Essay 10
Der Raum, die Fläche und das scharfe Detail
Beim Fotografieren wird der Raum in eine Fläche umgewandelt. Die dreidimensionale Wirklichkeit schrumpft zu einem Bild mit nur noch zwei Dimensionen. Auf den ersten Blick erscheint das alles unproblematisch, und für das Alltagsverständnis reicht eine solche Beschreibung auch vollkommen aus. Dort befindet sich die Wirklichkeit und hier ist ihr Abbild. Bei genauerer Betrachtung wird jedoch deutlich, dass diese Vorstellung auf einer Reihe von Voraussetzungen beruht. Eine Fotografie verliert ihren Charakter als vermeintliche Widerspiegelung von Realität und erweist sich als Ergebnis eines aktiven Gestaltungsprozesses, bei dem sowohl der Fotograf wie auch die ihn prägende Kultur beteiligt sind.
Das mit der Kamera erzeugte Bild ähnelt bei Verwendung einer Normalbrennweite phänomenologisch ungefähr dem menschlichen Blick. Es handelt sich beim Paradigma der Fotografie dennoch nicht um die einzig mögliche Form der Wirklichkeitsdarstellung.
Die Geschichte der Raumvorstellungen von der Antike bis in die Gegenwart zeigt, wie die Welt unterschiedlich gedacht wurde und auf welche Weise das Bildverständnis diesem Denken folgte. Seit die Menschen philosophieren, stellen sie die Frage nach dem Anfang aller Dinge. Die Schöpfungsthematik führt direkt zur Kategorie der Räumlichkeit, zur Frage nach dem Sein und dem Nichts, zur irdischen Endlichkeit und zur schwer fassbaren Vorstellung von Unendlichkeit. Die abendländische Philosophie zeichnete auf dieser Basis bis in das Mittelalter ein klares Bild vom weltlichen Unten und göttlichen Oben. Die Kopernikanische Wende und später die Weltsichten von Newton bis Einstein haben dieses Bild durch neue Wahrheiten abgelöst. Ihnen wurden im Zwanzigsten Jahrhundert durch Wahrnehmungsphysiologie und Phänomenologie sowie den erkenntnistheoretischen Konstruktivismus geisteswissenschaftliche Paradigmen an die Seite gestellt, durch die alte Klarheiten relativiert wurden. Seitdem ist das, was wir Wirklichkeit nennen, unsicher geworden. Diese ist nun pluralen Sichtweisen unterworfen oder semiologisch in Zeichen aufgelöst.
Die Vorstellungen von Räumlichkeit und deren bildliche Darstellung folgen den historischen Epochen des Denkens. Raum ist nichts absolut Definiertes, sondern macht als Begriff nur in seinem kulturellen und historischen Kontext Sinn. War die gotische Kathedrale Symbol eines göttlichen, in die Weiten des Himmels strebenden Raumes, führte die kopernikanische Wende zur Erkundung der Weltmeere und in die Ferne unbekannter Regionen. Kartographen übersetzten das Erfahrene in empirisch begründete Landkarten. Da der Gedanke eines unendlichen Raumes keinen logischen Platz für einen Schöpfergott zuließ und auf den Scheiterhaufen führen konnte, wie das Schicksal Giordano Brunos zeigte, bevorzugten vorsichtige Gemüter gemäßigte Vorstellungen, die gleichermaßen im Kleinen wie im Großen, in der belebten Natur oder, wie bei Descartes und Spinoza, im Denken des Menschen Göttliches (an)erkannten. Letztlich jedoch trug auch dies dazu bei, dass der mittelalterliche Raumbegriff mit seiner Dualität von Unten und Oben durch den konkreten Raum irdischer Ferne abgelöst wurde. Später kamen Traumorte hinzu. Neue Verkehrsmittel und Kommunikationsmedien ließen den seit dem Aufkommen des Fernhandels und der Kolonialisierung immens aufgespannten Raum für breitere Kreise erfahrbar werden. Die offenen Fragen nach der Unendlichkeit wurden zur weiteren Bearbeitung entweder der theoretischen Physik oder der Transzendentalphilosophie übergeben. Oder es blieb der Religion überlassen, alle Erscheinungen, über die kein gesichertes Wissen zu erlangen ist, mit Hilfe von Glaubensgrundsätzen zu deuten.
Im 19. Jahrhundert entwickelte sich mit dem Fotoapparat eine Bildmaschine, die in jeglicher Hinsicht in die neue Zeit passte. Er war im Vergleich zur traditionellen Malerei schnell und für die Schaffung individueller Bildwirklichkeiten bestens geeignet.
Darüber hinaus bestätigte seine Zentralperspektive die Sicherheit des euklidischen Raumes, in dem alles seinen definierten Platz im Kubus der drei linearen Dimensionen fand. Lange galt dieses Modell als identisch mit dem menschlichen Denk- und Wahrnehmungsvermögen. Physik und Physiologie des Sehens bestätigten sich wechselseitig. Im Geleitzug dieser Synchronität konnte sich die Auffassung der Fotografie als eines objektiven Darstellungsmediums entwickeln. Dies war nicht zuletzt möglich, weil ihre Bildergebnisse der seit der Renaissance vertrauten Perspektivkonstruktion mit geraden Fluchtlinien entsprachen. Für Gegenstände im Nahbereich der Wahrnehmung ist dies auch nachvollziehbar. Erst bei größeren Entfernungen treten Unstimmigkeiten zutage. In der Regel fällt das in der Alltagsfotografie aber kaum auf. Lediglich bei Langzeitbelichtungen von Sternenbahnen und bei der Horizontbetrachtung von hohen Standpunkten werden gebogene Geraden sichtbar.
Die Bilder der Erde aus den frühen Apollokapseln oder aus dem Spacelab machen das Problem deutlich. Die Krümmungen des irdischen Seins sind in Gestalt der Weltkugel unmittelbar einsichtig, und dennoch suggeriert das zentralperspektivische Bild der Kamera einen Aufnahmestandpunkt im dreidimensionalen Raum der klassischen Euklidik mit geraden Fluchtlinien. Ausgehend vom Brennpunkt des Objektivs scheinen die Vektoren beim Blick durch den Sucher linear in die Unendlichkeit des Alls zu zielen. Die Erde wirkt wie eine Kugel in einem unendlich ausgedehnten, euklidischen Raum der drei Dimensionen. Und dennoch, trotz des Widerspruchs dieses Eindrucks zur modernen Astrophysik mit ihren gekrümmten Räumen haben wir im Alltag kein Problem, eine Fotografie aus dem Raumschiff zu verstehen. Die Ungereimtheiten im Verhältnis zur theoretischen Physik werden dabei vernachlässigt. Gewünscht sind Sicherheiten.
Bevor die Zentralperspektive in der Renaissance als Gestaltungsmittel entdeckt beziehungsweise erfunden wurde, waren Bilder deutlich anders konzipiert.
Sie wiesen kaum Merkmale räumlicher Darstellungen auf, und die Größe der abgebildeten Objekte und Personen folgte nicht den Gesetzen der Perspektive, sondern der Bedeutung im sozialen Gefüge. Je mächtiger, umso größer, so lässt sich die Grundregel der mittelalterlichen Personendarstellung zusammenfassen. Aber auch schon in der frühen Antike wie in der altägyptischen Kunst war die Darstellung von Figuren und Gegenständen durch Raumlosigkeit geprägt. Die den Körper umgebende Bildfläche diente lediglich als neutraler Hintergrund. Die abgebildeten Figuren und Objekte standen additiv nebeneinander. Es waren symbolische Motive in Form von Archetypen und Charakteristika der Götter oder stilisierte Bildnisse der Herrschenden. Niemand wäre auf den Gedanken gekommen, diese perspektivisch aus dem individuellen Blickwinkel eines Betrachters darzustellen.
Erste realitätsorientierte und gleichsam illusionierende Bilder entstanden in der Blütezeit der römischen Antike. Hiervon zeugen Wandfresken, die aus dem Innenbereich von Villenanlagen einen Blick nach Außen suggerierten. Zwar wiesen diese Darstellungen noch keine konsequente Zentralperspektive auf, aber sie spielten erstmals mit dem Motiv eines Fensterdurchblickes und dem Gedanken der Räumlichkeit. Der Blick des Betrachters richtete sich zunächst auf das gemalte, imaginierte Fenster und dann hinter diesem auf die ebenfalls imaginierte Landschaft. Als Frühformen perspektivischer Malerei lassen sich die Fresken deshalb bezeichnen, weil die Größenverhältnisse der abgebildeten Dinge am gewohnten Blick orientiert waren und ihnen neben der illusionierten Räumlichkeit erstmals die Idee eines realistischen Bildes im heutigen Sinne zugrunde lag. Diese Ansätze zur perspektivischen Bildgestaltung gerieten in den nachfolgenden Jahrhunderten weitgehend in Vergessenheit. Vorherrschend waren im Mittelalter und in nahezu allen traditionellen Kulturen, wie schon zuvor bei den Bildern der frühen Antike, flächig angelegte Werke ohne räumliche Differenzierung der Objekte. Meist wurden die Darstellungen geschaffen, um religiöse Zusammenhänge zu illustrieren, nicht jedoch als Ausdruck der individuellen Sicht eines Menschen. Als Symbolik für das Verhältnis zwischen den seinsbestimmenden Elementen reichte das flächige Bild auch völlig aus. Heute würden wir vielleicht von einem Organigramm des Sozialen sprechen. Das eher übersichtliche Weltbild mit der Erde im Zentrum, von einem Gott überwacht und gesteuert, ließ sich auf diese Weise hinreichend darstellen. Papst oder Kaiser waren im Übrigen meist größer als die übrigen Personen symbolisiert.
Realismus nach heutigem Verständnis wurde von der Darstellung nicht verlangt, denn wo Subjektives nicht gedacht werden konnte, fehlte die dialektische Basis für Objektives. Es galt einzig die religiöse Wahrheit, repräsentiert durch testamentarische Erzählungen und deren Auslegung durch den Klerus. Die Welt mit eigenen Augen sehen oder gar erklären zu wollen, galt als Ketzerei und führte nicht selten auf den Scheiterhaufen. Als Albrecht Dürer dann jedoch begann, mit einer Zeichenmaschine zu experimentierten, indem er durch einen mit Gaze bespannten und mit Hilfsquadraten markierten Rahmen blickte, um das Gesehene auf einen Zeichengrund zu übertragen, war der entscheidende Schritt zur Individualisierung der Sichtweise vollzogen. Die künstlerische Zentralperspektive nahm erstmalig die Funktion des konkreten Auges ein und simulierte ein dreidimensional wirkendes, standortabhängiges Bild. Etwa zeitgleich arbeitete Leonardo da Vinci an der mathematischen Grundlegung der Perspektivlehre und demonstrierte anhand streng geometrisch aufgebauter Bilder deren praktische Wirkung. Während sich zunächst vor allem Architekturansichten als Experimentierfeld der Perspektivkunst und der Raumillusionierung anboten, kam ein neues Verständnis des menschlichen Portraits hinzu. War dieses bis in das Mittelalter hinein überwiegend Symbol für eine Herrscherfigur und hatte nicht viel mit dem wirklichen Aussehen zu tun, so wurde es in der Renaissance konkret und individuell. Klerikale und weltliche Herrscher, insbesondere aber die reich gewordenen Kaufleute in den italienischen und niederländischen Handelsstädten, gaben aufwändige Gemälde in Auftrag, bei denen die klare Erkennbarkeit der eigenen Person eine wichtige Forderung darstellte.
Die Individualisierung des Portraits korrespondierte mit einem Wandel in der Weltsicht des Renaissancemenschen.
Der Begriff der kopernikanischen Wende bringt den Paradigmenwechsel auf den Punkt. Die Erde war jetzt keine Scheibe mehr und hatte ihre Rolle als Mittelpunkt des Kosmos verloren. Erschütterungen des herkömmlichen Denkens blieben nicht aus. Je nach Sichtweise wurde dies als Befreiung oder als verunsichernde Bedrohung wahrgenommen. Die Einführung des Buchdrucks, die Seefahrt auf den Meeren der neu entdeckten Kugel und auch die Infragestellungen des Tradierten durch die Reformation kamen hinzu und trugen zur Zerstörung vormaliger Sicherheiten bei. Die Beherrschung der Perspektivfunktionen hat vor diesem Hintergrund eine Brücke geschlagen zwischen dem Verstand und der empirisch erfahrbaren Welt. Die neuen Erkenntnisse motivierten aber auch zur Weiterentwicklung von Mathematik, Physik und Naturwissenschaft. Man konnte sich jetzt auf den Weg der Erkundung von Naturgesetzen begeben. Die Vermessung der Welt mit Hilfe der Geometrie brachte eine Objektivierung subjektiver Sichtweisen mit sich. Dies bildete nicht nur eine Voraussetzung für moderne Erkenntnistheorien, sondern führte unter Nutzung der neuen Navigationsmöglichkeiten zur Entdeckung von Welten jenseits der bis dahin bekannten Meere.
Für die bildende Kunst bedeuteten die Techniken der Renaissance eine entscheidende Entwicklung gegenüber dem mittelalterlichen Flächenbild. Die Malerei hatte sich mit großer Konsequenz auf den Weg des naturalistischen, räumlichen Darstellungsparadigmas begeben. Nun waren nicht mehr nur die Prinzipien von Figur und Grund entscheidende Bestandteile der Bildkomposition, auch die Raffinessen der Perspektive wie der gewollten Bildtäuschung gelangen immer gekonnter und wirkungsvoller. Das neue Paradigma sollte die bildenden Künste bis zur Erfindung der Fotografie und auch danach dominieren. Gleichzeitig geriet in Vergessenheit, dass die Zentralperspektive eine künstlerische und gesellschaftliche Konvention darstellt. Was wir heute als realistische Wiedergabe verstehen, ist lediglich eine der möglichen Bildformen. Im Rahmen einer zeitlich übergreifenden Kunstgeschichte ohne eurozentrischen Filter stellt die perspektivische Darstellung sogar die Ausnahme dar.
Von der Renaissance bis zur Aufklärung war es noch ein weiterer Schritt, aber die Grundlage für die vollständige Aufhebung des Denkverbotes war mit der Etablierung des perspektivischen Sehens gelegt.
Die philosophische und politische Aufklärung des ausgehenden 18. Jahrhunderts konnte daran anknüpfen und nun auch Freiheiten in anderen Bereichen des Lebens einfordern. Der Begriff der Perspektive verwies mit seiner doppelten Bedeutung darauf, dass es nicht nur um die visuelle Wahrnehmung von einem definierten Standpunkt aus ging, sondern im übertragenen Sinne auch um eine normative Dimension, nach der alle Dinge und Angelegenheiten auf unterschiedliche Weise betrachtet werden können. Die Welt vor der Renaissance, voller Gewissheiten und eindeutiger Sichtweisen, war verloren gegangen. Spätestens mit der Aufklärung wurde dies bewusst, und die Erfindung der Fotografie einige Jahrzehnte später passte gut in die neue Welt des befreiten Individuums. Die mit der Kamera geschaffenen Bilder waren, allein technisch bedingt, von einem Standpunkt aus aufgenommen und trugen so alle Eigenschaften des Subjektiven in sich. Es war nun prinzipiell möglich, den eigenen Blick auf die Welt in Form einer Fotografie auch anderen mitzuteilen. Und dennoch galt die Fotografie von Anbeginn an als ein objektives Medium. Ein Widerspruch?
Die Zuspitzung des relativistischen Denkens führte zum Verdacht, alle Sichtweisen seien gleichberechtigt und es könne deshalb keinen absoluten Anspruch auf Wahrheitsaussagen geben. Die Folge ist ein erhöhter Integrationsbedarf der Gesellschaft, um deren Auseinanderbrechen zu verhindern. Wenn jeder auf eigenen Wahrheiten beharrt, wird Zusammenleben unmöglich. Die multiperspektivische Gesellschaft erfordert Empathiefähigkeit und Toleranz, um auch andere Sichtweisen anerkennen zu können. Aber einen privilegierten Beobachter gibt es nicht mehr. Es handelt sich, mit Niklas Luhmann, um eine veraltete Mentalität zu meinen, der eigene Weltzugang besitze ein Vorrecht gegenüber anderen. Aber genau deshalb benötigt die moderne, differenzierte Gesellschaft zur Vermeidung eines Auseinanderbrechens einen Mindestvorrat an gemeinsam getragenen Normen, Symbolen und Zeichen. Hier nun betritt die Fotografie die Bühne. Nicht nur William Henry Fox Talbot schrieb ihr als Pencil of Nature die Fähigkeit zur objektiven Sicht auf die Dinge zu. Obwohl die neue Welt durch eine Diversität von Sichtweisen gekennzeichnet ist, so die Vorstellung von Fotografen in der Tradition Talbots, ließe sich mit Hilfe der Kamera ein unzweifelhaftes Bild fixieren. Der Fotoapparat wurde zum Hilfsmittel der Dokumentation dessen, was ist. So die Vorstellung. Es handelt sich bei dieser projektiven Idee um eine unmittelbare Folge des seit der Aufklärung erfahrenen Verlustes an Sicherheit in einer unübersichtlich gewordenen Welt. Und sie ist Ausdruck der modernen Technikfaszination.
Die Malerei nahm im ausgehenden 19. Jahrhundert erfreut zur Kenntnis , dass alle Fragen hinsichtlich des Verhältnisses von Wirklichkeit und Abbild auf die Fotografie übergeleitet waren.
Der Maler konnte nun, losgelöst vom Realismusdiktat, alles auf die Leinwand bringen, was seine Phantasie hervorbrachte. Ein Wirklichkeitsbezug war überflüssig geworden. Mit diesem konnte sich fortan die Fotografie rumplagen. Aber dennoch, der maßgebliche Unterschied beider Bildformen besteht nicht, wie oft behauptet wird, in der größeren Fähigkeit der Fotografie zur realistischen Detaildarstellung, sondern in ihrer technisch bedingten Gebundenheit an die Zentralperspektive. Von dieser hat sich die Malerei im Zwanzigsten Jahrhundert nach fünfhundert Jahren wieder befreit. Sie kann sich nun ganz entspannt und abstrakt der Fläche der Leinwand widmen, während von der Fotografie eine realitätsadäquate Darstellung des Raumes erwartet wird.
Dass sich die Fotografie nach dem aufoktroyierten Realismusdogma mit der Ontologiefrage konfrontiert sah, ist eine logische Begleiterscheinung. Dies hat auch mit dem Wandel erkenntnistheoretischer Paradigmen zu tun. Spätestens mit dem Strukturalismus und der Postmoderne wurden in der Tradition von Platon, Kant und Nietzsche nicht nur die Wirklichkeit an sich hinterfragt, sondern auch der Charakter des fotografischen Bildes. Man muss aber gar nicht zu radikalkonstruktivistischen Positionen neigen, um zu erkennen, dass die Zuschreibung von Objektivität als Wesen des Kamerabildes eine kulturell bedingte Konvention darstellt, die in der monokularen Technik des Fotoapparates eine wertfreie Bestätigung zu finden scheint. Dies allein ist als Erklärung jedoch nicht ausreichend. Perspektivischer Renaissanceblick, individualisierende Aufklärung und Fotoapparat haben ideell zusammengefunden. Von zeitloser Gültigkeit ist das gegenwärtig vorherrschende Bildparadigma mit seiner kameraspezifischen Art der Umwandlung von Raum in Fläche jedoch nicht. Künftige Techniken, die sich heute noch gar nicht beschreiben lassen, werden eines Tages auch dreidimensionale, statische Abbilder ermöglichen. Spätestens dann wird die Wirklichkeitswidergabe des fotografischen Flächenbildes in ihrer einzigartig erscheinenden Bedeutung relativiert sein.
Wesentliches Merkmal des naturalistischen Dogmas ist die Genauigkeit des Bildes. Das Streben nach dem scharfen Bild kann aber auch Formen annehmen, die nicht frei sind von neurotischen Zügen.
So wie der Zwangscharakter ständig sicher sein will, nicht von Unordnung oder Unreinheit bedroht zu werden, fürchtet der Schärfesüchtige die Welt der Unschärfe. In der Fotografie hat die Präzision der Abbildung einen magischen Charakter. In nahezu allen Produktbewertungen von Kameras und Objektiven wird die Schärfe an vorderster Stelle genannt? In Zeiten der Digitalfotografie ist die Verabsolutierung schwieriger geworden, da der Schärfeeindruck durch die kamerainterne Software beeinflusst wird. Ungeachtet dessen ist das Dogma weiterhin wirksam.
Mitunter drückt sich die Bewunderung einer Fotografie in der Bemerkung aus, diese habe eine makellose Schärfe bis in die Ecken. Nach dem Kauf einer Kamera oder eines neuen Objektivs werden ganze Serien aufgenommen, um die Leistungsfähigkeit der Neuerwerbung zu beweisen. Es soll Fotografen geben, die nichts anderes als solche Bilder produzieren. Gleichwohl werden die Kamera oder das Objektiv nach einer gewissen Zeit durch eine noch bessere Version ausgetauscht. Der Blick in die Testberichte verschafft nur dann Befriedigung, wenn das eigene Equipment in der Spitzengruppe zu finden ist. Leitend ist die fixe Idee, eine gute Fotografie verlange maximale Auflösung und Schärfe. Unschärfe wird als Makel empfunden. Der Zwangscharakter mag das nicht.
Im fotografischen Alltag lassen sich vier logisch mögliche Beziehungen zwischen der Schärfe eines Bildes und dessen Attraktivität unterscheiden.
Dabei ist nicht von gezielt eingesetzten partiellen Unschärfen die Rede, sondern vom allgemeinen Schärfeeindruck einer Aufnahme. Zunächst gibt es das scharfe Bild, das als schön wahrgenommen wird. Schön wird hier ausschließlich als eine subjektive Kategorie verstanden, die allerdings meist kulturell determiniert und am Ende deshalb gar nicht so individuell ist. Zweitens begegnet man scharfen Fotografien, die als unattraktiv empfunden werden. Ebenso können, drittens, unscharfe Bilder als unschön gelten, und viertens schließlich gibt es interessante Unschärfen.
Scharf und schön kann das Abbild eines Bratens sein, der das Wasser im Munde zusammenlaufen lässt. Wir befinden uns im klassischen Feld der Werbung beziehungsweise einer Form von Fotografie, der es um die exakte Wiedergabe geht. Oder es handelt sich um ein Genre wie etwa die Landschaftsfotografie, die einen gewissen Detailreichtum verlangt. Das Idealbild des Zwangscharakters ist oftmals in dieser Kategorie des Schönen und Scharfen angesiedelt.
Scharf und unschön kann der gleiche Braten sein, wenn die Fotografie zwei Wochen später aufgenommen wurde und durch ihre Genauigkeit Details zeigt, die man bei verdorbenen Lebensmitteln eher nicht sehen möchte. Vergleichbares gilt für hyperscharfe Portraitbilder, die jeden Pickel in analytischer Exaktheit festhalten. Darüber hinaus gibt es eine Menge knackscharfer Bilder, die einfach nur langweilig sind.
Unscharf und meist uninteressant sind Knipsbilder, die keine gestalterischen Ambitionen erkennen lassen. Man kann ihnen nicht viel abgewinnen, auch wenn das eine oder andere als kulturelles Zeugnis einer Epoche der Beliebigkeit überdauern sollte. Wirklich unscharfe Bilder sind aufgrund der ausgefeilten Kameraautomatiken sowie der großen Schärfentiefe bei Verwendung kleiner Sensoren, wie im Smartphone, allerdings selten geworden.
Einen gegensätzlichen Charakter weisen unscharfe und dennoch interessante Fotografien auf. Solche Bilder können Dynamik zum Ausdruck bringen, wenn etwa die Kamera während der Aufnahme mitgezogen wurde. Oder es handelt sich um Reportagefotos aus dem wilden Getümmel, denen durch Unschärfe die Authentizität harter Realität verliehen wird. Das D-Day-Foto von Robert Capa gehört in diese Kategorie.
Natürlich ist es von Vorteil, bei Bedarf die Potentiale der Technik ausreizen und scharf fotografieren zu können. Für gigantische Werbeplakate ist eine Kamera mit großem Sensor genau das Richtige. Und auch ein rumlungernder Löwe wirkt meist beeindruckender, wenn das kleinste Haar der Mähne klar zu erkennen ist und nicht im Diffusen verrauscht. Für die Sportfotografie gilt Ähnliches. Bei einem beträchtlichen Teil der Alltagsfotografie werden mit dem Schärfedogma hingegen eher die merkantilen Verkaufsstrategien der Produkthersteller bedient. Dabei gab es in der Geschichte der Fotografie noch nie so viel Schärfe und Auflösung wie heute. Die durchschnittliche digitale Amateurkamera mit ihren softwarebasierten Objektivkorrekturen ist selbst den ehemals teuren professionellen Vorgängerinnen analoger Zeiten überlegen. Im Übrigen beweist sich bei diesen Maschinen das szientistische Paradigma der realistischen Fotografie. Ein Bild soll demnach die Wirklichkeit, so wie sie ist, möglichst penibel abbilden. Dass dies ein Dogma ist, mit dem die Fotografie von Beginn ihrer Geschichte an aufgeladen wurde, ist hinreichend bekannt. Vielleicht liegt gerade deshalb der Charme vieler alter Bilder in ihrer kornverrauschten relativen Unschärfe, die sich dem positivistischen Genauigkeitsstreben widersetzt. Die Wiederentdeckung der analogen Fotografie hat auch damit zu tun. Die brutale Schärfe der digitalen Fototechnik ist nicht selten unerwünscht oder gar vollkommen sinnlos.
Bildschärfe wird meist mit Eigenschaften wie Klarheit, Eindeutigkeit, Prägnanz und Wertigkeit assoziiert. Ist die angestrebte Knackigkeit nicht erreicht, muss nachgeholfen werden.
Schon in Zeiten der Analogfotografie gingen die Fotolabore dazu über, beim Print die Ausbelichtung der Negative ungefragt zu beeinflussen. Ausgehend von der durchschnittlichen Erwartungshaltung an ein schönes Bild passte man Farbe, Helligkeit und Kontrast entsprechend an. Zusätzlich forciert wurde die automatische Bildbearbeitung durch die Digitalfotografie, deren zunächst noch begrenzte Qualität einem kräftigen Tuning unterzogen wurde. Für das Massengeschäft unterstellte man auch hier, dass typische Urlaubs- und Erinnerungsbilder nicht über ein bestimmtes Format hinaus geordert werden, so dass mit digitaler Kontrastanhebung und Farbintensivierung ein gefälliges, scharf erscheinendes Bild produziert wurde. Die intelligenten Optimierungsprogramme der Großlabore konnten auf eine große Menge an analysierten Digitaldateien zurückgreifen, um die Bearbeitung sogar motivabhängig vorzunehmen. Das Ergebnis waren künstlich optimierte Bilder, denen beim genauen Hinsehen allerdings eine gewisse langweilige Gleichartigkeit anzusehen ist. Ähnliche Gefahren drohen bei der Bildbearbeitung am heimischen Computer. Das Ziel, auch noch den letzten Ast des Baumes in der Ecke des Bildes scharf abbilden zu wollen, kann fatal enden. Das Ergebnis sind digital ruinierte Fotografien, die nur bei geringen Formaten die entstandenen Artefakte verbergen. Der Schärfefanatismus hat in die Welt digitaler Zombis geführt.
Modeströmungen ziehen meist gegenläufige Tendenzen nach sich, und so gibt es eine Reihe von Abwehrreaktionen auf den Schärfewahn. Die Antiperfektionisten setzen auf das spontan Entstandene, Unfertige, gerne auch schmuddelig Unscharfe, dem eine besondere Aura des Authentischen zugeschrieben wird. Gehörten Weichzeichnervorsätze noch in die alte Welt der analogen Fotografie, so gibt es heute einen Trend zu einfachsten Plastiklinsen mit eingebauter Unschärfe, lomografische Retrokisten, Holgas, Polaroidnachbauten mit möglichst schrägen Farben und eine Handyfotografie mit Spontansoftware, die das Bild in jeglicher Hinsicht künstlich alt aussehen lässt. Das alles kann Spaß machen und darf es auch. Wie beim Schärfewahn macht es jedoch Sinn, sich des Trendigen bewusst zu werden. Es haftet ihm, wie dem Analogrevival, ein Stück Revolte gegen die sterile Digitalfotografie an. Ist das geklärt, gewinnt man die Freiheit, die Gimmicks anzuwenden oder auch nicht.
Der eingefrorene Moment der Wirklichkeit, den wir Fotografie nennen, ist im Fließen der Zeit eine so flüchtige Angelegenheit, dass wir ihn in der Regel nicht exakt wahrnehmen können.
Dazu geht alles viel zu schnell, jedenfalls dann, wenn es sich um bewegte Objekte handelt. Und selbst bei einer Portraitsitzung ist die Mimik in ständiger Veränderung. Details sind in der Regel erst bei der Monitordarstellung oder der Printvergrößerung erkennbar. Darüber hinaus hat eine Fotografie neben ihrer Eigenschaft als rasierklingenscharfer Ausschnitt aus der in Realzeit sich permanent verändernden Wirklichkeit den Charakter eines Warenhausangebotes. Der Betrachter kann entscheiden, auf welche Details er den Blick richtet und wie lange er ihn aufrechterhalten möchte. Je großformatiger und kleinteiliger die Fotografie, umso größer das Informationsangebot, aber eben auch die Notwendigkeit des Betrachters, die Struktur des Bildes zu entschlüsseln. Unschärfe als Mittel der Bildgestaltung kann dabei eine unterstützende Funktion einnehmen. In der Regel ist sie selektiv verteilt und trägt auf diese Weise zur Lenkung der Aufmerksamkeit bei. Sie hebt Inhalte voneinander ab, trägt zur Reduktion von Komplexität bei und fördert die Verstehbarkeit des Bildes. Starke Unschärfen können spannungssteigernd wirken, indem sie der Phantasie des Betrachters Raum geben. Aber selbst hier gilt, dass zunächst immer die eindeutigen Bildelemente erfasst werden, bevor sich die Gedanken auf das Unscharfe oder Geheimnisvolle richten.
Selektive Unschärfe als Gestaltungsmittel wird durch die Wahl einer großen Objektivblende erreicht, um so einen Gegenstand freizustellen und von seiner Umgebung abzusetzen. In der Gestaltpsychologie wird dies als Differenzierung von Figur und Grund bezeichnet. Die Wahrnehmung tendiert dazu, aus der unübersichtlichen Menge aufgenommener Signalreize ordnende Strukturen und Muster zu bilden. Unscharfe Bildbereiche als Grund fördern so die Konzentration auf das scharfe Hauptmotiv, die Figur. Die Komplexität der bildlichen Informationsreize wird reduziert und in eine verstehbare Ordnung überführt.
Die Fotografien von Ansel Adams sind Beispiele einer gegensätzlichen Gestaltungsstrategie. Wegen der ausgefeilten Aufnahmetechnik und aufgrund des Detailreichtums seiner Bilder zählt er zu den prägenden Fotografen des Zwanzigsten Jahrhunderts. Seine Bilder müssen präzise analysiert werden, um das entscheidende Detail in der Menge der Einzelheiten zu entdecken. So weisen die Schwarzweißaufnahmen aus dem Yosemite Nationalpark eine so ausgeprägte Feinzeichnung auf, dass der Betrachter eine aktive Strukturierungsleistung vollziehen muss, um alle Informationen zu erfassen. Und dann entdeckt man plötzlich das Pferd, das auf dem großformatigen Bild das entscheidende Detail ausmacht. Weil die durchgängige Schärfe eine Differenzierung in Figur und Grund sowie das Spiel mit dem Undeutlichen ausschließt, rücken andere Gestaltungmittel in den Vordergrund. Die Verwendung von Filtern zur Helligkeitsabsenkung des Himmels, partielle Nachbelichtungen einzelner Bildmotive oder deren gezielte Unterbelichtung bei der Vergrößerung waren solche Hilfsmittel. Unschärfen gehörten für Adams aber explizit nicht dazu, und so zählte er zu den Begründern der Gruppe f/64, die programmatisch die kleine Blende mit der großen Tiefenschärfe zum Paradigma erhob.
Ansel Adams hat das Konzept der umfassenden Detailschärfe technisch gekonnt und mit großer Konsequenz realisiert. Wird die vollständige Schärfe hingegen nicht als Gestaltungsmittel eingesetzt, sondern unreflektiert als Folge eines diffusen Perfektionsdranges, wird man durch die unsinnige Komplexität einer Fotografie gelegentlich überfordert oder auch gelangweilt. Natürlich hängt dies vom Bildinhalt ab, und es gibt Fotografien mit klarem Zentralmotiv und durchdachter Gestaltung, die trotz durchgängiger Schärfe einen überzeugenden Sinn ergeben. Aufnahmen mit einer Unmenge an Details verlangen dennoch einen erheblichen Analyseaufwand. Soll eine solche Fotografie richtig verstanden werden, müssen alle Bildfelder visuell durchwandert werden. Die großformatigen Fotografien eines Andreas Gursky etwa erscheinen auf den ersten Blick wie hyperrealistische Abbildungen durchstrukturierter Motive, deren vollständige Schärfe eine dokumentarische Qualität suggeriert. Bei genauerem Hinsehen baut sich jedoch nach und nach eine schleichende Verunsicherung auf, bis schließlich die Schlussfolgerung gezogen wird, dass mit der Fotografie etwas nicht stimmen kann. Und dann erkennt man die geschickt vorgenommenen digitalen Montagen, aus denen sich das Bild als künstliche Realität zusammensetzt. Die dokumentarische Schärfe dient somit der Verschleierung des eigentlichen Charakters der Aufnahme. Realität, Hyperrealität, Irrealität – Gurskys Verwirrungsspiel trägt dazu bei, den kritischen Blick auf das fotografische Bild zu fördern, gerade weil durch die extreme Schärfe eine falsche Fährte gelegt ist.
Sowohl bei der Schärfe wie auch bei der Unschärfe handelt es sich um Gestaltungsmittel, die sich gezielt einsetzen lassen. Keine von beiden ist per se ein bestimmendes oder gar natürliches Merkmal der Fotografie.
Schärfe und Unschärfe sind prinzipiell gleichberechtigt, ja, sie bedingen sich wechselseitig. Abgesehen davon, dass es sich nicht um absolute, sondern um relative Kategorien handelt, sind sie voneinander abhängig. Gäbe es keine Unschärfe, würde der Begriff Schärfe sinnlos werden. Umgekehrt gilt das Gleiche. Wenn alltagspraktisch dennoch das Schärfedogma die größere Bedeutung aufweist, ist dies dem technizistischen Denken geschuldet und letztlich eine kulturelle Konvention, die sich aus dem Perspektivverständnis der Renaissance ableitet. Ein überzogener Schärfefanatismus, der nicht, wie bei Adams oder Gursky, als bewusst eingesetztes Stilmittel dient, weist allerdings nicht selten Elemente eines Overkills auf.