Die Neue Sachlichkeit der 1920er Jahre

Das Jahr 1925 lässt sich als eines der Schlüsseljahre der Moderne bezeichnen. Grund für einen Rückblick. So bereitet sich etwa die Kunsthalle Mannheim auf die Ausstellung Die Neue Sachlichkeit – ein Jahrhundertjubiläum vor, die im November eröffnet wird. Als Appetizer ist im alten Jugendstilgebäude schon jetzt die Sonderausstellung Hart & direkt – Zeichnung und Grafik der Neuen Sachlichkeit zu sehen. Der Titel klingt nach einer Veranstaltung für Spezialisten. Aber auch hinsichtlich der Geschichte der Fotografie bietet sie einiges zu derem Verständnis. Und dies, obwohl Fotografisches in der aktuellen Ausstellung keine direkte Rolle spielt, wie übrigens auch nicht bei der Ursprungsveranstaltung 1925. Eher sind es paradigmatische Parallelen zwischen Bildender Kunst und Fotografie, die sich im Rückblick erkennen lassen.

Der damalige Kunsthallen-Direktor Gustav Friedrich Hartlaub unterschied bei der Neuen Sachlichkeit zwei Flügel. Auf der einen Seite einen klassizistischen, der den zeitlos-gültigen Gegenstand sucht, um im Bereich der Kunst ewige Daseinsgesetze zu verwirklichen; auf der anderen Seite einen veristischen, der das Gegenständliche aus der Welt aktueller Tatsachen reißt und das Erlebnis in seinem Tempo, seinem Hitzegrad herausschleudert. Vereinfacht ausgedrückt handelt es sich um einen stilkonservativen rechten und einen oftmals sozialkritischen, linken Flügel.

Der konservative Ansatz nahm nicht selten Bezug auf Deutschnationales, orientierte sich an spätgotischen Techniken sowie den Nazarenern des vorangegangenen Jahrhunderts. Die Klarheit der Bildsprache mit sauber gezeichnetem Gegenständlichen stand dabei im Vordergrund. Im Übrigen hielt man am Gedanken des auratischen Kunstwerkes fest, während die eher politisierende Strömung der Neuen Sachlichkeit mit solchen mythischen Aufladungen nichts mehr zu tun haben wollte und sich sowohl zur technischen Reproduzierbarkeit wie auch der Sozialkritik bekannte. George Grosz gilt als Beispiel. Seine Werke strahlen keine distanzlose Nüchternheit aus und sind durch wilde Farbigkeit bestimmt. Dennoch bleibt das Grafisch-Strukturelle erhalten, so dass die Zuordnung zur Neuen Sachlichkeit gerechtfertigt ist. Durch harte zeichnerische Linien werden, anders als im Expressionismus, klare Formen und Flächen erkennbar. Sachlich war für Grosz trotz aller mitunter karikierender Überzeichnung die Darstellung einer Realität, in der die Mächtigen aus Feudaladel, Wirtschaft, Politik und Militär ihre Pfründe und kulturelle Lebenswelt zu verteidigen suchten.

Beide Flügel der Neuen Sachlichkeit prägten das künstlerische Geschehen der Weimarer Republik. Während dann jedoch mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten die eine Strömung attackiert und dem Entarteten zugeordnet wurde, entwickelte sich der andere Flügel schnell und willig in Richtung eines Bildparadigmas, das die nazarenische Akkuratesse noch radikalkonservativer als zuvor, allerdings auch malerisch simpler, mit völkischem Gedankengut auflud. Ergebnis war eine propagandistische Nazi-Bildsprache, die im Übrigen, dies kann nicht unerwähnt bleiben, im späteren Sozialistischen Realismus der Stalinzeit seine Fortsetzung fand. Gemeinsam ist beiden die bevorzugte Darstellung von Arbeitern, Handwerkern, Bauern und Soldaten in heldenhaften Posen.

Zurück in die 1920er Jahre. Die fotografische Szene wurde erstmals als Bestandteil der Kunstwelt wahrgenommen. Das Jahr 1925 spielte dabei eine Schlüsselrolle. Als 1929 aufgrund der einsetzenden Weltwirtschaftskrise die Fahrt auf dem goldenen Karussell ein jähes Ende mit weitreichenden politischen Folgen fand, war die Bedeutung des zu Ende gehenden Jahrzehnts für die sich immer mehr differenzierenden künstlerischen Ausdrucksformen jedoch noch gar nicht absehbar. Erst aus dem zeitlichen Abstand ist erkennbar, welch produktive Spannung sich aufgebaut hatte, die schließlich zur Entladung kam. Die Neue Sachlichkeit hatte in Mannheim mit einem Paukenschlag die Bühne betreten. Nahezu zeitgleich kam die Leica als serienreifes Produkt auf den Markt, um die Ära der schnellen Fotografie einzuleiten. Schließlich war es László Moholy-Nagy, der im selben Jahr mit dem Buch Malerei, Fotografie, Film ein theoretisches Fundament für die Überwindung der traditionellen Bildsprache schuf.

Schon in den Jahrzehnten zuvor hatte sich das herkömmliche Bildverständnis der Malerei mit seinem allgemeinem Gültigkeitsanspruch aufgelöst. Ergebnis waren in den Metropolen Europas Abspaltungen von den traditionellen Kunstsalons, denen weitere, radikalere Sezessionen folgten. Mit den Impressionisten hatte es begonnen, dann kamen die Expressionisten sowie realitätsgelöste Abstrakte, Kubisten, Futuristen, Dadaisten und vielerlei andere Strömungen. Bereits vor dem Schlüsseljahr 1925 hatte sich in Kunst und Kultur eine Polyperspektivität entwickelt, durch die das eher homogene künstlerische Deutungssystem des 19. Jahrhunderts in gänzlich unterschiedliche, geradezu antagonistische Stile ausdifferenziert worden war. Obwohl von einer allgemeinen Kunstfreiheit noch nicht die Rede sein konnte, waren die Grenzen des Erlaubten immer weiter hinausgeschoben worden. Es gab nicht mehr die Kunst oder das Bildverständnis.

Zu Beginn der 1920er Jahre wurde der Objektivitätsnimbus der Fotografie noch nicht, wie heute üblich, medientheoretisch infrage gestellt oder ideologiekritisch aufgearbeitet. Eine Fotografie galt als eine nüchterne, sachliche Widergabe der Realität. Das Selbstverständnis der Fotografie formte sich im Übrigen aus einer positiven Technikaffinität. Basis waren nicht zuletzt die Erfindungen der vorangegangenen Jahrzehnte und der Einbruch der Moderne in alle Lebensbereiche. Die Großstadt mit ihrer Geschwindigkeit, das Automobil und die Luftfahrt, der Film und später der Rundfunk bildeten in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg eine technizistisch aufgeladene Atmosphäre. Die Kunst steuerte in Malerei, Literatur, Theater, Tanz und Varieté sowie durch grenzüberschreitende Experimente und Performances Elemente des dazu passenden kulturellen Überbaus bei.

Aber das schnelle Leben war mit einer latenten Anstrengung verbunden. Die für viele wünschenswert gewordene Entspannung zurück zur Nüchternheit kann deshalb als Reflex verstanden werden, nach den expressionistischen und dadaistischen Experimenten wieder Ruhe in die verwirrende Unübersichtlichkeit zu bringen. Das Publikum war für die Rezeption einer sachlich und eher kühl wirkenden Bildsprache, wie sie die damalige Schwarzweißfotografie verkörperte, bestens vorbereitet. Auch Romantik, verspielter Jugendstil oder gar Kitsch waren nun verpönt. Man war offen für eine Neue Sachlichkeit, die sich in der Folgezeit fotografisch als Neues Sehen in zwei Flügel aufspalten sollte, einen eher dokumentarisch orientierten und einen experimentell subjektiven.

Einige Passagen des Textes sind dem fotosinn-Essay Befreiung von der Malerei entnommen.

 

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