In der Ferne
Reisen ist eine ambivalente Angelegenheit. Das Erleben neuer Kulturen, aber auch das Entdecken des Fremden in sich selbst weist als Bestandteil des bildungsbürgerlichen Auftrags nach der Sinnsuche Licht- und Schattenseiten auf. Die Konfrontation mit dem Unbekannten erweitert den Horizont und relativiert eingeprägte, kulturell gebundene Sichtweisen. Man lernt Menschen kennen, schreibt ein Reisetagebuch und geht auf fotografische Entdeckungstour. Wir erwandern eine neue Stadt oder Landschaft, bis nach und nach eine innere Orientierungskarte entsteht. Hin und wieder muss man damit rechnen, einen Plan über Bord zu werfen, weil etwas dazwischenkommt. Irgendwann sind wir dann ein wenig heimisch geworden und begreifen den Wachstumsprozess als Ergebnis der Auseinandersetzung zwischen unserem Selbst und dem Fremden.
Neben der Innenweltreise oder Sinnsuche gibt es die Abenteuerlust als Ausbruch aus der alltäglichen Zivilisation, der man überdrüssig geworden ist. Dies kann in die Wüste, den Dschungel oder in die Berge führen. Das Zielpaket ist bei Bedarf auch fix und fertig buchbar. Man findet das andere, sonst nicht gelebte Leben in der All-inclusive-Anlage mit Schutzzaun und freiem Konsum einer Welt voller Cocktails und Buffets, gelegentlich auch der sexuellen Befriedigung. Der geografische Ort des Aufenthalts stellt sich als zweitrangig oder beliebig dar, nur warm soll es sein. Die Motive von Freiheit und Ausbruch stehen im Vordergrund, selbst wenn sich die Freiheit durch ein Bändchen am Armgelenk und der Ausbruch durch den Verzicht auf eine Uhr manifestieren.
Hinter der Erfahrungssuche und dem kontrollierten Abenteuer schlummert Bedrohliches. Mehr oder weniger explizit wird die gefährliche, zweite Seite des Reisens erahnt. Schon das Reisefieber als Mischung aus Phantasie und Furcht bringt die Ambivalenz an die Oberfläche. Wenn der Aufbruch naht, steigen Ängste auf vor möglichen Unglücken und gefährlichen Vorfällen. Die Mitnahme der Kamera als schamanisches Werkzeug kann helfen, diese Dämonen zu bannen. Aber wie jedes Zaubermittel muss es überlegt eingesetzt werden, um unliebsame Nebenwirkungen zu vermeiden. Und die Begegnung mit einer fremden Kultur ist stets eine Herausforderung. Mit zunehmender Distanz zur vertrauten Lebenswelt stellen sich Fragen des Verstehens der Bräuche, Riten und Kommunikationsformen. Und damit auch zum Fotografieren. Dabei sind Vorurteile eine hartnäckige Angelegenheit.
Unternehmen wir eine Reise in ferne Regionen, werden wir mit Situationen konfrontiert, für die keine eingeübten Deutungsmuster zur Verfügung stehen. Die Konstellation eröffnet Raum für Projektionen. Unbewusst Begehrtes gehört ebenso dazu wie Bedrohliches. Aus ihnen können sich Zuschreibungen entwickeln. Wir erwarten dann sicherheitshalber von der fremden Welt, dass sie so ist, wie wir sie uns vorstellen. Ist dieser Schritt vollzogen, folgen Mechanismen der selektiven Wahrnehmung. Wir registrieren und fotografieren vorzugsweise solche Dinge, die den Zuschreibungen entsprechen. Die Kamera wirkt dann wie ein Verstärker. Das Bild wird zum Beweis für die Richtigkeit des schon immer Vermuteten.
Indem Bekanntes gesucht, entdeckt und festgehalten wird, fördert das Fotografieren die Schaffung von Sicherheit. Man sieht Erwartetes oder Vertrautes und blendet fremdartige Aspekte aus. Die Reizüberflutung wird kanalisiert, indem die Komplexität des Gesehenen auf vorhandene Schemata reduziert wird. So zeugen gleiche Verkehrsschilder und Automodelle, gleiche Warenangebote im Supermarkt und gleiche Motive auf den Werbeplakaten in beruhigender Weise von der Welt als einem Dorf, in dem wir uns ohne Verwirrung zurechtfinden. Internationale Hotelketten berücksichtigen dieses Sicherheitsbedürfnis und sorgen dafür, dass in Sydney, Toronto und Düsseldorf die Zimmerausstattung, die Beschilderung und die Organisation nahezu identisch sind. Gleiches gilt für Flughäfen. Überall ähnliche Abläufe und Informationstafeln. In welcher Stadt sind wir heute? Egal, wir wissen, wo es langgeht.
Fotografieren an fernen Orten folgt allzu schnell der Logik des Vertrauten. Auch die geläufigen touristischen Motive dienen dem Wiedererkennen und der Orientierung. Wer dem Heldendenkmal aus dem Reiseführer gegenübersteht, weiß genau, wo er sich befindet, und braucht keine Furcht vor einem Verlust der Koordinaten zu haben. Solange die Umgebung neu ist, stehen noch Orientierungsaspekte im Vordergrund. Wird man aber mehr und mehr mit den Dingen vertraut, richtet sich der Blick entspannter auf Neues und auf überraschende Perspektiven. Sicherheit durch Gewöhnung entfaltet dann eine befreiende Wirkung, gerade weil man sie nicht mehr um jeden Preis benötigt. Einiges spricht dafür, in einer neuen Umgebung erst nach einer gewissen Akklimatisationszeit die Kamera aus der Tasche zu holen und nicht gleich zu Beginn der Reise.
Einige Vielgereiste kennen alle Gegenden dieser Welt, erwecken jedoch den Eindruck, als seien sie vom Fremden in keiner Weise berührt. Andere hingegen haben nur wenig gesehen, aber diese neuen Eindrücke reichen aus, um starke innere Prozesse auszulösen. Die Offenheit für Fremdes, so der Philosoph Alain de Botton, steigt mit der bewussten Reflexion, was man wirklich kennenlernen möchte, an. Das Wissen um die eigenen Bedürfnisse wird dann wichtiger als die Orientierung an den angesagten Trends, wohin man reisen und was man sehen sollte. Das gilt auch für den Bildungsreisenden, der stets Gefahr läuft, nur die vom Ratgeber gelisteten Sehenswürdigkeiten aufzusuchen, weil man dort einfach gewesen sein muss.
Aufgrund der Medienbilder dieser Welt und eines oftmals oberflächlichen Wissens über fremde Länder wird die unvoreingenommene Reise jedoch immer unwahrscheinlicher. Um dem zu entgehen, sucht der wirklich Interessierte die kritische Reflexion der eigenen Vorabbilder. Diese können durch neue Eindrücke zwar vielleicht nicht infrage gestellt, aber doch ergänzt und relativiert werden. In besonderer Weise wirken Vorurteile beim Besuch der Hotspots dieser Welt, die erst bei genauerer Betrachtung auch ihre andere Seite zeigen. Die dort heimischen Menschen erleben das Paradies oftmals als Region mit härteren Alltagsproblemen, als es sie im Land des zugereisten Touristen gibt. Wer nach ausgiebigem Frühstücksbuffet vom Hotel zum nahegelegenen Strand der exotischen Ferieninsel schlendert, vorbei an darbietenden Menschen mit allerlei Kunsthandwerklichem, der bekommt davon allerdings so gut wie nichts mit.
Fotografieren kann zum strukturierten Umgang mit dem Unbekannten beitragen. Wird dieser Prozess bewusst vollzogen, ergibt sich die Chance zur offenen Begegnung. Beim entspannten und aufmerksamen Fotografieren werden dann nicht nur Touristenmotive entdeckt. Auch Überraschendes wird möglich. Man erschließt sich Unbekanntes, indem man es als solches überhaupt erst einmal wahrnimmt, anstatt es zu übersehen oder zu verdrängen.
Die umgangssprachliche Begrifflichkeit, sich ein Bild von etwas zu machen, beschreibt diesen Vorgang recht genau. Es ist ein Unterschied, ob der Auslöser der Kamera reflexartig betätigt wird, um interessant Erscheinendes festzuhalten und dieses als exotische Trophäe nach Hause zu bringen, oder ob man sich der Mühe unterzieht, dieses auch zu begreifen. Das erst nach dem zweiten Blick gemachte Bild wird sich mitunter vom spontan entstandenen unterscheiden. Jede ambitionierte Fotografie setzt an dieser Differenz an. To make a picture ist etwas anderes als to take a picture. Dies gilt auf Reisen in Afrika genauso wie in New York oder sonstwo, fernab vom heimischen Biotop.
Beim vorstehenden Text handelt es sich um überarbeitete Auszüge aus dem fotosinn Essay Das Fremde und die Moral.