Van Eyck und die Lust am Detail

Bei vielen Fotografien von Ansel Adams bis zu Andreas Gursky stellt die Detailbetonung ein wichtiges Merkmal dar. Ob unter Einsatz analoger Großformatkameras oder mit Hilfe digitaler Montagetechniken entstanden, beide Ergebnisse fordern vom Betrachter ein aufmerksames Abtasten der gesamten Oberfläche. Soll das Bild mit Sinn versehen werden, muss man die Details aufsuchen. Aber auch bei der alltäglichen Fotografie, egal ob professionell oder im freien Spiel, kommt der Bildgenauigkeit nicht selten eine paradigmatisch aufgeladene Bedeutung zu. Dabei bedarf es heutzutage lediglich ein wenig Sorgfalt und technischer Kamerabeherrschung, um detailreiche Bilder zu schaffen. Langjähriges Üben ist nicht mehr erforderlich. Wir Fotografierende sind deshalb kleine Geister, wenn wir uns mit der Malerei eines van Eyck vergleichen.

Eine Ausstellung zur Detailkunst des niederländischen Großmeisters alter Schule zeigt gegenwärtig die Gemäldegalerie in Berlin. Jan van Eyck, geboren 1390, gilt aufgrund seiner diffizilen Technik als Genie der naturalistischen Malerei. Selbst bei kleineren Bildformaten zeigt die Vergrößerung von Ausschnitten einen Detailreichtum, wie er nach ihm in der Malerei nur selten wieder erreicht wurde. Die Ausstellung trägt den programmatischen Titel Zoom auf van Eyck. Meisterwerke im Detail und ermöglicht mit Hilfe interaktiver digitaler Präsentationstechniken einen gezielten Blick auf die Feinstrukturen ausgewählter Gemälde van Eycks. Seine Maltechnik ist faszinierend. Mit jedem Zoomschritt wächst das Erstaunen. Die Ausstellung kann noch bis zum 3. März 2024 in der Gemäldegalerie am Berliner Kulturforum besucht werden.

Zurück zur Fotografie. Woher kommt die Besessenheit vom scharfen, detailreichen Bild? Will man die Welt erfahrbar machen, indem man sie in eine Fotografie bannt? Ein möglicher Grund: Weil das Verstehen des Großen und Ganzen aufgrund seiner Unübersichtlichkeit kaum mehr leistbar ist, bietet der Blick auf die kleinen Strukturen ein wenig Sicherheit. Die ungefährliche Komplexität im Kleinen kompensiert die überfordernde Komplexität im Großen. Aber das sind spekulative Überlegungen, die bestenfalls als feuilletonistische Anregung geeignet sind.

Oder soll, ganz anders gedacht, mit großformatigen, detailreichen Fotografien gezeigt werden, dass es die Kamera noch viel besser kann als ein van Eyck? Eine solche Beweisführung fiele nicht schwer, jedenfalls dann nicht, wenn die physikalisch messbare Auflösung, also die Menge der Informationen pro definierte Einheit, zum Maßstab genommen wird. Das Kriterium der subjektiven Wirkung und die Aura des Bildes blieben dabei allerdings unberücksichtigt. Die Ergebnisse wären eindeutig: Die analoge Fotografie mit Großformatkamera, einem geeigneten Film und gekonnter Ausarbeitung in der Dunkelkammer schlägt das gemalte Bild eines van Eyck. Aber die digitale Fotografie setzt noch ein paar PS mehr ein und schlägt das analoge Kamerabild. Der heutigen Technik gebührt bei einer solchen Betrachtung somit die Krone, denn sie folgt perfekt der Zielsetzung, mit der die Fotografie im 19. Jahrhundert angetreten war, nämlich genauer und schneller zu sein als das Leinwandbild.

Dass es bei den ersten Auftritten der Fotografie zunächst zu einem Konkurrenzverhältnis mit der Malerei kam, erwies sich als eine Übergangserscheinung. Piktoralistische Fotografen bemühten sich, ihre Bilder wie Gemälde aussehen zu lassen, und umgekehrt verspotteten die Maler ihre neue Konkurrenz mit Hinweis auf die zunächst noch bescheidene Wirkung. Bald jedoch fanden sie, die Maler, Gefallen an dem Gedanken, sich nun vom Imperativ der naturalistischen Darstellung verabschieden zu können, dies übernahm fortan die Fotografie, und widmeten sich stattdessen dem Expressiven, Wilden, Abstrakten. Die Malerei war von den alten Zwängen befreit. Auf der anderen Seite erkannte die Fotografie den Piktoralismus bald als Irrweg und wandte sich in den 1920er Jahren dem Paradigma des Neuen Sehens zu. Weichzeichner und Ölbromdruck verschwanden, gefragt war nun das technizistisch anmutende, klare Bild. Mit der Verbreitung der schnellen Kleinbildkamera und der spontanen Alltagsfotografie kamen dann zwar Bewegung und damit auch Unschärfe in das Bild. Dies änderte jedoch nichts daran, dass seit vielen Jahren in den allermeisten Produktwerbungen der Fotoindustrie vor allem die Fähigkeit zur Detailauflösung von Kamera bzw. Sensor sowie der eingesetzten Objektive beworben wird.

Heute wirkt die durch und durch bis in die Ecken konturenscharfe Fotografie allerdings schnell ein wenig langweilig. Die digitale Fotografie hat den Detailimperativ an seine Attraktivitätsgrenzen geführt. Dialektik eben. Allzu viele Details wollen wir oftmals gar nicht sehen. Die digitale Höchstauflösung hat zu einer Überkomplexität geführt, die häufig eher steril und unangenehm wirkt, als dass die phänomenologisch gebotene Informationsmenge eine wirkliche Wertschätzung erfährt. Das Revival analoger Techniken ist ein Symptom für dieses Unbehagen. Anders mag sich das für Pixel Peeper und Schärfefetischisten darstellen, die sich am liebsten mit Testbildern und Laborwerten befassen. Aber um die geht es hier nicht. Auch nicht um Fotografien, die bestimmten dokumentarischen, etwa wissenschaftlichen Zwecken dienen.

Die Bilder van Eycks können für die heutige Fotografie so etwas wie ein Vorbild sein. Detailreich bis ins Kleinste, aber frei von allen unangenehmen Überschärfen, die im Bereich der Fotografie schon so viele Bilder ruiniert haben. Selbst wenn wir im Vergleich zur Kunst eines van Eyck mit unseren schnellen Kameras immer kleine Geister bleiben werden.

Einige der hier angesprochenen Aspekte werden auch in den fotosinn Essays Befreiung von der Malerei und Der Raum, die Fläche und das scharfe Detail aufgegriffen.

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