Anschein und Gehalt

Walter Benjamin nimmt in seiner Kleinen Geschichte der Photographie Bezug auf Bert Brecht, der sich mit dem Wahrheitsgehalt des fotografischen Bildes befasst hatte. Die Lage, meinte dieser, wird dadurch so kompliziert, dass weniger denn je eine einfache ´Wiedergabe der Realität` etwas über die Realität aussagt. Eine Photographie der Kruppwerke oder der A.E.G. ergibt beinahe nichts über diese Institute. Die eigentliche Realität ist in die Funktionale gerutscht. Die Verdinglichung der menschlichen Beziehungen, also etwa die Fabrik, gibt die letzteren nicht mehr heraus. Es ist also tatsächlich, etwas ´aufzubauen`, etwas ´Künstliches`, ´Gestelltes`.

Soll neben der oberflächlichen Struktur der Dinge auch etwas über deren Funktionen und damit, zumindest indirekt, ihr Innenleben mitgeteilt werden, müssen Bilder also, folgt man Brecht, durch geeignete Maßnahmen, über eine simple Abbildung hinausgehend, konstruiert werden.

Ein wenig erinnert das an Techniken des Theaters, bei denen Dinge aus dem Alltag nicht nur realistisch nachgespielt werden, sondern durch szenische Montageverfahren ein übergeordneter Sinn jenseits des unmittelbar Vorgeführten erkennbar wird. Der Zuschauer ist gefordert mitzudenken und einen möglichen Bedeutungsgehalt zu entschlüsseln beziehungsweise einen solchen für sich zu schaffen. Stets geht es um das Verhältnis zwischen der Erscheinungsform einerseits und dem potentiellen Inhalt des Gezeigten andererseits.

Die Frage nach der Beziehung zwischen Struktur und Funktion hat in früheren Jahren auch die Architektur bestimmt. Geht es im Entwurfsprozess zuerst um die äußere Anmutung eines Gebäudes und dann um die Planung der geforderten inneren Funktionen? Oder umgekehrt, stehen die Funktionen im Vordergrund und kommen erst nachfolgend die Fragen nach der Gestaltung? Vor allem das Neue Bauen gab in den 1920er Jahren eine klare Antwort: Form follows function, die Gestalt eines Gebäudes hat seinen Funktionen zu folgen. Alles, was nicht diesem Ziel dient, galt als überflüssig, etwa Verzierungen und sinnlose Ornamente. Mit der postmodernen Architektur der letzten Jahrzehnte des Zwanzigsten Jahrhunderts hat sich die Polarisierung der beiden Ansätze dann freilich wieder aufgelöst. Der äußere, auch spektakuläre Anschein darf sich nun wieder austoben. Die Aufgaben des Bauwerkes, seine Funktionen, setzen gleichwohl Grenzen. Diese werden in der Regel betriebswirtschaftlich kalkuliert und diktiert. Architekten dürfen zwar phantasievoll planen, das Ganze muss sich aber vor dem Hintergrund der dem Bauwerk gestellten Aufgaben rechnen. Letztlich sind damit dessen Funktionen bestimmend.

Dies gilt nicht immer. Paradebeispiel für eine extreme Formverliebtheit im Äußeren bei Nachrangigkeit der funktionellen Innenaspekte ist die Replik des Berliner Stadtschlosses, heute verschämt Humboldt-Forum genannt. Drei der Fassaden folgen dem ehemaligen Barockentwurf von Schlüter. Das Innere des Baus strahlt hingegen den Charme eines Einkaufszentrums mit langen Rolltreppen und vielen Glaswänden aus. Im Übrigen wurde erst relativ spät nach dem Beschluss zum Bau der Schlossattrappe die Frage erörtert, was man mit dem Gebäude überhaupt anstellen will. Mit dem Ziel einer historisierenden Verschönerung des Stadtbildes ging es den politischen Entscheidungsträgern offenbar vor allem um den Schein einer pseudobarocken Außenanmutung. Der Zweck des Bauwerkes bekam demgegenüber eine nachrangige Bedeutung. Fassade und Innengestaltung haben heute aus diesem Grund nichts miteinander zu tun. Struktur und Funktion sind auseinandergefallen.

So wie man dem Humboldt-Forum nicht ansieht, was in ihm eigentlich vorgeht, zeigt eine Fotografie häufig nur die sichtbare äußere Struktur eines Objektes. Zu seiner Funktion hingegen sagt sie oftmals nichts. Wie beim A.E.G. Gebäude. Natürlich gibt es andere Bilder. Die Fotografie eines Ochsen, der, geführt von einem Bauern, einen Pflug über den Acker zieht, verrät dem Betrachter, was der Ochse tut und zu welchem Zweck Furchen gezogen werden. Die Funktionen werden im Bild unmittelbar deutlich. Das Verdikt von Brecht scheint also nicht unbedingt für alle Fotografien zu gelten. Aber Vorsicht. Auch das Bild des Ochsen informiert nicht darüber, ob es sich bei dem Ochsenführer um einen radikalfundamentalistischen Ökobauern aus Baden-Württemberg handelt oder um den Angehörigen eines ländlichen Kollektivs eines fernen Landes. Eine solche Unsicherheit ergibt sich, wenn nicht weitere Bilddetails eine Bestimmung von Person, Zeit und Raum zulassen. Oder die Bildunterschrift einen Kontext herstellt. Letzteres wäre natürlich auch beim A.E.G. Gebäude möglich gewesen.

Soweit einige Probleme der sogenannten realistischen Fotografie. Will sie mehr als Oberflächliches darstellen und in Tiefenschichten vordringen, muss sie zu besonderen Mitteln greifen. Reicht zum Beispiel der Informationsgehalt einer Einzelaufnahme nicht aus, lassen sich im Feld des Dokumentarischen mit Bildserien und Begleitkommentaren auch komplexe Zusammenhänge vermitteln. Und in der freien, nicht an dokumentarische Standards gebundenen Fotografie können Mehrfachbelichtungen, Spiegelungen und andere Montagetechniken Informationen so zusammenfassen, dass der Betrachter eine Wirklichkeit hinter den Dingen zu erkennen oder zu erahnen vermag. Der Fotograf wird zum Konstrukteur.

Den eingangs zitierten Worten von Brecht fügte Benjamin übrigens hinzu: Wegbereiter einer solchen photographischen Konstruktion herangebildet zu haben, ist das Verdienst der Surrealisten. Bei diesen werden verschiedene Wirklichkeitsebenen so verschränkt oder addiert, dass der Betrachter gefordert ist, sich einen Sinn des Ganzen zu erarbeiten. Der letzte Blogbeitrag Surreale Wunderwelten hat sich am Beispiel Max Ernst damit näher befasst.

 

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Surreale Wunderwelten