Der Schauder beim Anblick des Genialen

Gute Fotografie ist zu 95 Prozent das Ergebnis gelernten Handwerks. Gleichwohl wird den genialen fünf Restprozenten oftmals eine größere Bedeutung beigemessen. Im Übrigen gilt dies für jede Kunst. Aber so sind wir nun einmal konditioniert: Ein Künstler oder eine Künstlerin gilt vor allem dann etwas, wenn er oder sie den Eindruck erweckt, Transzendentes hinter den Erscheinungen erfasst zu haben und dieses im Werk zum Ausdruck bringt. Trotz aller skeptischen Erkenntnistheorien von Platon und Kant bis zur Postmoderne suchen wir nun einmal gerne nach dem Eigentlichen hinter den Dingen, wohl wissend, dass dies im Sinne letzter Wahrheiten nicht zu haben ist.

Selbst die Wissenschaft hat in der Regel keine ewig geltenden Antworten im Portfolio, sondern lediglich Hypothesen und Theorien auf der Grundlage zeitabhängiger Paradigmen. Und auch Religiöses bietet in säkularen Zeiten keine allgemein akzeptierten Antworten auf die existenziellen Fragen des Seins. Dem aufgeklärtenMenschen bleibt als Quelle der Wahrheit offenbar nur die Kunst mit ihrem einzigartigen, keiner Begründung bedürftigen Wesen.

Soweit das gerne gepflegte Bild, das nicht zuletzt von Kunstschaffenden selbst übernommen wird. Dies ist verständlich, aber bereits Nietzsche verspürte Zweifel hinsichtlich der Substanz solcher Annahmen. Hatte er sich in der Phase seiner Verehrung Richard Wagners noch dem Dionysischen verschrieben und gemeint, im Mythos sowie in der Kunst die höchste Form der Erkenntnis gefunden zu haben, wendete sich diese Überzeugung nach der Abkühlung des Verhältnisses zum Bayreuther Meister in ihr Gegenteil. Der Wandel hing nicht zuletzt mit Nietzsches Bayreuth-Erfahrung zusammen. Die erstmals 1876 veranstalteten Festspiele stellten sich nicht als befreiendes dionysisches Fest dar, sondern entpuppten sich als eine kalkulierte Eventveranstaltung derjenigen, die sich als fortschrittlicher Teil der gesellschaftlichen Elite verstanden. Nietzsche empfand den Kult um Wagner nun als peinliche Verirrung.

In Menschliches, Allzumenschliches aus dem Jahr 1878 wird die Verehrung des dionysischen Genies scharfzüngig aufs Korn genommen. Für Nietzsche war es ein Befreiungsschlag. Der Künstler, nicht nur Wagner, vielleicht nur ein überschätzter Egomane? Das Kunstwerk gar ein Religionsersatz? Welche Projektionen finden da statt? Welche Phantasmen bilden sich rund um die Kunst? Nietzsche beginnt mit solchen Überlegungen eine Reihe kulturkritischer Betrachtungen, die seine Schriften bis zum Erlöschen der Artikulationskraft im Jahr 1889 prägen sollten. Im Vierten Hauptstück von Menschliches, Allzumenschliches mit dem Titel Aus der Seele der Künstler und Schriftsteller zeigt er seine sezierende Geistesschärfe. Eine der Thesen: Der Mensch ist es gewohnt, bei aller Vollkommenheit eines Kunstwerkes die Frage nach dessen Entstehen zu vernachlässigen.

Allzu gerne ist das Publikum geneigt, Kunstwerke als Ergebnisse von Geniestreichen zu betrachten, bei denen der Künstler die Rolle eines Mediums emporgeschleuderter Urwahrheiten einnahm. Dem Künstler selbst sei dies, so Nietzsche, durchaus bewusst. Er wisse, dass sein Werk nur voll wirkt, wenn es den Glauben an eine Improvisation, an eine wundergleiche Plötzlichkeit der Entstehung erregt. Die Realität ist jedoch dadurch geprägt, dass es in der Phantasiewelt ständig irgendwelche Ereignisse gibt, darunter herausragende, aber eben auch jede Menge mittelmäßiger und unbrauchbarer. Die eigentliche Kunst bestehe, so Nietzsche, darin, gezielt das Besondere auszuwählen, dieses neu zusammenzustellen und die übrigen Dinge beiseite zu legen. Das geniale Werk ist deshalb nicht Folge spontaner Eingebung, sondern vor allem das Ergebnis von Erfahrung, handwerklichem Können sowie beharrlicher Arbeit. Und des konsequenten Verwerfens aller Dinge, die nicht gelungen sind.

Dem menschlichen Verlangen nach transzendentem Sinn steht die nüchterne Analyse eines Kunstwerkes allerdings im Wege. Der Betrachter will glauben, dass ihm etwas Höheres, Ersatzgöttliches geboten wird. Und er berauscht sich nur allzu gerne am eigenen Vermögen, das Übermenschliche im Werk erkannt zu haben. Das Geniehafte überträgt sich so auf den Betrachter selbst. Die Berücksichtigung der vorangegangenen Mühen des Künstlers würde da eher entzaubernd wirken. Aber glücklicherweise findet der Entstehungsprozesses ja im Verborgenen statt. Auf den Betrachter wirkt das Werk allein in seinem Endzustand. Auch der Künstler selbst läuft im Übrigen Gefahr, aus der Zuschreibung des Publikums ein Selbstbild mit Glorienschein zu kreieren. Er ist dann vom Geniehaften des eigenen Ich überzeugt und wird von einem prickelnden Schauder ergriffen.

Beim vorstehenden Text handelt es sich um eine überarbeitete Fassung der Eingangspassagen des fotosinn Essays Die Sache mit der Kunst.

 

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