Plapperei im Kunstbetrieb

Was unter guter oder gar künstlerischer Fotografie verstanden wird, unterliegt Schwankungen und Entwicklungen. Vieles von dem, was heute als ansprechend betrachtet wird, ist morgen, vielleicht auch erst übermorgen, nichts weiter als Schnee von gestern. Bestenfalls werden die Dinge in der Abteilung Fotografiegeschichte abgelegt. Ist dieser volatile Mechanismus erkannt, öffnet sich der Weg zum befreiten Fotografieren. Hier liegt der grundlegende Unterschied etwa zum Wissenschaftssystem. Um dort anerkannt zu werden, hat man dessen Regeln zur Hypothesenbildung und ihrer Prüfung zu folgen. Ganz anders in der Kunst einschließlich der Fotografie.

Anything goes. Gehorsam gegenüber irgendwelchen ästhetischen Normen wird nicht verlangt. Gleichwohl schließt es – umgekehrt - die Freiheit ein, sich an aktuellen Geschmacksmoden und Motiven zu orientieren. Die Sozialen Medien lassen grüßen. Wer auf Klicks und Likes erpicht ist, sollte dem Mainstream folgen. Katzenbilder gehen immer.

Nietzsche hatte schon vor Freud herausgearbeitet, dass Vorlieben und Meinungen von unbewussten Affekten gesteuert werden. Dabei geht es nicht zuletzt um soziale Anerkennung. Unabhängig davon lässt sich für vieles, was als schön oder gut beurteilt wird, eine rational wirkende Begründung finden, selbst wenn diese gequält oder konstruiert erscheint. Häufig spürt man das dünne Eis und ahnt, dass die Erklärungen nur eine halbe Wahrheit sind. Oder gar keine. Rationalisierungen sind allgegenwärtig. So darf man mit Staunen, teils auch mit Belustigung wahrnehmen, mit welch sprachlicher Phantasie in der Kunstszene Werke beschrieben und Künstlerintentionen gedeutet werden. Die Dinge einfach ohne Erklärung für sich stehen und wirken zu lassen, fällt offenbar schwer. Der Betrachterin oder dem Betrachter eine eigene Deutung hinsichtlich des Werkes zuzugestehen, kollidiert mit dem paternalistischen Bemühen, die Interpretation vorzuprägen.

Der Kunstbetrieb, für viele ein mühseliger Broterwerb und nur für wenige auch Quelle erheblichen Wohlstands, ist vom Drang zum Erläutern und Begründen geprägt. Schließlich wollen die Sachen verkauft werden. Dem Marketing und der Aufladung mit Sinn kommen dabei attraktivitäts- und letztlich umsatzfördernde Funktionen zu. Ein Bild mit Story, möglichst mit einem Schuss Existenzialismus oder einigen vieldeutigen strukturalistischen Anmerkungen, verkauft sich nun einmal besser als ein unkommentiertes Werk, das einfach nur so an der Wand hängt. Viele der unendlichen Geschichten, die mit gelehrtem (Un-)Sinn um Künstler und ihre Werke herum erfunden werden, haben hier ihren Ursprung.

Schon Nietzsche hatte das Wesen des Erklärzwanges erkannt und zeigte sich bei der Entzauberung wohlfeiler, jedoch substanzloser Geschwätzigkeiten konsequent unbarmherzig. Dabei begriff er die Dominanzbemühungen des Geistes über das Irrationale nicht als Kraftübung neurotischer Seelen, sondern als Ausdruck kollektiv wirkender Mechanismen. Was als schön oder gut empfunden wird, ist eben nicht nur eine Angelegenheit individueller Präferenzen, sondern zufällig auch die Vorliebe vieler anderer. Oder zumindest der Mitglieder jener gesellschaftlichen Teilkultur, der man sich selbst zurechnet. Geschmackliche Neigungen sind meist alles andere als einzigartig.

Diese Erkenntnis mag schmerzhaft sein. Sie ist allerdings auch potentiell entlastend, weil sie die Freiheit zur Distanz gegenüber den nun als Zwang erkannten Anforderungen und Zumutungen der sozialen Umwelt möglich macht. Diese Freiheit zu nutzen, ist freilich eine andere Sache.

Bei dem voranstehenden Text handelt es sich um überarbeitete Passagen aus dem fotosinn-Essay Geschwätzigkeit und Massengeschmack.

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