Das hätte mein Kind malen können

Die herkömmliche Grenzziehung zwischen ernster Hochkultur und ihrer populären Unterhaltungsschwester ist fragwürdig geworden. Nun ist dies keine neue Erscheinung. Es hat bereits mit der Postmoderne und dem Anything goes begonnen, wenn nicht noch früher mit Dada, dem Surrealismus oder schon dem Impressionismus. Die Etablierten fühlten sich stets von den Regelverletzern bedroht, obwohl viele von diesen anstrebten, nicht nur als Avantgardisten wahrgenommen zu werden, sondern selbst Teil der Hochkultur zu sein. Wie etwa Warhol, der wie kaum jemand zuvor das populäre Pferd ritt, gleichzeitig jedoch zum künstlerischen Establishment gezählt werden wollte, ob nun ironisch gemeint oder nicht. Der Kanon der Hochkultur wurde jedenfalls erweitert und umfasst nun schon seit längerer Zeit neben den Klassikern auch allerlei aus der Contemporary Art. Und in der Musik, dies ein Beispiel jenseits der Bildenden Künste, ist es dem Jazz gelungen, seinen Status vom Unterhaltsamen hin zum intellektuell Wertvollen zu verschieben.

Heute hat aber selbst der erweiterte Kanon des Ernsthaften an Dominanz gegenüber dem Unterhaltungskulturellen verloren, zu dem auch Computerspiele, Comics, Kriminalromane oder TV-Seifenopern gerechnet werden können. Das Ergebnis ist allerdings keine entspannte Friedfertigkeit, sondern, ganz im Gegenteil, ein heftiges aufeinander Eindreschen. Auf der einen Seite trifft es die Kunstbanausen, die sich am Billigen und am Kitsch ergötzen, und auf der anderen Seite die Spießer oder Wichtigtuer mit ihrem elitären Gehabe im Opernhaus und bei der Vernissage. Solange sich das auf der Ebene einer gepflegten sprachlichen Auseinandersetzung abspielt, muss es ja nicht von Übel sein, zeugt es doch von der vitalen Wirkung, die Kunst entfalten kann. Die Abgrenzung von Hoch- und Populärkultur scheint jedenfalls die Gemüter anzuregen und die Durchblutung zu fördern.

Der Literatur- und Kulturwissenschaftler Johannes Franzen hat kürzlich mit dem Buch Wut und Wertung. Warum wir über Geschmack streiten eine Analyse der Lage vorgelegt, die sich spannend lesen lässt und durch den Verzicht auf die wohlfeile Verteidigung eines der beiden Lager einen Beitrag zur Entspannung leistet.

Im Laufe der Zeit hat sich ein modernes Kunstparadigma entwickelt, das der Klassifizierung dient. Künstlerische Hervorbringungen werden entweder der Hochkultur zugeordnet oder dem Massengeschmack, der vor allem der Befriedigung hedonistischer Bedürfnisse dient. Hochkultur darf und will mitunter anstrengend sein, Unterhaltungskultur möchte eingängig sein und einfach nur gefallen. Vorlieben sind dabei weniger eine Frage persönlicher Wahlentscheidungen, sondern überwiegend das Ergebnis von Sozialisationsprozessen. Gleichwohl stellt sich die Frage, warum eigene Präferenzen oftmals mit emotionaler Empörung gegen Andersdenkende verteidigt werden, statt dem liberalen Grundsatz leben und leben lassen Geltung zu verschaffen. Franzens Erklärung: Ästhetische Urteile haben ein hohes Verletzungspotential. Unser Geschmack ist eine Erzählung darüber, wer wir sind, vor allem aber darüber, wer wir nicht sein wollen. Und gerade in dieser Funktion der Abgrenzung liegt der Zündstoff für die heftigen Konflikte, die sich um die scheinbar unschuldige Frage, was gute und was schlechte Kunst eigentlich ist, entwickeln.

Wenn ein künstlerisches Objekt kritisiert oder gar niedergemacht wird, trifft dies nicht nur das Werk an sich, sondern auch das Selbstverständnis derjenigen, die ein solches Objekt wertschätzen. Sie fühlen sich angegriffen. Das Motiv für die Attacke liegt in der Orientierung an den Normen derjenigen gesellschaftlichen Teilkultur, der man sich selbst zurechnet, und in der Distinktion gegenüber den Verhaltensweisen und Präferenzen anderer. Diese werden zum Zwecke der eigenen Identitätsstützung abgelehnt. Das kann bis zu einer regelrechten Abscheu vor dem fremden Geschmack ausarten, wie schon Ende der 1970er Jahre Pierre Bourdieu feststellte. Distinktionen bestimmen ein weites Feld des Alltags. Zu ihnen gehören die Fragen, wie man sich kleidet, seine Wohnung einrichtet, welche Reisen man unternimmt, welche Restaurants besucht werden und eben auch Allerlei aus der Welt des Kulturellen. Welche Ausstellungen muss man gesehen haben, welche Filme und welche Musik werden konsumiert und so weiter. Noch einmal Franzen: Der gesellschaftliche Wert einer Person definiert sich nicht nur darüber, wie viel Geld man auf dem Konto hat und wen man kennt, sondern auch darüber, ob man die richtigen Bücher liest und im Konzertsaal an der richtigen Stelle klatscht.

Hinzu kommt, dass ästhetische Urteile, die einen Anspruch auf unbedingte Gültigkeit erheben, in der Regel mit Autoritätsfragen verbunden sind. Und es geht auch um Geld und die Verteilung knapper Ressourcen. Dies betrifft sowohl die Alimentierung des Kulturbetriebes durch die staatliche Kulturpolitik wie dessen Praxis selbst. Ein Gemälde, das als museumsgeeignet kuratiert wird, oder Fotografien, die von einer angesagten Galerie entdeckt und promotet werden, ein Popsong, der mit Hilfe eines geschickten Marketings in die Charts gedrückt wird, oder der Roman einer Autorin, die vom Feuilleton gelobt wird - in allen diesen Fällen dürfen die Beteiligten mit Wertsteigerungen der Werke oder mit anderen geldwerten Vorteilen rechnen.

Wer über den Status verfügt, Kunst zu definieren, besitzt nicht nur Autorität, sondern übt Macht aus. Kein Wunder, dass dies Widerstand hervorruft. Der Spruch Das hätte mein Kind malen können lässt sich hierfür als Symptom und als Versuch einer Kritik an Eliten deuten, die sich anmaßen, eine ästhetische Überlegenheit zu behaupten. Und in der Tat, es könnte ja sein, dass es sich beim elitären Kunstverständnis und seinen praktischen Erscheinungsformen um einen Schwindel handelt. Dies würde allerdings voraussetzen, dass es einen universellen, objektiven Kunstbegriff überhaupt gibt. Davon kann jedoch nicht die Rede sein. Ästhetische Werte sind soziale Konstrukte, die entstehen, wenn sich definitionsmächtige Akteure auf Kriterien für gute Kunst verständigen. Dies geschieht meist unterhalb der Oberfläche bewusster Absprachen und ist weniger eine gesteuerte Verschwörung. Zu den Akteuren können Vertreterinnen und Vertreter von Galerien, Auktionshäusern, Kunstinvestoren, Medien, Museen oder auch eine kunstaffine Elite gehören, die sich auf Empfängen und Partys trifft. Man kennt sich und ist einig hinsichtlich der angesagten Kunst. Das Ergebnis bleibt jedoch kontingent. Es hätte auch anders ausfallen können. Die Kriterien für gute Kunst und die Antwort auf die Frage, welcher Künstler oder welche Künstlerin dazugehören, werden immer wieder neu ausgehandelt.

Der sich daraus ergebende Relativismus ästhetischer Werte macht die Sache nicht einfacher. Zweifel, ob es sich bei einem Objekt um Kunst handelt, sind niemals vollständig auszuräumen. Das hätte mein Kind malen können. Streit ist immer möglich. Im Übrigen sind die Grenzen des Kunstparadigmas durchlässig geworden. Selbst der hochkulturelle Avantgardist darf sich heute ohne Ansehensverlust dazu bekennen, hin und wieder Kriminalromane zu lesen und Taylor Swift zu hören. Für das klassische Kunstparadigma ist das nicht ohne Bedeutung. Die populäre Kultur hat hinsichtlich ihrer Breitenwirkung und ihrer Umsätze die einstmals wertvolle Kunst an den Rand gedrängt. Hoch- und Massenkultur sind im Übrigen mitunter nur noch schwer voneinander zu unterscheiden. Klassik Radio etwa lebt vom Mischmasch und ist für manche der ideale Sender. Hier muss nichts mehr klassifiziert werden.

Dies bedeutet nicht, dass der Streit um die Kunst nun beendet ist. Er wird im Zeitalter Sozialer Medien jedoch auf eine neue Art geführt. Gehörten die professionellen Kunstkritiker einst selbst der ästhetisierenden Elite an, so ist heute mit den digitalen Kanälen jedem und jeder die Möglichkeit gegeben, sich am Diskurs zu beteiligen. Dies hat, hierzu noch einmal Franzen, einen ungeheuren Schub an Teilhabe am öffentlichen Gespräch über Kunst und Kultur bewirkt. Elitäre Perspektiven haben an Bedeutung verloren und das hochkulturelle Kunstparadigma steht unter Druck. Aber gerade Rückzugsgefechte werden häufig besonders intensiv ausgetragen. Genial auf die Schippe genommen wird der Prozess der Entzauberung des Hochkulturellen im Übrigen in Hape Kerkelings Hurz-Sketch sowie Loriots Krawehl. Und dass man inzwischen so manche Erzeugnisse der Contemporary Art banal oder Peter Handkes Werke langweilig finden darf, ohne aus der Gemeinde der edlen Ästheten ausgeschlossen zu werden, ist auch keine schlechte Entwicklung.

Das erwähnte Buch Wut und Wertung. Warum wir über Geschmack streiten von Johannes Franzen ist im S. Fischer Verlag erschienen.

 

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Der Schauder beim Anblick des Genialen

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Übermütige Architektur