Jahreswechsel. Innehalten.

Die meisten sogenannten Kunstfotografien, ganz zu schweigen von den Aufnahmen der Amateure, unterscheiden sich technisch deutlich von der kommerziellen Produktfotografie, bei der nicht selten Bilder mit 100 MP Auflösung für riesige Werbeformate verlangt werden. Solche Datenmengen mögen zwar auch bei den Fotografien digitaler Großformatmeister wie Andreas Gursky eine Rolle spielen, für die übrige bildmäßige Fotografie, die sich nicht selten an klassischen analogen Vorbildern in kleineren Formaten orientiert, sind sie jedoch als technologischer Overkill häufig vollkommen überflüssig.

Einst ging es neben Gestaltungsaspekten oftmals um Atmosphärisches, so dass Bilder mit Kornstruktur und etwas Unschärfe häufig wirkungsvoller waren als heutige aseptische Digitalaufnahmen, bei denen alles bis zur tödlichen Langeweile perfektioniert ist. Einige Fotografinnen und Fotografen sehen das ähnlich und reduzieren nachträglich bei der Bildbearbeitung die kamerabasierte Digitalschärfung eines Bildes. Auch eine leichte Pixelstruktur bei höheren ISO-Werten wird mitunter nicht als Makel empfunden, sondern kann zur Eliminierung überflüssiger Feinstdetails beitragen. Damit ist die mitunter penetrant wirkende Kantenschärfe schon einmal verringert. Genügt dies nicht, wird bei der Bildbearbeitung nachgeholfen und ein wenig, kaum wahrnehmbares, künstliches Kornrauschen hinzugefügt. Und auch eine dezente Vignettierung entfernt das Bild weiter von der digitalen Perfektionswelt.

Aber vielleicht sind das ja alles nur Betrachtungen aus der Perspektive eines Älteren, während jüngeren Generationen die cleane Anmutung digitaler Bilder als Erwartungsnorm längst vertraut ist. Sie sind mit deren hyperscharfen Darstellungen aufgewachsen. Körnige Fotografien aus Analogzeiten werden dann schnell dem Musealen zugeordnet. Dort scheinen sie allerdings eine gewisse Faszination auszuüben. Ausstellungen mit analogen Fotografien locken regelmäßig eine verlässliche Besucherzahl an. Es müssen dabei nicht immer die Altmeister von Cartier-Bresson bis Capa oder Werner Bischof und Vivian Maier sein. Es gibt genügend Fotografinnen und Fotografen aus jüngerer Analogzeit, deren Arbeiten immer wieder erfolgreich ausgestellt werden. Weit oben in der Beliebtheitsskala rangieren da zum Beispiel die schwarzweißen Fotografien aus der ehemaligen DDR wie die von Arno Fischer, Sibylle Bergemann, Ute und Werner Mahler, Roger Melis, Helga Paris oder Evelyn Richter.

Zurück zur Gegenwartsfotografie. Der Trend zur gezielten Reduzierung der digitalen Perfektion kollidiert naturgemäß mit den Marketingstrategien der Hersteller. Im Wettbewerb mit der Konkurrenz werden immer bessere Sensoren mit hohen MP-Werten sowie softwarekorrigierte Superobjektive angepriesen. Die entsprechende Werbung zeigt Wirkung. Insbesondere Amateurenthusiasten lassen sich gerne davon überzeugen, dass nur mit der neuesten Vollformatmaschine richtig gute Fotos gemacht werden können. Der Haben-Wollen-Effekt ist weit verbreitet.

Nun ist der Trend zu technisch immer leistungsfähigeren Kameras ja nichts Schlechtes. Je mehr Optionen man beim Fotografieren hat, umso besser. Dennoch steht die Frage im Raum, wie das Ziel einer guten Fotografie im Kern zu beschreiben wäre. Steht die kameratechnisch geprägte Perfektion im Vordergrund? Oder sind es die Bildaussage und die Bildanmutung? Die beiden Perspektiven müssen sich nicht unbedingt widersprechen, denn im Mittelpunkt steht in der Regel das Motiv. Und das Ganze ist abhängig vom Genre. Bei der Sportfotografie, den Aufnahmen wildlebender Tiere und einer Reihe weiterer Anwendungsfelder, etwa der Hochzeitsfotografie, ist die Sache klar. Der Fussballprofi muss mit seiner Mimik im entscheidenden Augenblick deutlich erkennbar sein, die Mähne des mit dem Supertele aufgenommenen Löwen soll sich möglichst prachtvoll entfalten und das Brautpaar steht idealerweise wimpernscharf vor einem romantischen Hintergrund. Unschärfen des zentralen Bildmotivs wären in allen diesen Fällen ein Ausschlusskriterium. Aber moderne Digitalkameras bieten da verlässliche Ergebnisse auf hohem Niveau. In der Geschichte der Fotografie gab es noch nie so viel Schärfe und Auflösung wie heute. Selbst die durchschnittliche Amateurkamera ist den professionellen Vorgängerinnen aus analogen Zeiten haushoch überlegen.

So begrüßenswert das alles sein mag, es beweist sich hier aufs Neue das szientistische Paradigma der realistischen Fotografie. Ein Bild soll demnach die Wirklichkeit, so wie sie ist, möglichst penibel abbilden. Dass dies ein irreführendes Dogma ist, mit dem die Fotografie von Beginn ihrer Geschichte an aufgeladen wurde, ist hinreichend bekannt. Im fotosinn Essay Der Raum, die Fläche und das scharfe Detail wird der Prozess der vermeintlichen Objektivierung des fotografischen Bildes beschrieben. Schärfe ist, bei kritischer Betrachtung, kein Wert an sich. Es handelt sich vielmehr um ein normatives, kulturbedingtes Ideal. Aber solche Aspekte gehen im Alltag schnell unter und interessieren nur wenige.

Technische Neuerungen wird es auch künftig geben. Weiter gesteigerte Sensorleistungen bei wenig Licht und mit besserem Dynamikverhalten, noch schnellerer Autofokus sowie präzisere Motiverkennungen und Bildstabilisierungen. Undsoweiter. An KI-Unterstützungen ist dabei noch gar nicht gedacht. Für einzelne Anwendungen sind die Verbesserungen ja auch sinnvoll. Fotografierende könnten dennoch gut beraten sein, erst einmal weiter mit dem vorhandenen, meist gar nicht so alten Equipment zu arbeiten, anstatt sich der Sucht nach immerzu neuen Anschaffungen hinzugeben. Empfehlung: Weniger Testbilder machen, die häufig nur zur Demonstration der technischen Leistungsfähigkeit einer gerade getätigten Neuanschaffung dienen, sondern Innehalten, Geld sparen und das Vorhandene nutzen. Rausgehen, Fotografieren! Anschließend die Bilder am Rechner vernünftig ausarbeiten. Erst später neues Zeug kaufen.

 

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