferndes Kunstverständnis, das auf die Anregungen des italienischen Futurismus sowie des russischen Konstruktivismus Bezug nahm.
Auch wenn sich die Wilden und die Techniker in der Ablehnung des Traditionellen einig waren, standen sie sich diametral gegenüber. Den einen war alles zu kommerziell und verlogen geworden, so dass sie zur Ironie, zum Absurden und zum Lächerlichen griffen. Die Konstruktivisten hingegen blickten optimistisch in die Zukunft und verstanden ihr Wirken als Gegenentwurf zur dadaistischen Destruktion. Im Bauhaus dachte man ganz ähnlich. Wissenschaft, Technik und Kunst galten als Mittel zur Gestaltung einer besseren Welt. Einzig der Surrealismus schwankte. Die phantastische Darstellung auf der Leinwand, auf der Bühne oder in der Literatur ließ sich sowohl als dadaistisches Experiment begreifen wie auch überlegt und rational konstruieren. Der das Unbewusste ansprechende Surrealismus André Bretons etwa nutzte unmittelbar das freie Phantasiematerial. Salvador Dali hingegen malte seine Traumgespinste bewusst und mit handwerklich gekonnt geführtem Pinselstrich. Ähnlich ging der fotografische Surrealismus vor. Dinge, die im Alltag nichts miteinander zu tun hatten, wurden als Collage zusammengeführt und in überraschende Beziehungen gesetzt. Man arbeitete mit Bedeutungsassoziationen. Banales schien plötzlich mit großem Sinn aufgeladen.
Alle, der Surrealismus ebenso wie das Neue Sehen, der fotografische Konstruktivismus sowie die Ästhetik des Bauhauses, waren Erscheinungsformen einer Gemengelage, die das Jahrzehnt künstlerisch prägte.
Im Jahr 1929 erschien begleitend zur Stuttgarter Werkbundausstellung Film und Foto Werner Graeffs Es kommt der neue Fotograf. Dem Publikum wurde eine Fotografie präsentiert, die sich konsequent von den traditionellen Regeln absetzte. Graeff ging es nicht um einen avantgardistischen Ansatz für eine Minderheit elitärer Kunstfotografen, sondern um neue Sichtweisen und Sehformen für alle. Auch die Emanzipation von der Malerei war kein Thema. Deren Regeln waren, wie Graeff zeigte, nicht zwingend zu übernehmen. Darüber hinaus hatte der damalige Kunstdiskurs mit dem Leitbegriff der Neuen Sachlichkeit das Feld vorbereitet, so dass für eine formal nüchterne und gleichzeitig moderne Bildsprache eine breite Rezeptionsbereitschaft erwartet werden konnte.
In den Vereinigten Staaten hatte es nach der Jahrhundertwende eine ähnliche Entwicklung gegeben. Die Straight Photography war Vorläuferin der Ästhetik der 1920er Jahre und des Neuen Sehens. Alfred Stieglitz begründete 1902 in New York als Gegenentwurf zum piktoralistischen Konzept die Photo-Secession und gab ab 1903 die Zeitschrift Camera Work heraus, die unter anderen die Arbeiten von Edward Steichen und Paul Strand zeigte. Ebenso wie Edward Weston wandten sich diese konsequent vom Piktoralismus mit seinen impressionistisch anmutenden Gemäldeimitationen ab. Auch Alvin Coburns The Octopus von 1912 machte beispielhaft den Einzug abstrakter Elemente in die fotografische Bildsprache deutlich. Die vom Schnee geräumten, sternförmig sich verzweigenden Wege des Madison Square erinnern beim Blick von der oberen Etage eines anliegenden Gebäudes an das stilisierte Bild eines riesigen Tintenfischs. Coburns Aufnahme lässt sich analytisch unter dem Gesichtspunkt ihres inhaltlichen Informationswertes betrachten oder aber, dies war neu, als grafisches Flächenbild. Man kann zwischen beiden Sichtweisen wechseln, ähnlich wie bei Kippbildern. Schon Paul Strand hatte erkannt, dass sich Objekte entweder als Objekte oder als abstrakte Formen abbilden lassen. Moholy-Nagy nahm diesen Gedanken auf und fotografierte, ähnlich wie Coburn, aus der Höhensicht des Berliner Funkturms die umliegende winterliche Szenerie auf grafische Weise.
Paul Strand sah im Einklang mit der Mehrheitsauffassung seiner Zeit die Besonderheit der Fotografie in ihrer absoluten Objektivität. Auf der anderen Seite spürte er, dass es zur Falle werden konnte, verstünde man die Fotografie lediglich als genaueren und vor allem schnelleren Ersatz für das Gemälde. Ihre Emanzipation werde behindert, so Strand, wenn die Bemühungen der Piktoralisten anhielten, Fotografien bei Tarnung ihres technischen Entstehungshintergrundes wie handgemachte Gemälde erscheinen zu lassen. Die Diskussion, ob Fotografie Kunst sei, hielt er im Übrigen für töricht.
Zu Beginn der 1920er Jahre wurde der Objektivitätsnimbus der Fotografie noch nicht, wie wir es heute gewohnt sind, medientheoretisch infrage gestellt oder ideologiekritisch aufgearbeitet. Das Selbstverständnis der Fotografie formte sich aus einer positiven Technikaffinität. Basis waren nicht zuletzt die Erfindungen der vorangegangenen Jahrzehnte und der Einbruch der Moderne in alle Lebensbereiche. Die Großstadt mit ihrer Geschwindigkeit, das Automobil und die Luftfahrt, der Film und später der Rundfunk bildeten in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg eine technizistisch aufgeladene Atmosphäre. Die Kunst steuerte in Malerei, Literatur, Theater, Tanz und Varieté sowie durch grenzüberscheitende Experimente und Performances Elemente des dazu passenden kulturellen Überbaus bei. Aber das schnelle Leben war mit einer latenten Anstrengung verbunden. Die Neue Sachlichkeit kann deshalb als Reflex verstanden werden, nach den expressionistischen und dadaistischen Experimenten wieder Ruhe in die verwirrende Unübersichtlichkeit zu bringen. Das Publikum war für die Rezeption einer sachlich und eher kühl wirkenden Bildsprache, wie sie die damalige Schwarzweißfotografie verkörperte, jedenfalls bestens vorbereitet. Romantik, verspielter Jugendstil oder gar Kitsch waren verpönt. Auch dem Piktoralismus war nun der Boden entzogen.
Im Jahr 1928 erschien Die Welt ist schön von Albert Renger-Patzsch. Die Fotografie habe sich auf ihre eigene Technik und ihre eigenen Mittel zu besinnen, so die Grundthese. Ähnlichkeiten der Bildwirkungen von Fotografie und Malerei seien, wenn überhaupt, rein äußerlich. Das Geheimnis der Fotografie beruhe, so Renger-Patzsch, auf ihrem Realismus. Mit Kunst hingegen sollen sich die Künstler befassen. Konsequent widmete er sich der gegenständlichen Abbildung. Eine Fotografie als abstraktes Bild zu verstehen, blieb ihm fremd. Das Wesen der Fotografie bestand, so seine Überzeugung, in der einzigartigen Fähigkeit zur nüchternen Wiedergabe der Realität.
Diese Sicherheit des Objektiven war für den russischen Konstruktivisten Alexander Rodtschenko längst fragwürdig geworden. Nachdrücklich wandte er sich sowohl gegen den Bauchnabelperspektivismus der herkömmlichen Fotografie wie gegen den Glauben, mit einer Fotografie ließe sich die Komplexität der Wirklichkeit verlässlich einfangen. Vorbilder fand er in der zeitgenössischen Malerei. Hier hatten Malewitsch und El Lissitzky der gegenstandslosen, dabei nicht wild expressiven, sondern überlegt konstruierten Bildgestaltung zum Durchbruch verholfen. Der erst später zur Fotografie gewechselte Rodtschenko nahm deren Gedanken der formalen Flächenkonstruktion auf und verknüpfte ihn mit der Idee einer realistischen, aber dennoch neuen Art der Fotografie mit starken Perspektivwirkungen sowie ungewohnten Ein- und Überblicken. War der gemalte Konstruktivismus abstrakt, kann sein fotografisches Pendant eher dem gegenständlichen Neuen Sehen zugerechnet werden.
Die bildende Kunst hatte sich lange mit den Fragen der Raumillusion befasst und seit der Renaissance den zentralperspektivischen Blick zum Standard erhoben. Mit dem Aufkommen der Fotografie geriet dies noch einmal neu ins Bewusstsein.
Schließlich konnte die Kamera gar nicht anders, als durch den Brennpunkt eines Objektivs zentralperspektivisch abzubilden. Was in der Malerei unreflektiert eingesetztes Gestaltungsmittel war, stellte sich für die Fotografie aufgrund der monokularen Technik als alternativlose Voraussetzung dar. Bei der fotografischen Zentralperspektive handelt es sich deshalb, im Gegensatz zur Malerei, um eine conditio sine qua non und nicht um eine Wahlentscheidung. Die Künste des Zwanzigsten Jahrhunderts haben dies erkannt und sich vom Dogma der Zentralperspektive wieder befreit. Sie entdeckten die Möglichkeit, in einem Gemälde verschiedene Sichtweisen zu vereinen. Pablo Picasso hat das gezeigt. In der Fotografie gelingt dies bestenfalls durch Mehrfachbelichtungen, Montagen oder mit Hilfe von Photoshop. Lediglich unter Zuhilfenahme von Spiegeln lässt sich die Illusion einer Multiperspektivität erzeugen. In der experimentellen Fotografie ist dieses Motiv seit den 1920er Jahren, nicht zufällig, immer wieder aufgegriffen worden.
Ungeachtet ihrer technisch bedingten Beschränktheit hat Rodtschenko die Eignung der Fotografie für eine zeitgemäße Bildsprache herausgearbeitet. Dafür erschien es notwendig, das herkömmliche Kompositionsschema zu durchbrechen und mit ungewohnten Aufnahmestandpunkten und Kamerahaltungen zu arbeiten. Darüber hinaus befasste sich Rodtschenko mit dem Wahrheitswert der Fotografie. Da die Fotografie grundsätzlich monoperspektivisch angelegt ist, jedes Objekt jedoch von vielen Seiten aus betrachtet werden kann, werde man einem Motiv nur gerecht, wenn es mehrfach und aus unterschiedlichen Blickwinkeln fotografiert wird. Falsch hingegen sei es, vorschnell eine bestimmte Sichtweise als allgemeingültig zu erklären. Dieser Grundgedanke der Multiperspektivität hat Rodtschenko von linientreuen sowjetischen Zeitgenossen den Vorwurf eines unzureichenden Standpunktes eingehandelt. Parteilichkeit, verstanden als Verzicht auf die Mühe einer gründlichen Abwägung verschiedener Sichtweisen, entsprach jedoch nicht seinem fotografischen Ethos. Gegen die engstirnigen Angriffe des Kulturkommissariatsdenkens setzte sich Rodtschenko zur Wehr. Ähnlichkeiten zum Neuen Sehen eines Renger-Patzsch oder Affinitäten zu den Bauhausgedanken László Moholy-Nagys, mit dem er in Kontakt stand, leugnete er nicht, wies den Subjektivismus- und Formalismusverdacht aber vehement zurück.
Charakteristisch für den Stil Rodtschenkos sind extreme Sichten von unten oder oben sowie Aufnahmen mit gekipptem Horizont. Solche Abweichungen von der herkömmlichen Bauchnabelperspektive versetzen die auf der Idee des euklidischen Raumes beruhenden Wahrnehmungsmuster in Verwirrung. Der neue Blick ließ sich im Übrigen auch als Analogie zur zeitgenössischen Lebenswelt verstehen, die für manchen aus den Fugen geraten war. Rodtschenkos Extremsichten sind gleichzeitig dynamikorientiertes Stilmittel wie Ausdruck der Abgrenzung von der traditionellen Bildgestaltung. Sie löschen den technisch bedingten, zentralperspektivischen Blick zwar nicht aus, überlagern ihn aber durch Ungewohntes und führen zur Illusion seiner Überwindung. Je abstrakter die Fotografie, je mehr sie von der Raumdarstellung zur gestalteten Fläche wurde, umso stärker trat die klassische zentralperspektivische Wirkung in den Hintergrund.
Gegen Mitte der 1920er Jahre erlangte das konstruktivistische Bildverständnis seine Blütezeit. In Deutschland war daran neben den Protagonisten des Neuen Sehens nicht zuletzt die Bauhausfotografie beteiligt, insbesondere durch László Moholy-Nagy.
Zwischen ihm und Renger-Patzsch gab es eine Reihe formaler Berührungspunkte, aber auch deutliche Unterschiede. So wandte sich Renger-Patzsch nachdrücklich gegen die experimentellen Konstruktionstechniken der Bauhausfotografen und stellte diesen die handwerkliche Perfektion der reinen Fotografie gegenüber, die eine saubere Abbildung und die vollständige Berücksichtigung der Grauwertskala forderte. Nicht ohne Erfolg. Nach dem Weggang Moholy-Nagys wurde im Jahr 1929 mit Hans Peterhans ein klassisch ausgebildeter Fotograf an das Bauhaus berufen, der eine Kehrtwende vollzog, um dem, wie auch er kritisierte, handwerklich vormals Unzureichenden eine solide Fachausbildung entgegenzusetzen. Der Bruch mit dem Verständnis seines Vorgängers, dessen Ansatz er als dilettantischen Akademismus betrachtete, wurde zum Programm. Die Fotografie solle sich, so Peterhans, von allen Versuchen fernhalten, mit experimentellen Techniken oder unnatürlichen Sichtweisen Kunst produzieren zu wollen. Folgerichtig konzentrierte er seinen Unterricht auf die Grundlagen für technisch perfektes Fotografieren und verzichtete, wie es Renger-Patzsch gefordert hatte, auf Experimente zur Überwindung der durch die Kameratechnik gesetzten Grenzen. Dies empfand er nicht als Beschränkung, sondern als Konzentration auf das Wesentliche.
Peterhans war sich gleichwohl der Tatsache bewusst, dass Fotografieren immer auch Gestalten bedeutet, da durch die Wahl von Brennweite und Blende einige Dinge hervorgehoben und andere nebensächlich werden. Sein Hinweis auf die auslese aus der fülle der fakten lässt anklingen, dass es ihm trotz der Konzentration auf technische Aspekte nicht nur um die Vermittlung des fotografischen Handwerks ging, sondern auch um die Reflexion des Mediums selbst. Fotografieren bedeutet nun einmal nicht Realitätsverdoppelung, sondern ist ein konstruktiver Akt, bei dem, ob bewusst oder unbewusst, Wirklichkeit interpretiert wird. Versteht man Peterhans auf diese Weise, werden einige Parallelen zum Konstruktivismus erkennbar, so dass am Ende trotz aller Unterschiede auch etwas Gemeinsames mit der Programmatik Moholy-Nagys und Rodtschenkos mitschwingt.
Der nachhaltigste Versuch einer theoretischen Aufarbeitung des Mediums Fotografie erfolgte in den 1920ern durch Moholy-Nagy.
László Moholy-Nagy, geboren 1895 in Ungarn, beginnt dort mit der Malerei, siedelt später zunächst nach Wien und im Jahr 1920 nach Berlin über. In Wien befindet er sich noch in Distanz zu den experimentellen Avantgardisten und sympathisiert mit dem Expressionismus. Anders in Berlin, wo er sich den Konstruktivisten und Dadaisten annähert. Kontakte entstehen zu Kurt Schwitters, Raul Hausmann, Kasimir Malewitsch und El Lissitzky, zu Theo van Doesburg, Hannah Höch und Piet Mondrian. Bereits zwei Jahre nach seiner Ankunft findet in Herwarth Waldens Galerie Der Sturm die erste Einzelausstellung Moholy-Nagys statt. Ab 1923 ist er zudem als Lehrer am Bauhaus tätig, zunächst in Weimar und später in Dessau, bis er 1928 die Hochschule verlässt, um in Berlin ein eigenes Atelier zu eröffnen. Die Machtübernahme der Nazis vertreibt ihn über Amsterdam und London nach Amerika, wo er die School of Design gründet. 1946 stirbt er in Chicago.
Seit Beginn der Zwanziger Jahre befasst sich Moholy-Nagy mit verschiedenen künstlerischen Ausdrucksformen. Dazu gehören abstrakte Gemälde, Grafiken, Plastiken und alles, was mit Fotografie zu tun hat. Hinzu kommen Experimente wie Telefonbilder, bei denen nach einer Rasterfestlegung auf Millimeterpapier fernmündlich Farbcodes übermittelt und an anderer Stelle von instruierten Mitarbeitern materialisiert werden, indem sie die Informationen rückübertragen und das ursprüngliche Bild sichtbar machen. Das Ganze lässt sich als Vorform des Digitalen verstehen, ist jedoch nicht nur eine Technik. Moholy-Nagy war davon überzeugt, dass der Prozess der Werkerstellung bedeutsamer ist als das Ergebnis selbst.
Die technischen Entwicklungen seiner Zeit und die Veränderungen der Lebensbedingungen galten Moholy-Nagy als Herausforderungen, denen konstruktiv und optimistisch zu begegnen war. Statt in passivem Kulturpessimismus zu verharren, könne und solle die Kunst einen Beitrag zur individuellen wie kollektiven Entwicklung leisten. Dass er vor diesem Hintergrund ein Interesse für die russischen Konstruktivisten entwickelte und sich mit deren politischen Vorstellungen befasste, war nur folgerichtig. Innerhalb des Bauhauses stand er damit nicht allein. Die Mehrzahl der in Weimar und später in Dessau wirkenden Architekten, Planer und Gebrauchsdesigner war vom Wert ihrer Tätigkeit für eine moderne Gesellschaftsentwicklung überzeugt.
Ordnet man das Werk Moholy-Nagys in zusammenhängende Bereiche, ergeben sich hinsichtlich der Fotografie drei Komplexe: Erstens die Gedanken zur Theorie der Fotografie, zweitens die Gestaltungsgrundlagen der Fotogramme und drittens die Arbeiten mit Licht, ob in Form kinetischer Skulpturen oder als Multimediawerke.
Manches von dem ähnelt den Anything goes Diskursen des postmodernen Zeitalters, aber auch Moholy-Nagy war schon souverän genug, keine künstlerischen Wege auszuschließen. Nur produktiv sollten sie sein und den Betrachter zur Auseinandersetzung auffordern, statt zu langweilen.
Ein Mann im roten Overall, vielleicht ein Techniker, der für Heizung, Elektrizität und Wasser verantwortlich ist? Nein, es handelt sich um László Moholy-Nagy, der im Bauhaus nicht nur aus praktischen Gründen die Arbeitskluft wählt, sondern damit auch etwas vom Selbstverständnis seiner Tätigkeit zum Ausdruck bringt. Der Künstler als Ingenieur, eine bewusst gestaltete Rolle, ein konstruiertes Bild. Aber schließlich arbeitete er mit Materialien wie lichtempfindlichem Papier, Chemikalien und optischen Apparaten, die eher die Assoziation zu einem Labor als zum klassischen Atelier des Künstlers hervorriefen. Es war die Idee zeitgemäßer Kunst, die ihn dieses Outfit wählen ließ.
Moholy-Nagys 1925 erschienenes Malerei, Fotografie, Film fasste programmatisch die Aufgaben der Fotografie zusammen. Sie solle einen spezifischen Beitrag zur Zukunftsgestaltung leisten. Benötigt würden neue Mittel der künstlerischen Reflexion, insbesondere mechanische Darstellungsverfahren. An die Stelle der Pigmente von Gemäldefarben trete die Modulierung von Licht. Und überhaupt, die Fotografie von der Malerei zu lösen, erschien ihm als Hauptaufgabe der Zeit. Ob die Straight Photography in Amerika, Fotografen aus dem Umfeld des Neuen Sehens oder der russischen Avantgarde, sie alle hatten sich schon mit der Frage einer Abgrenzung von der klassischen Malerei befasst, um die Sackgasse des Piktoralismus zu vermeiden, der sich einer meist impressionistischen Bildsprache mit traditionellen Motiven, Stilen und Oberflächenerscheinungen bediente. Moholy-Nagy schloss sich der Kritik an. Die Malerei sei als Vorbild ungeeignet und könne den Möglichkeiten der Fotografie nicht standhalten. Durch deren Verbreitung ergebe sich aber auch für die Malerei ein Vorteil. Sie sei nun frei von allen Pflichten zur realistischen Abbildung und könne sich der unabhängigen Komposition widmen. Die Möglichkeit zur abstrakten Malerei sei unmittelbar der Fotografie zu verdanken.
Ähnlich wie die zeitgenössische Gestalttheorie Max Wertheimers, Wolfgang Köhlers oder Kurt Lewins ging Moholy-Nagy davon aus, dass es bestimmte, im kognitiven Apparat angelegte Strukturmechanismen zur Ordnung von Farben, Formen und Kontrasten gibt. Solche Wahrnehmungs- und Gestaltregeln seien kulturungebunden und würden das Konzept der absoluten Malerei begründen. Diese realisiere sich, wenn die Farb- und Flächengestaltung eines Bildes an den Prinzipien einer als stimmig empfundenen guten Gestalt orientiert werde. Schon die konstruktivistischen Werke von Mondrian, Malewitsch oder El Lisitzky waren auf dieser Grundlage entstanden. Ein realitätsorientierter Inhalt war nicht zwingend. Die absolute Malerei war frei von allen Forderungen nach Gegenständlichkeit und ausschließlich kompositorischen Regeln der Fläche unterworfen. Man könne deshalb, so Moholy-Nagy, ein solches Bild auch auf den Kopf stellen und es würde dennoch seinen künstlerischen Wert behalten. Von Georg Baselitz ist dieser Gedanke später auf eigene Weise umgesetzt worden.
Zur Zeit der Erfindung der Fotografie im 19. Jahrhundert besaß die Malerei diese Freiheiten noch nicht. Aber auch der Fotografie waren ihre Potentiale zunächst nicht bewusst. Sie verstand sich als Ersatz für das klassische, handgemachte Bild. Der Blick müsse sich jedoch, so Moholy-Nagy, auf weitergehende Möglichkeiten richten. Basis hierfür sei der menschliche Funktionsapparat. Dessen Fähigkeiten würden dann optimal erschlossen, wenn die kognitiven Möglichkeiten an ihre biologischen Grenzen gebracht werden. Der Kunst komme deshalb die Aufgabe zu, ungewohnte Relationen zwischen den Sinneseindrücken herzustellen. Fordere man den geistigen Apparat, werde dessen Leistungsfähigkeit erweitert. Für die Fotografie sei dies von unmittelbarer Bedeutung, denn eine Abbildung könne traditionell erfolgen, also reproduktiv und mit den bekannten Darstellungsmitteln, oder produktiv unter Nutzung neuer Gestaltungsmöglichkeiten. Lediglich Bekanntes zu wiederholen und Vorhandenes zu reproduzieren, entspreche nicht den Anforderungen an eine zeitgemäße Kunst. Alexander Rodtschenko hatte ganz ähnlich gedacht. Moholy-Nagy suchte jedoch nach weiteren Wegen jenseits klassischer Aufnahmetechniken.
Keine bildende Kunst ohne Licht.
Bis in die Texturwirkung der Leinwand spielt das Licht eine zentrale Rolle. Moholy-Nagy brachte die Botschaft auf den Punkt: Dieses Jahrhundert gehört dem Licht. Basis der These war die fotografische Technik, deren Trägermaterial, also der Negativfilm und das Fotopapier, eine lichtempfindliche Schicht aufweist. Sowohl bei der Aufnahme wie in der Dunkelkammer erfolgt durch die Zustandsänderung der Emulsionen von Film und Papier eine kontrollierte Materialisierung von Licht. Die Analyse des Mediums Fotografie habe sich deshalb, so Moholy-Nagy, nicht nur mit optischen Voraussetzungen oder mit Gestaltungsfragen zu befassen, sondern auch mit physikalischen und chemischen Vorgängen. Kameralose Experimente machen dies in besonderer Weise deutlich. Wird auf Objektiv, Blende und Verschluss verzichtet, werden alle Beeinflussungen zwischen Lichtquelle und Speichermedium umgangen. Zu erkennen ist die reine Lichtwirkung.
Im Jahr 1921 heiratet Moholy-Nagy Lucia Schulz, die sich zu dieser Zeit ebenfalls mit Fragen der Fixierung modulierten Lichtes ohne Einsatz eines Fotoapparates befasst. Kurz darauf beginnt Moholy-Nagy mit eigenen Versuchen. Beide wählen für ihre Arbeiten den Begriff Fotogramm und markieren durch die Terminologie eine Differenz zur Fotografie. Während bei dieser die Lichtführung durch das Objektiv kennzeichnend ist, besteht das Wesen des Fotogramms im direkten Kontakt von Objekten und einem lichtempfindlichen Papier. Je nach Winkel der Beleuchtung und gegebenenfalls der Entfernung des Gegenstandes ergeben sich mehr oder weniger scharfe sowie lange oder kurze Schattenbildungen. Zusätzliche Lichtquellen erzeugen weitere Schatten. Wird mit transparenten und teiltransparenten Materialien gearbeitet oder werden verschiedene Objekte zu einer Collage gruppiert, ergeben sich komplexe Lichtzeichnungen, die zusätzlich durch Oberflächenreflexionen geprägt sind.
Schadografien und Rayografien waren Parallelentwicklungen jener Zeit, die trotz einiger Besonderheiten große Ähnlichkeiten mit den Fotogrammen der Moholys aufwiesen. El Lissitzky, Kurt Schwitters oder Raoul Hausmann experimentierten ebenfalls mit der kameralosen Lichtgestaltung. Vorgängerversuche gehen sogar bis in die Anfangsjahre der Fotografie im 19. Jahrhundert zurück. Henry Fox Talbot und andere arbeiteten mit dem Abdruck von Gegenständen auf lichtempfindlichem Papier, etwa gepressten Pflanzen oder Federn. Ergebnis waren Kontaktkopien, nicht unähnlich den späteren Fotogrammen, gestalterisch jedoch der traditionellen Formensprache verhaftet. Erst die Moderne nach der Jahrhundertwende löste sich von solchen Abdrücken, aber auch von den Schattenbildern und Scherenschnitten vorangegangener Zeiten. Moholy-Nagy arrangierte alltägliche Gegenstände wie Kämme oder Wäscheklammern sowie Materialien aller Art zu komplexen Lichtcollagen. Sie ließen im Unterschied zu gegenständlichen Fotografien und den früheren Pflanzenabdrücken vielfach keine Rückschlüsse auf die Objekte zu. Es waren reine Abstraktionen, entstanden durch Licht, Schatten, Reflexionen und den Transparenzgrad der Materialien. Die Bilder wollten nichts repräsentieren, nichts abbilden. Sie waren keine Reproduktionen und standen für sich selbst.
Fotogramme markieren in besonderer Weise die Differenz zwischen der klassischen bildenden Kunst und der Arbeit mit lichtempfindlichem Material. Allein die abstrakten Werke des frühen Zwanzigsten Jahrhunderts weisen Parallelen zum Fotogramm auf. Beide, gegenstandslose Malerei und Fotogramm, grenzen sich durch das Fehlen einer Zentralperspektive sowohl von der traditionellen Kunst wie auch der konventionellen Fotografie ab. Wie bei Fotogrammen spielte die Raumtiefe bei den konstruktivistischen Werken von Malewitsch, Mondrian, Tatlin oder El Lissitzky keine Rolle. Es ging ausschließlich um die Flächengestaltung.
Ein Würfel hinterlässt auf dem Fotopapier entsprechend seiner Kontaktfläche einen klaren quadratischen Abdruck. Bei schräger Beleuchtung kommt ein Schatten hinzu, abhängig von der Position der Lichtquelle. Fotogramme mit komplexen Objektaufbauten, wie sie für Moholy-Nagy typisch waren, weisen darüber hinaus neben den scharf umrissenen Kontaktflächen differenzierte, teils unscharfe Lichtspuren auf. Fotogramme stehen in gewisser Weise konträr zur Fotografie, die alles Gegenständliche präzise und mit Erkennbarkeit abzubilden vermag. Beim Fotogramm hingegen spielt stets der Zufall mit, da die Belichtungswirkung nie vollständig zu steuern ist.
Mitunter ist es eine Frage der Zeit, bis die Phantasie anfängt, in einem der gegenstandslosen Bilder Impulse für gedankliche Assoziationen zu entdecken. Solange es sich um einen filigranen Farn handelte und das Fotogramm eine inhaltlich erkennbare Kontaktkopie darstellte, mochte das Ergebnis noch eindeutig gewesen sein. Moholy-Nagy arbeitete jedoch mit Mehrfachbelichtungen und zeichnete zusätzlich auf dem Fotopapier mit dem gebündelten Licht einer Taschenlampe. Ergebnis waren Entitäten eigener Art ohne Vorbild im Gegenständlichen. Es war eine auf zwei Dimensionen projizierte Lichtkunst ohne Wirklichkeitsentsprechung in der materiellen Welt der Dinge.
Bei der Reflexion über die Entstehungsbedingungen von Fotogrammen ergeben sich grundsätzliche Fragen nach der Beschaffenheit der Wirklichkeit und ihrer Abbildung, denn deutlicher noch als eine Fotografie machen sie bewusst, dass es sich bei ihnen um Konstrukte handelt.
Licht ist nicht einfach nur vorhanden, sondern lässt sich einsetzen wie der Ton in der Musik oder die Farbe in der Malerei. Eine Neue Ästhetik entstehe deshalb, so Moholy-Nagy, nicht allein durch spezifische Formen des Sehens und Fotografierens, sondern vor allem durch das konsequente Bewusstmachen der Rolle des Lichtes.
Jahrzehnte später sollte der Multimediatrend sämtliche zur Verfügung stehende Techniken und Ausdrucksformen nutzen. Eine Grenzziehung zwischen der Arbeit mit lichtempfindlichem Material beziehungsweise dem digitalen Sensor machte keinen Sinn mehr. Die klassische analoge Fotografie, chemische oder physikalische Manipulationen von Negativen und Fotopapieren, computerbasierte Techniken bis hin zum Einsatz von Photoshop, räumliche Formungen flächiger Bilder sowie allerlei Mischformen haben die Grenzen zwischen den Disziplinen aufgehoben. Verbindend ist einzig die Arbeit mit Licht und einem lichtempfindlichen Speichermedium. Vieles von diesem weitgefassten Paradigma geht zurück auf Moholy-Nagy. Aber er dachte noch weiter.
Was lag für einen experimentierfreudigen Künstler näher, als die Erfahrungen mit der zweidimensionalen Fotografie in die dritte Dimension der skulpturalen Darstellung zu übertragen?
Dabei geht es nicht mehr, wie beim Kamerabild und dem Fotogramm, um das flächige Nachbilden von Gegenständen oder um freie Lichtzeichnungen, sondern um die Inszenierung und vor allem die räumliche Wahrnehmung von Licht. Das Fotogramm war ein Meilenstein gewesen. Aber ebenso wie die Arbeit mit der Kamera stellte es im Denken Moholy-Nagys eher eine Zwischenstation dar als schon das Ziel.
Die Fotografie besitzt das Potential zur Suggestion von Raumtiefe, bleibt jedoch physisch an die Fläche gebunden. Und sie ist eine statische Angelegenheit. Soll über die Fläche hinaus der Raum erobert und die Gestaltung dynamisch werden, muss die dritte Dimension hinzugefügt werden. Das kann, wie beim Kino, als Addition von Einzelbildern geschehen, oder in Gestalt eines lichtkinetischen Objektes. Dieses wird als dynamische Plastik über einen Antrieb in Bewegung versetzt. Oder es wird mit Hilfe von Licht ein virtueller Raum kreiert. Moholy-Nagy wählte eine Kombination aus beidem.
An das Grundmuster eines kinetischen Objektes erinnert die rotierende, mit Spiegel- oder Metallelementen beklebte Discokugel der 1970er Jahre, die durch Reflexion bunter Lichter die Grenzen des Raumes markierte. Ganz ähnlich das künstlerische Lichtobjekt. Über die eigene Gegenständlichkeit hinaus dehnt es sich aus, bis seine Lichtstrahlen auf ein materielles Hindernis als Reflexionsmedium stoßen. Dieses Grundprinzip machte sich Moholy-Nagy zu Nutze. Seit 1922 arbeitete er am Lichtraum-Modulator, der anlässlich der Pariser Werkbundausstellung im Jahr 1930 vorgestellt wurde. Licht, Bewegung und Raummarkierung sind seine funktionellen Bestandteile. Es war eine Konstruktion aus teils durchbrochenen, teils transparenten Bauformen, die mit Hilfe eines Antriebs in Rotation versetzt wurden. Durch die objektimmanente Beleuchtung ergaben sich an den umgebenden Raumwänden differenzierte Reflexionen sowie Lichtmuster und Schattenbildungen. Der Lichtraum-Modulator stellte schon im Ruhezustand eine Skulptur besonderer Art dar. Der eigentliche Reiz entstand jedoch, wenn die Beleuchtung eingeschaltet und der Apparat in Bewegung gesetzt wurde. Der Raum war nun immateriell mit geformtem Licht gefüllt.
Im Jahr der Vorstellung des Lichtraum-Modulators entstand auch der fünfminütige Film Lichtspiel Schwarz-Weiß-Grau, der die Wirkung der Installation zeigt. In erster Linie ging es um die Wahrnehmung von Licht und Bewegung, den beiden Basiselementen. Gleichzeitig wurde eine Reflexionsebene hinzugefügt, denn das Prinzip der Filmtechnik beruhte ebenfalls auf Licht und Bewegung. Schnitt- und Überblendtechniken sowie Prismenaufnahmen wurden als Modulationsmittel eingesetzt, um auf der Metaebene, das ist die Filmtechnik, wie als Inhalt, das ist die gezeigte Skulptur, Licht und Bewegung darzustellen. Neben dem Lichtraum-Modulator war Lichtspiel Schwarz-Weiß-Grau ein Werk eigener Art mit referentieller Dimension. Form und Inhalt bildeten eine Einheit. Geplant war der Einsatz des Lichtraum-Modulators im Rahmen öffentlicher Veranstaltungen. Darüber hinaus entwickelte Moholy-Nagy Konzepte zur drahtlosen Übertragung mit Hilfe der Radiotechnik oder für ein Polykino, bei dem simultan auf mehreren Projektionsflächen gegenständliche Filme oder abstrakte Lichtkonstrukte gezeigt werden, die sich mal überlagern, aber auch synchron oder unabhängig voneinander betrachtet werden können.
László Moholy-Nagy hat den Rahmen fotografischer Möglichkeiten gründlich erweitert. Die analoge Vergrößerung auf Barytpapier ist heute lediglich eine unter vielen Ausdrucksformen der Lichtkunst.
Insbesondere durch die digitale Paradigmenerweiterung stehen weitere Techniken zur Verfügung, und auch die Fläche des Bildes stellt keine Begrenzung mehr dar. In Zeiten der Multimediakunst haben sich die Formen vermischt. Es macht keinen Sinn, allein die Verwendung einer Kamera als Kriterium für die künstlerische Gattung Fotografie anzusetzen. László Moholy-Nagy ist Pate eines solchen Cross-over-Verständnisses. Die postmoderne Fortsetzung des linguistic turn hat im Übrigen in den letzten Jahrzehnten des Zwanzigsten Jahrhunderts zur Verabschiedung einer einfachen Idee von der Wirklichkeit des Wirklichen beigetragen. Nun gab es nichts als Zeichen und Sinnkonstrukte, hin und wieder aber auch ein schales Gefühl. Mit Roland Barthes kehrte dann die Hoffnung zurück, es ließe sich doch so etwas wie Realität retten. Seitdem keimt eine gewisse Konjunktur für vermittelnde Ansätze auf, die in einem integrativen Ansatz sowohl die Annahme einer manifesten Wirklichkeit wie gleichermaßen die Notwendigkeit ihrer sinnhaften Deutung vereinen. László Moholy-Nagys Denken ist geeignet, die Entwicklung einer entsprechenden Theorie anzureichern. Malerei, Fotografie, Film bietet dafür einige Bausteine.
Es lässt sich unterscheiden zwischen dem optischen Bild auf der Mattscheibe der Kamera oder als Negativ beziehungsweise Abzug einerseits und dem vom Betrachter gedeuteten und durch Sinnzuschreibungen strukturierten Bild andererseits. Das optische Bild weist im Sinne Roland Barthes darauf hin, dass im Augenblick der Auslösung des Verschlusses etwas vor der Kamera stattgefunden hat. Dieser objektiven Rohinformation wird bei der Wahrnehmung des Bildes eine Bedeutung hinzugefügt. Moholy-Nagy hat die einzelnen Schritte des Prozesses recht präzise beschrieben. Insbesondere bei Aufsichten, Untersichten und Schrägsichten werden auf dem Film die Lichtabstrahlungen der Objekte zwar optisch neutral gespeichert, das entwickelte Bild muss vom Betrachter jedoch auf der Basis visueller Vorerfahrungen sinnhaft gedeutet werden. Insbesondere gilt dies bei ungewohnten Extremperspektiven. Die Schwarz-, Weiß- und Grautöne des Bildes sind als Informationspunkte optisch wahr, zum Verstehen bedarf es jedoch der zusätzlichen Aufladung mit Sinn.
Heute gehen wir davon aus, dass das menschliche Sehen ein Vorgang ist, bei dem sich die äußere Realität nicht einfach nur als Bild auf der Netzhaut niederschlägt und unmittelbar an den kognitiven Apparat weitergeleitet wird. Vielmehr handelt es sich um einen komplexen Prozess, bei dem gleichermaßen Neurologie, Physiologie und Psychologie beteiligt sind.
Die von Moholy-Nagy vorgenommene Trennung in einzelne Wahrnehmungsphasen nahm diesen Gedanken vorweg. Zunächst erfassen wir die Strukturen, Kontraste und Flächenverteilungen eines Bildes. Das mag unbewusst oder intuitiv geschehen und gilt, wie die Gestaltpsychologie gezeigt hat, nicht nur für die Fotografie, sondern für jedes Bild. Danach oder parallel setzt der Prozess der Sinnzuschreibung ein. Was stellen die Dinge dar, oder was könnten sie darstellen? Welche Aussage mag der Fotograf angestrebt haben, oder welche Aussage drängt sich dem Betrachter auf? In jedem Fall ist dieser genötigt, eine subjektive Stellungnahme zu entwickeln.
Über Moholy-Nagy hinausgehend wissen wir heute, dass nicht jeder Betrachter eine eigenständige, individuelle Sinnkonstruktion aufbaut. Die Mitglieder eines Kulturkreises machen ähnliche visuelle Sozialisationserfahrungen und versehen Bilder deshalb mit großer Wahrscheinlichkeit auf ähnliche Weise mit Sinn, also mit Bedeutung. Ab einem gewissen Maß an Abstraktion oder Unklarheit eines Bildes funktioniert dieses intersubjektive Verstehen freilich nicht mehr. Beim Fotogramm stellt es sich von vorneherein so dar. Hier sind der individuellen Phantasie Tür und Tor geöffnet. Jeder Betrachter mag einen eigenen Sinn finden, ohne dass Wahrheits- oder Ontologiefragen berührt sind. Eine Rückübersetzung der Lichtzeichnung in ein gegenständliches Objekt ist nicht gefordert. Moholy-Nagy lag deshalb mit der These richtig, das Fotogramm sei die allgemeinere Form der Arbeit mit dem Licht. Das Kamerabild stellt lediglich den Sonderfall einer bereits während der Aufnahme mit potentiellem Sinn aufgeladenen Lichtkunst dar.