Die Wiederkehr des Verständlichen
Mit großem Publikumserfolg präsentiert die Kunsthalle Mannheim derzeit Die Neue Sachlichkeit – Ein Jahrhundertjubiläum. Neben dem Aspekt einer Rückschau auf die 1925 von Gustav Friedrich Hartlaub kuratierte Vorgängerausstellung Die neue Sachlichkeit. Deutsche Malerei seit dem Expressionismus drängen sich weitere Gedanken auf, denn das aktuelle Interesse mag auch mit einem gewissen Ermüdungseffekt hinsichtlich der nicht selten schwer verständlichen Moderne zu tun haben. Dann wäre die heutige Faszination vergleichbar mit der Lage um 1925, als es nach dem Expressionismus einen Drang zu einer neuenGegenständlichkeit gab, ohne dabei in den beschaulichen Naturalismus früherer Zeiten zurückfallen zu wollen.
Dem Maler und Schriftsteller Paul Cohen wird die zeitgenössische Anmerkung zugeschrieben: Durch ganz Europa geht ein Sehnen nach Ruhe. Man will, nachdem alle Formen aufgelöst, alles Fluss und rastlose Bewegung geworden war, wieder eine Ordnung finden, ein Mass und ein Gesetz. An die Worte Cohens wird in der Mannheimer Ausstellung in großen Lettern erinnert.
In den Jahrzehnten zuvor hatte sich das herkömmliche Bildverständnis der Malerei mit seinem allgemeinem Gültigkeitsanspruch aufgelöst. Ergebnis waren in den Metropolen Europas Abspaltungen von den traditionellen Kunstsalons, denen weitere, radikalere Sezessionen folgten. Mit den Impressionisten hatte es begonnen, dann kamen die Expressionisten sowie realitätsgelöste Abstrakte, Kubisten, Futuristen, Dadaisten und vielerlei andere Strömungen. Bereits vor dem Schlüsseljahr 1925 hatte sich in Kunst und Kultur eine Polyperspektivität entwickelt, durch die das eher homogene künstlerische Deutungssystem des 19. Jahrhunderts in unterschiedliche Stile ausdifferenziert worden war. Obwohl von einer allgemeinen Kunstfreiheit noch nicht die Rede sein konnte, waren die Grenzen des Erlaubten immer weiter hinausgeschoben worden. Es gab nun nicht mehr die Kunst oder das Bildverständnis. Die Neue Sachlichkeit kann deshalb als Reflex verstanden werden, nach all den Experimenten wieder Ruhe in die verwirrende Unübersichtlichkeit zu bringen. Das Publikum war für die Rezeption einer sachlich und eher kühl wirkenden Bildsprache jedenfalls vorbereitet. Man gierte nach Materie, nachdem Teile der Malerei den Anschluss an die Objektwelt aufgegeben hatten, und wollte wieder Bilder sehen, die als Spiegel der Realwelt galten. Die expressionistische Transzendenz gegenüber der Außenwelt war für einige offenbar zu anstrengend geworden. Bildliche Klarheit war gefragt, aber bitte mit moderner Raffinesse und gerne auch mit gesellschaftskritischer Attitüde.
Die aktuelle Ausstellung in der Kunsthalle Mannheim trägt den Zusatz Die 1920er Jahre und stellt somit eine Erweiterung dar. Die Schau wird durch Bilder ergänzt, die stilistisch der Neuen Sachlichkeit zugerechnet werden können, 1925 jedoch nicht gezeigt wurden. Entweder, weil sie in späteren Jahren entstanden, aus anderen Ländern als dem damaligen Deutschen Reich stammen oder überhaupt von Künstlerinnen. Denn diese waren in der von Hartlaub kuratierten Ausstellung ursprünglich nicht vertreten. Aber nicht nur dies wird in Mannheim kritisch angemerkt. Den Ausstellungsmachern ging es um die Verknüpfung der Jubiläumserinnerung mit Analysen und Anmerkungen zur Wirkungsgeschichte und nicht lediglich um ein Revival der 1925er Schau.
Die Ausstellung gliedert sich in mehrere Abteilungen mit jeweiligen Texttafeln. Einer allgemeinen Einführung folgen Anmerkungen und Darstellungen zur Geschichte der ursprünglichen Ausstellung sowie zur gesellschaftlichen und politischen Situation nach dem ersten Weltkrieg. Es folgen Aspekte der Kontinuität bis in die Zeit des Nationalsozialismus und auch Hinweise auf internationale Entwicklungen, weiterhin thematische Betrachtungen zu den industriellen und technischen Entwicklungen jener Zeit, zum damaligen Bild des Menschen allgemein und zur Rolle der Frau im Besonderen, zum Körperideal und zum Selbstbildnis sowie den Themen Natur, Landschaft und Stillleben. Einzelne Abteilungen der Ausstellung widmen sich gesondert George Grosz, Max Beckmann und Otto Dix.
Wiederkehrendes Stilelement der Neuen Sachlichkeit ist die Mischung aus Realismus, Stilisierung und Typisierung. Ob es sich in der Männerwelt um die kritisch überzeichnete Darstellung von Vertretern der gesellschaftlichen Elite handelt oder bei Frauen um den ikonisch gewordenen Typus mit Kurzhaarfrisur, Zigarette, Anzug und Krawatte, nicht selten knabenhaft-androgyn wirkend, oftmals sind es Rollenklischees, die im Übrigen mit der Lebenswirklichkeit der meisten Menschen jener Zeit nicht viel zu tun hatten. Aber es waren Vorbilder, die in Werbung und Medien wiederkehrend produziert wurden. Die Ausstellung in Mannheim macht dies einprägsam deutlich.
Die Darstellung der Goldenen Zwanziger mit ihren Rollenstereotypen war jedoch nur die eine Seite der Wirklichkeit. Hinzu kamen die Bettler, Kriegsversehrten, Inflationsgeschädigten und Hungernden in den Straßen der Städte. In den kritischen Sozialstudien von Grosz und Dix wird dies deutlich. Grosz formulierte programmatisch, wie in der Ausstellung zitiert: Der Verist hält seinem Zeitgenossen den Spiegel vor die Fratze. Ich zeichnete und malte aus Widerspruch und versuchte ... diese Welt davon zu überzeugen, dass sie hässlich, krank und verlogen ist. Und Dix mit ähnlichem Tenor: Ich wollte die Dinge zeigen, wie sie wirklich sind.
Schon Hartlaub unterschied 1925 bei den Vertretern der Neuen Sachlichkeit zwischen einem klassischen, konservativen und einem kritisch-sozialen, veristischen Flügel. Und in den Folgejahren sollte immer deutlicher werden, dass sich die erste Richtung mit neuromantischer, eher rückwärtsgewandter Tendenz in den Vordergrund spielte, sich mit deutschnationalen Themen mischte und zum Vorreiter der nationalsozialistischen Bildsprache mit Pathetik und Monumentalität wurde. Anleihen bei der Renaissance, dem Klassizismus sowie den Nazarenern des 19. Jahrhunderts blieben zwar auch dann noch erkennbar, aber die Neue Sachlichkeit war in der NS-Zeit pervertiert und zu einem Propagandainstrument geworden. Die Ausstellung in der Kunsthalle Mannheim macht die Anschlussfähigkeit eines Teils der Neuen Sachlichkeit an die Forderungen des nationalsozialistischen Kunstbetriebs deutlich. Dazu gehört dann auch, dass die anderen, die Vertreter der gesellschaftskritischen Sachlichkeit, häufig in die innere oder äußere Emigration gedrängt wurden, als entartet diskreditiert wurden, ihre Ämter an den Akademien verloren oder gar in Konzentrationslager verschleppt und ermordet wurden.
Das Jahr 1925 war ein Schlüsseljahr der Moderne mit Gegensätzen, Widersprüchen und Umbrüchen, nicht nur in der Malerei. So kam im gleichen Jahr als serienreifes Produkt die Leica auf den Markt, um die Ära der schnellen Fotografie einzuleiten. Schließlich war es László Moholy-Nagy, der ebenfalls 1925 mit dem Buch Malerei, Fotografie, Film das theoretische Fundament für die Überwindung der traditionellen Bildsprache schuf. Die Fotografie meldete auf zeitlich etwa halbem Weg zwischen den ersten Daguerreotypien um 1830 und der digitalen Gegenwart ihre Forderungen an eine neue Form des Sehens an. Vergleichbares bezweckten die Straight Photography in Amerika, Fotografen aus dem Umfeld des Neuen Sehens jenseits des Bauhauses oder Vertreter der russischen Avantgardefotografie. Der Konstruktivismus eines Moholy-Nagy, das Neue Sehen und später die Subjektive Fotografie setzten alles daran, modern zu wirken und sich von herkömmlichen Sehgewohnheiten abzuheben.
In der Ausstellung werden einige Einflüsse der Fotografie auf die damalige Malerei der Neuen Sachlichkeit deutlich. So lässt sich bei Bildern von Wilhelm Schnarrenberger, Niklaus Stoecklin, Carl Grossberg oder Karl Völker vermuten, dass als Vorlage Fotografien dienten. Die Gemälde wirken teils wie der Ausschnitt eines Kamerabildes, andere zeigen durch ihre Perspektivkonstruktion bis hin zu starken Weitwinkelfluchtlinien, dass ganz offenbar ein fotografisches Sehen zugrunde lag. Auch dies ein bemerkenswerter Nebenaspekt der Mannheimer Ausstellung.
Gibt es nun Parallelen zwischen den Motiven für das Entstehen der Neuen Sachlichkeit in den 1920er Jahren und dem großen Interesse in der Gegenwart? Ist die Wirkung des Expressionismus auf das damals wieder mehr Verständlichkeit suchendes Publikum vergleichbar mit einer gewissen Ermüdung hinsichtlich der komplex gewordenen Gegenwartsmoderne und ihrem teilweise kaum mehr Entschlüsselbaren? Florian Illis merkte dazu in einem Beitrag der ZEIT an: Hundert Jahre später sind wir offenbar keinen Schritt weiter – wieder gibt es dieses Verlangen nach Klarheit in einer unübersichtlich gewordenen Welt.
Einige kürzere Passagen des vorliegenden Beitrages gehen zurück auf den fotosinn Essay Befreiung von der Malerei. Die Ausstellung Die Neue Sachlichkeit. Ein Jahrhundertjubiläum in der Kunsthalle Mannheim ist noch bis 9. März 2025 zu sehen. Begleitend zur Ausstellung ist im Deutschen Kunstverlag ein Katalog erschienen.