Essay 04

Geschwätzigkeit und Massengeschmack

Eine Zeit lang gehörte es zur Rezeption Nietzsches, dass er von Teilen der vorwiegend männlichen Jugend als Leitphilosoph gelesen wurde. Mit dem Vorübergehen pubertären Aufbegehrens wurde er jedoch meist in die entfernteren Regalreihen verbannt. Die Realität fordert eben ihren Preis. Wer im Projekt Erwachsenwerden vor allem die Aufgabe sieht, soziale Akzeptanz zu finden und sich in die Gesellschaft zu integrieren, lässt besser die Finger von ihm. Und dennoch haftet seinem Werk ein anhaltend subkutaner Reiz an. Er ist durch wirkmächtige Ambivalenzen gekennzeichnet, auf die man gelegentlich zurückkommt, wenn Erfahrungen mit den Widersprüchen des Lebens gesammelt sind und die Seele von der einen oder andere Beule gezeichnet ist. Nietzsches misogyne Entgleisungen lassen sich übergehen. Für das Gesamtwerk sind sie nicht bedeutend. Unabhängig von der Genderthematik lässt sich sein Denken auf eine zugespitzte, auch heute gültige Kernaussage reduzieren: Abschließende oder eindeutige Wahrheiten gibt es nicht, sondern lediglich kulturbedingte Perspektiven und Interpretationen. Insbesondere gilt dies für moralische Angelegenheiten und Fragen der Ästhetik.

Die Negierung absoluter Sichtweisen ist nicht gleichbedeutend mit Nihilismus. Nur wer einer naiven Vorstellung vom Begriff objektiver Tatsachen anhängt, kann sich entrüstet zeigen, wenn eine gegebene Realität von anderen anders wahrgenommen wird.

Nicht selten ist es Ausdruck schlichter Egozentrik, die eigene Perspektive für die allein richtige zu halten. Produktiver wäre es, die Genese von Erkenntnissen und insbesondere die sie prägenden Interessen in den Blick zu nehmen, fremde genauso wie die eigenen. Dennoch wäre es kurzschlüssig, aus der Unmöglichkeit absoluter Erkenntnis die Schlussfolgerung abzuleiten, es gäbe lediglich Meinungen, aber keine Fakten. Hypothesen lassen sich innerhalb eines streng regulierten Diskurssystems wie der Wissenschaft durchaus als wahr oder falsch beurteilen. Probleme entstehen jedoch immer dann, wenn wissenschaftliche Aussagen an Kriterien eines anderen gesellschaftlichen Subsystems gemessen werden. Und umgekehrt. Religiöse Glaubensüberzeugungen lassen sich wissenschaftlich weder beweisen noch widerlegen. Und Aussagen zum Klimawandel können nicht anhand politischer Mehrheitsauffassungen beurteilt werden. Hypothesen zur Erderwärmung sind ausschließlich mit Methoden der Wissenschaft überprüfbar. Politisch passende Meinungen haben da nichts zu suchen. Im Alltag wird dies immer wieder durcheinandergebracht.

Der Wahrheitsgehalt wissenschaftlicher Hypothesen bleibt solange unbestimmt, wie die scientific community keine stabile Forschungslage herausgearbeitet hat. Aber selbst, wenn eine Hypothese als bestätigt gilt, geht es weiter darum, nach Widerlegungsgründen zu suchen, um so deren Belastbarkeit zu prüfen und gegebenenfalls zu überarbeiteten Erkenntnissen zu gelangen. Vor allem in den Naturwissenschaften besteht seit Poppers Kritischem Rationalismus und Thomas Kuhns Paradigmentheorie weitgehend Konsens hinsichtlich der Möglichkeiten und Grenzen des Wahrheitsbegriffs. Endgültig verifizierte Aussagen gibt es nicht. Möglich sind immer nur Falsifikationen.

Ewigwährende Wahrheiten sind auf diese Weise natürlich nicht zu haben. Aber dennoch handelt es sich bei wissenschaftlichen Aussagen um das bestmögliche Faktenwissen, das zu bekommen ist. Soll mehr Sicherheit erreicht werden, müssen Systeme mit weniger strengen Verständigungsregeln bemüht werden oder, ganz im Gegenteil, solche mit Normen, die bei Abweichung sogar mit ewiger Verdammnis drohen. Das mag Fluch, aber auch Segen sein. So oder so, im Religiösen lassen sich aufgrund immanenter Transzendenzperspektiven stärkere Sicherheiten gewinnen als in der nüchternen Wissenschaft. Man muss nur an die göttliche Wahrheit glauben. Nicht viel anders ist das im Feld des Politischen, in dem es um die Durchsetzung von Machtansprüchen geht. Wer gewinnt, besitzt die Hoheit zur Deutung. Religiöse oder politische Strategien können so zwar zu klaren, mitunter simplen Weltbildern führen. Mit Wahrheit im engeren Sinne haben sie jedoch nichts zu tun.

Überträgt man die zugrunde liegenden Prinzipien solcher Überlegungen auf die kleine Welt der Fotografie, relativieren sich auch hier einige liebgewonnene Vorstellungen, insbesondere hinsichtlich Geschmacksfragen. Was als gute oder gar künstlerische Fotografie verstanden wird, unterliegt Schwankungen und Entwicklungen. Vieles von dem, was heute als ästhetisch ansprechend betrachtet wird, ist morgen, vielleicht auch erst übermorgen, nichts weiter als Schnee von gestern. Bestenfalls werden die Dinge in der Abteilung Fotografiegeschichte abgelegt. Ist dieser Mechanismus erkannt, eröffnet sich der Weg zum kreativen, befreiten Fotografieren. Hier liegt der grundlegende Unterschied zum Wissenschaftssystem. Um dort anerkannt zu werden, hat man dessen Regeln zur Hypothesenbildung und ihrer Prüfung zu folgen. Ganz anders in der Kunst einschließlich der Fotografie. Anything goes. Gehorsam gegenüber irgendwelchen ästhetischen Normen wird nicht verlangt. Gleichwohl schließt es die Freiheit ein, sich an aktuellen Geschmacksmoden zu orientieren. Die Sozialen Medien lassen grüßen. Wer auf Klicks und Likes erpicht ist, sollte dem Mainstream folgen.

Nietzsche hatte schon vor Freud herausgearbeitet, dass Vorlieben und Meinungen von unbewussten Affekten gesteuert werden. Meistens geht es um Anerkennung.

Unabhängig davon lässt sich für vieles, das als schön oder gut beurteilt wird, eine rational wirkende Begründung finden, selbst wenn diese gequält oder konstruiert erscheint. Häufig spürt man das dünne Eis und ahnt, dass es nur die halbe Wahrheit ist. Oder gar keine. Rationalisierungen sind allgegenwärtig. So darf man mit Staunen, teils auch mit Belustigung wahrnehmen, mit welch sprachlicher Phantasie in der Kunstszene Werke beschrieben und Künstlerintentionen gedeutet werden. Die Dinge einfach ohne Erklärung wirken zu lassen, fällt offenbar schwer. Der Kunstbetrieb, für viele ein mühseliger Broterwerb, für wenige auch Quelle erheblichen Wohlstands, ist vom Drang zum Erläutern und Begründen geprägt. Schließlich wollen die Dinge verkauft werden. Der Aufladung mit Sinn kommt dabei eine attraktivitäts- und letztlich umsatzfördernde Funktion zu. Ein Bild mit Story, möglichst mit einem Schuss Existenzialismus, verkauft sich nun einmal besser als ein unkommentiertes Werk, das einfach nur so an der Wand hängt. Viele der unendlichen Geschichten, die mit gelehrtem (Un-)Sinn um Künstler und ihre Werke herum gedichtet werden, haben hier ihren Ursprung.

Nietzsche hatte das Wesen des Erklärzwanges erkannt und zeigte sich bei der Entzauberung wohlfeiler, jedoch substanzloser Geschwätzigkeiten konsequent unbarmherzig. Dabei begriff er die Dominanzbemühungen des Geistes über das Irrationale nicht als Kraftübung neurotischer Seelen, sondern als Ausdruck kollektiv wirkender Mechanismen. Was wir als schön oder gut empfinden, ist nicht nur eine Angelegenheit eigener Präferenzen, sondern zufällig auch die Vorliebe vieler anderer oder zumindest der Mitglieder jener gesellschaftlichen Teilkultur, der wir uns zurechnen. Geschmackliche Neigungen sind meist alles andere als einzigartig. Diese Erkenntnis mag schmerzhaft sein. Sie kann jedoch entlastend wirken, weil so eine Freiheit zur Distanz gegenüber den Anforderungen und Zumutungen der sozialen Umwelt entsteht. Diese Freiheit auch zu nutzen, ist freilich eine andere Sache.

In modernen Wettbewerbsgesellschaften mit ihren oftmals unrealistischen Konsum- und Erfolgsversprechen ist das Ressentiment zum Bestandteil alltäglicher Erfahrungen geworden.

Was man selbst, zum eigenen Leidwesen, nicht hat, nicht kann, nicht versteht oder nicht darstellt, wird nach längerem Frustrationsaufbau gerne mit willkürlich konstruierten Begründungen abgelehnt, abgewertet oder bei anderen sowie als eigener, unbewusster Wunsch bekämpft. Ressentiments folgen einem Impuls zum Selbstschutz. Äsops Fabel vom Fuchs und den unerreichbaren Trauben hat den Mechanismus beschrieben. Zunächst steht das vorgetäuschte Desinteresse im Vordergrund: Appetit auf Trauben? Ich doch nicht! Reicht diese Autosuggestion zur inneren Befriedung nicht aus, erfolgt als Steigerung: Diese Trauben sind bestimmt sauer und ungenießbar! Drittens, dies geht über die ursprüngliche Fabel hinaus, stünde als radikales Fazit das Urteil zur Verfügung: Trauben an sich sind vollkommen überflüssig und eigentlich Unkraut!

Vordergründig hat das Ganze erst einmal nichts mit Fotografie zu tun. Aber irgendwie hängt ja bekanntlich alles mit allem zusammen. Werfen wir deshalb einen Blick auf Nietzsches Genealogie der Moral aus dem Jahr 1887, die den Untertitel Eine Streitschrift trägt. Schon in der Vorrede wird die Grundthese entfaltet: Wir sind immer dazu unterwegs, als geborne Flügelthiere und Honigsammler des Geistes, wir kümmern uns von Herzen eigentlich nur um Eins – Etwas „heimzubringen“. Nein, Nietzsche meinte hier nicht das Beutemachen des fotografierenden Jägers und dessen eifriges Sammeln von Bildern, sondern die Suche des Geistes nach dem moralisch Guten, bei der, je nach Standpunkt, am Ende meist metaphysische oder philosophische Antworten gefunden werden. Das Leben selbst, so Nietzsche, bleibt dabei auf der Strecke, und so drängt sich die Frage auf, warum man sich das überhaupt antun. Beim Versuch einer Antwort kam er nicht umhin, den Wert des Moralischen an sich in Frage zu stellen. Er betrat die Metaebene der Moralbetrachtung zwar voller Skepsis, aber Nihilismus, wie man ihm vorgeworfen hat, war das auch hier, wie beim Wahrheitsbegriff, nicht. Eher nahm er Thesen vorweg, die später von Freud, Foucault oder Luhmann weiter ausgearbeitet werden sollten. Auch ihnen ging es nicht um den Wert einer moralischen Norm an sich, sondern um die Frage nach ihren Ursprüngen und Funktionen sowie um die Identifizierung derjenigen, die über die Macht verfügen, Wertmaßstäbe zu definieren und durchzusetzen. Nietzsche hatte ganz ähnlich gedacht. Fröhliche Wissenschaft hieß, das Land der Moral neu zu entdecken, frei von kanonischen Fixierungen vermeintlich letzter, unumstößlicher Werte. Allein die Suche nach dem Guten an sich empfand er als lächerlich. Und er blieb misstrauisch gegenüber dem Durchschnittlichen und Mehrheitsfähigen, bei Moralfragen ebenso wie im Feld der Kunst. Apologet des Elitären war er damit jedoch nicht. Eher lässt er sich als früher Kritiker der Konsum- und Massenkultur des aufstrebenden Industriezeitalters verstehen. Das Volk hat gesiegt, so seine Diagnose, die Herren sind abgethan. Lassen wir uns nicht von der Sprache Nietzsches abschrecken, Adorno hätte es nur ein wenig anders formuliert. Kulturell dominierend sind in der Warengesellschaft der Massengeschmack und die Massenkultur. Ungewöhnliches hat es schwer.

Während es bei abstrakten Werken der Malerei oder bei performativen Installationen gang und gäbe ist, dass sich der eine oder andere mit Unverständnis abwendet und das Ganze für Firlefanz hält, scheint die technikbedingte Wirklichkeitsaffinität der Fotografie ein Garant dafür zu sein, dass sie unmittelbarer verstanden wird. Aber sie strahlt eben auch weniger Außergewöhnliches aus. Je ungegenständlicher, aber auch je wilder oder banaler ein Kunstwerk hingegen daherkommt, umso häufiger die bekannten Reaktionen: Das male ich Dir in fünf Minuten! So etwas macht meine Tochter/mein Sohn jeden Tag im Kindergarten! Das Werk wird nicht als Kunst angenommen oder nicht verstanden und abgewertet. Erst nach längerem Zeitablauf ändern sich die Einstellungen, vielleicht. Der Maßstab für das, was als Kunst akzeptiert wird, ist einem stetigen Wandel unterworfen. Rief der Impressionismus zunächst noch Abstoßungsreaktionen hervor und blieben auch Expressionismus oder Dada zu ihrer Zeit erst einmal unverstanden, gehören sie heute zur etablierten Kunst. Ressentiments gibt es nur noch selten, selbst mildes Kopfschütteln ist kaum mehr zu verzeichnen. Ein Pferd darf nun auch blau sein und eine Pfeife muss nicht mehr sein als eine Pfeife.

Avantgardistischem aus der Contemporary Art begegnet der Massengeschmack weiterhin mit Distanz. Soll das Kunst sein?

Die Frage ist zum Synonym für eine populistische Radikalität geworden, die sich aus Unverständnis speist. Dabei ist die Frage nach der Definition von Kunst in postmodernen Zeiten schwerer zu beantworten als jemals zuvor. Am unwiderlegbarsten ist noch die abgebrühte Eingrenzung: Kunst ist, was vom Kunstmarkt als Kunst gelabelt wird. Die Ablehnung eines Werkes erfolgt deshalb nicht unbedingt aufgrund individueller Ressentiments. Mitunter ist es schlichtweg noch nicht als Kunst etabliert. Ohne dieses Etikett mangelt es ihm an Reputation und dem Betrachter an Respekt. Er ist unvorbereitet und unwillig, sich dem Werk zuzuwenden.

Der dominante Massengeschmack ist nicht mehr so rigide naturalistisch ausgerichtet wie im 19. Jahrhundert, sucht aber auch heute mit Vorliebe das Erkennbare, Gegenständliche. Wird dies nicht geboten oder offerieren Abstraktionen und Objektinstallationen keine ausreichenden Ansatzpunkte für eine Sinnkonstruktion, bilden sich Abstoßungsreaktionen. Damit kann ich nichts anfangen! Andere Urteile beziehen sich auf das Werk selbst und werten es als Scharlatanerie ab. Unverstandenes löst nun einmal Frustrationen, mitunter auch Aggressionen aus und wird mit konstruierten Begründungen abgelehnt. Vielleicht liegt hier eine der Ursachen für die anhaltende Beliebtheit der Fotografie. Sie ist leichter zu verstehen als andere Kunstgattungen, weil sie, allein technisch bedingt, einen Realitätsbezug suggeriert und damit Gegenständliches verspricht. Meist kann der Betrachter mit einer gewissen Aussicht auf Erfolg die Frage beantworten, was die Dinge darstellen. Dies muss nicht heißen, dass eine Fotografie auch Gefallen findet, aber die Gefahr einer ressentimentgeladenen Reaktion ist gering. Aufregung findet nur selten statt.

Es gibt Ausnahmen. Juergen Teller oder Wolfgang Tillmans, hier exemplarisch genannt, werden vom kunstaffinen Geschmack geschätzt und ihre Ausstellungen sind gut besucht, dem Massenempfinden entsprechen sie dennoch nicht. Trotz Gegenständlichkeit verschließen sich ihre Werke dem spontanen Sinnverständnis. Grund dafür ist nicht zuletzt der Charakter der Fotografie als ein durch und durch demokratisches Medium. Jeder kann eine Kamera bedienen, und nicht selten gleichen die alltäglichen Bilder von Amateuren den in Galerien und Museen gezeigten Fotografien von Teller oder Tillmans. Ergebnis ist die Ambivalenz des Unspektakulären. Ihre Fotografien wirken wie gewöhnliche Schnappschüsse und geben gerade deshalb Anlass zu der ressentimentgeladenen Frage, wo denn hier bitte das Künstlerische sei. Die Bilder bleiben sperrig. Sie sind gegenständlich mit oftmals banalen Motiven und werden nicht so recht als Kunst wahrgenommen.

Nietzsche lag mit seiner Logik ganz richtig. Beliebt ist das unmittelbar Verstandene. Dem Übrigen wird gerne mit mehr oder weniger heimlichem Groll begegnet. Der Amateur neigt im Übrigen dazu, die eigenen Fähigkeiten, das eigene Equipment und den eigenen Geschmack als Maßstab zu nehmen. Und er beweist mit Verve deren Überlegenheit gegenüber anderen Kameras, Techniken und Stilen. Der Ressentimentverdacht liegt da nahe. Was man selbst nicht kann, nicht hat, nicht versteht oder was einem nicht gefällt, wird abgewertet. Das alte Spiel. Wie in der Geschichte vom Fuchs und den Trauben. Die liebste Weisheit des Amateurs lautet deshalb: Regeln sind dazu da, dass man sie bricht! Wer nicht in der Lage ist, sie anzuwenden, erklärt sie zur überflüssigen Norm.

Von Friedrich Nietzsche sind nur wenige Fotografien überliefert, etwa die mit dem gewaltigen Schnauzbart oder das ikonografische Bild auf dem hölzernen Leiterwagen, das ihn zusammen mit Paul Rée und der Peitsche schwingenden Lou Andreas Salomé zeigt.

Zum Thema Fotografie hat er sich selbst jedoch nur sparsam geäußert. Wer nach diesbezüglichen Anmerkungen sucht, stößt auf Briefe, die er 1888 aus Turin an den dänischen Philosophen und Schriftsteller Georg Brandes schrieb. Nietzsche war zu jener Zeit bereits hypernervös beziehungsweise, je nach Sichtweise oder Diagnose, neurologisch angeschlagen und befand sich auf der Suche nach einem klimatisch wie kulturell förderlichen Umfeld. Der Frühling in Turin schien ihm Linderung zu versprechen. In einem Brief vom April bedankt er sich bei Brandes auf das verbindlichste für dessen Portraitphotographie und bedauert, dass er sich nicht mit einer eigenen revanchieren könne. Alle Portraitbilder habe seine Schwester nach Südamerika mitgenommen. Das erstaunt ein wenig, denn Nietzsche war es eigentlich gewohnt, Carte de Visites vorrätig zu halten, um diese bei Bedarf zu verteilen. Es handelte sich um Portraits, auf Karton aufgezogene, etwa im Format sechs mal neun Zentimeter, die im letzten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts große Popularität erlangt hatten und ähnlich wie textliche Visitenkarten verwendet wurden. Offensichtlich hatte er in Turin nichts dergleichen zur Hand.

Brandes gilt als einer der Wegbereiter Nietzsches und beabsichtigte, in Kopenhagen eine Vorlesung über dessen Philosophie zu halten. Nietzsche war davon angetan, fragte aber, woher Brandes den Mut nehme, öffentlich über ihn reden zu wollen, da er, Nietzsche, doch im Vaterland als etwas Absonderliches und Absurdes betrachtet werde. Ungeachtet dessen oder gerade deshalb darf man davon ausgehen, dass Nietzsche durch die geplante Vorlesung auf eine positive Wirkung hoffte. Immerhin, so das Selbstbild, sei er ein tapferes Tier, jedenfalls dem Instinkt nach. Nietzsche sah sich als einsamer Kämpfer, der hart erarbeitete Erkenntnisse verteidigt und dafür auch Widerstände und Opfer in Kauf zu nehmen bereit ist. Das erscheint nobel, ist aber nicht frei von Eitelkeit.

Bezüglich der erbetenen Fotografie hat Nietzsche sich offenbar mit der Bitte um Hilfe an seine Mutter gewandt, und in einem Folgebrief an Brandes aus den ersten Maitagen gibt er der Hoffnung Ausdruck, dass zwischenzeitlich ein Portrait bei ihm angelangt sei. Zuvor habe er, Nietzsche, Schritte getan, nicht um sich zu photographieren (sic!), denn er sei gegen Zufalls-Photographien äußerst mißtrauisch, sondern um jemandem, der eine Photographie von ihm besitze, dieselbe zu entfremden. Die Mutter, Franziska Nietzsche, sollte bei dieser unbekannt gebliebenen Person dafür werben, eine Fotografie von Friedrich an Brandes abzutreten. Da Nietzsche das Ergebnis der mütterlichen Bemühungen zu diesem Zeitpunkt nicht bekannt war, versprach er, die nächste Reise nach München zu nutzen, um sich gegebenenfalls dann doch noch einmal zu versinnbildlichen, also eine Fotografie anfertigen zu lassen.

Der Begriff der Versinnbildlichung verdient Beachtung, denn Nietzsche hatte eine recht genaue Vorstellung vom Charakter der fotografischen Ablichtung. Eine Portraitfotografie erforderte zu seiner Zeit das angespannte Verharren in einer festen Pose, um so den langen Belichtungszeiten Rechnung zu tragen. Die starre Körperhaltung war nicht selten verdeckten Stützstangen zu verdanken, an die sich der Portraitierte lehnen konnte. Darüber hinaus standen Requisiten wie hölzerne Säulen, Pflanzen und dergleichen zur Verfügung, die den Bildern jener Zeit etwas Gleichartiges gaben. Nach der Entwicklung wurde eine Fotografie im Übrigen meist retuschiert, um technische Fehler zu beseitigen oder Details zu verändern. Fotografien der damaligen Zeit haben mit den heute vertrauten digitalen Spontanschnappschüssen jedenfalls nicht viel gemein.

Bei den Carte de Visites des neunzehnten Jahrhunderts handelte es sich um Ergebnisse durchgeplanter Inszenierungen, und als solche wurden sie auch verstanden. Nietzsche war sich bewusst, dass Portraitfotografie gleichbedeutend war mit Posenfotografie, und er stellte sich darauf ein, der Kamera einen bedeutungsvollen Ausdruck zu präsentieren. Die Mimik sollte Symbol für seinen Typus des unerschrockenen Philosophen sein, der keine Grenzen und Tabus scheut. Nietzsches Darstellung als einsamer Denker ist deshalb kein Zufall. Sein Blick geht in die Ferne, wie Zarathustra, als dieser das moralfreie Jenseits von Gut und Böse gefunden hatte. Vom Freund Overbeck sowie von Cosima Wagner wurde Nietzsche wegen der Eigeninszenierungen sanft kritisiert oder gar getadelt. Er hatte aus ihrer Sicht zu dick aufgetragen. Der eitle Habitus kam nicht gut an, selbst nicht bei Wohlmeinenden. Nietzsche war sich dessen bewusst. Dies erklärt sein Misstrauen gegenüber Zufalls-Photographien, deren Wirkung nicht sorgsam genug bedacht war. Wenn er dann trotz aller Bedenken mit einer Fotografie einverstanden war, wie bei einer Serie von Aufnahmen aus dem Jahr 1882, wurden diese mehrfach nachbestellt, um sie an Freunde und Verwandte zu verteilen. Auf der als Zarathustrabild bekannt gewordenen Fotografie wirkt er selbstbewusst und klar in die Ferne blickend, philosophisch eben. Sie gehört bis auf den heutigen Tag zu den am häufigsten gezeigten Bildnissen Nietzsches. Es bezeugt, wie er selbst sich gerne sah. Aber auch wir sind geneigt, ihn so sehen zu wollen.

In seinem Brief vom 23. Mai 1888 betonte Nietzsche noch einmal die Dankbarkeit und den neuen Mut zur Zukunft, den er angesichts der Wertschätzung durch Brandes und der geplanten Vorlesungsreihe in Kopenhagen empfand. Aber es wirkt alles schon ein wenig zu enthusiastisch, um glaubhaft zu sein, und man verspürt beim Lesen ein ungutes Gefühl. Dies mag mit dem heutigen Wissen vom Zusammenbruch Nietzsches wenige Monate später im Januar 1889 zu tun haben, als er in Turin einem Kutschpferd um den Hals fällt und von da an bis zum Tod am 25. August 1900 nur noch in einer verschlossenen Welt leben sollte. Es ist nicht zu weit interpretiert, wenn man bereits in dem genannten Brief etwas Manisches zu vernehmen meint, dem der Abgrund nicht fern war. Die inneren Spannungen hatten beständig zugenommen.

Nietzsche hat die Tragik, die ihn am Ende überfordern sollte, indirekt selbst auf den Punkt gebracht.

Ich habe mich gefragt, was bisher von der Menschheit am besten gehaßt, gefürchtet, verachtet worden ist – und daraus gerade habe ich mein »Gold« gemacht. Ähnlich hätte es später Freud ausdrücken können. Nietzsche kannte den Preis für die Entzauberung kultureller Regeln, religiöser Gewissheiten und moralischer Grundsätze. Er ahnte, dass man der Gesellschaft nicht ungestraft einen Spiegel vorhalten durfte, und wusste um die Wahrscheinlichkeit von Abstoßungsreaktionen. Aber er kokettierte auch ein wenig damit. Daß man mir nur nicht Falschmünzerei vorwirft! Oder vielmehr; man wird es tun. Er hatte da keine Illusionen. Aber dies stand im Frühling 1888 nicht im Zentrum seiner Gedanken. Zu dieser Zeit überwog noch die Hoffnung, das Leben werde, nachdem er zu lange in der Nähe des Todes gelebt habe, zurückkehren und alles werde schon irgendwie gutgehen. Eine Illusion, wie wir wissen.

Zum Abschluss des Briefes vom 23. Mai fragt er Brandes noch einmal, ob dieser die Photographie nun erhalten habe. Und ganz zum Schluss, nicht selten befindet sich hier der wichtigste Teil einer Botschaft, bekennt Nietzsche seine Neugier, was die Themen der Vorlesungen in Kopenhagen anbelangt. Drei Worte dazu würden ihm ausreichen. Das klingt wie ein Hilferuf und wir ahnen den Abgrund, auf den er zusteuerte. Fotografien aus den 1890er Jahren, nach dem Zusammenbruch, zeigen ihn als einen kranken Mann, fernab von Posen, aber gerade deshalb in gewisser Weise authentischer als jemals zuvor. Und dies, obwohl die Aufnahmen aus dem Krankheitsjahrzehnt ein von Mutter und Schwester inszeniertes Rührstück waren, das dem Publikum weismachen wollte, es handele sich um ein Weiterdenken in neuer Form, nicht jedoch um die sukzessive Verabschiedung aus der Welt. Die Aufnahmen wurden angefertigt, damit Maler wie Hans Olde auf ihrer Grundlage heldenhafte Zeichnungen oder Radierungen anfertigen konnten. Die so entstandenen Portraits für die Nachwelt waren, wie von den Auftraggeberinnen gewünscht, verklärende Darstellungen. Mit dem vor sich hindämmernden Nietzsche hatten sie nicht viel zu tun. Es handelte sich um Inszenierungen, die er nicht selbst gesteuert hatte. Dazu war Nietzsche kaum mehr in der Lage. Mutter und Schwester hatten die Regie übernommen.