Braucht die Fotografie eine neue Definition?

Es sind nicht einmal fünf Monate vergangen, seit im Mai in einem Blogbeitrag die neuen, KI-gestützten Bildbearbeitungsfunktionen beschrieben wurden. Im Mittelpunkt stand die Möglichkeit zur Ersetzung definierter Bildelemente durch frei Erfundenes. Das Tool konnte zunächst nur in einer Beta-Version von Photoshop genutzt werden, inzwischen ist es Bestandteil des regulären Programms. Weitere Möglichkeiten sind hinzugekommen. Der damalige Blogbeitrag kann damit als überholt gelten. Dies zeigt, welche Dynamik die KI-Entwicklung gegenwärtig vorlegt. Damit könnte sich auch für die Fotografie ein Paradigmenwechsel bzw. eine Paradigmenerweiterung anbahnen.

Man darf davon ausgehen, dass die neuen Optionen wie zuvor schon die alten Funktionen zur Bearbeitung von Fotografien in der Praxis intensiv genutzt werden. Wir werden es künftig kaum noch mit Fotografien zu tun bekommen, die nicht durch irgendeine KI-Mühle geschickt worden sind. Dazu sind die neuen Bearbeitungsmöglichkeiten zu verlockend und zu wirkungsvoll. Ein störendes Bildelement lässt sich ohne umständliche und im Ergebnis häufig unbefriedigende Stempelei flink entfernen und durch einen passenden Hintergrund ersetzen. Das hatten wir uns doch schon immer gewünscht, oder? Mehr noch: Soll das pittoreske Haus in der zuvor bereits bearbeiteten Landschaft nicht rot, sondern gelb gestrichen und aus Holz statt aus Stein gebaut sein – alles ist machbar. Wer das Ergebnis auf einem Monitor betrachtet, wird die Manipulation nicht ohne Weiteres bemerken.

Neu ist das alles, wie gesagt, nicht wirklich. Schon zuvor bot Photoshop diverse Möglichkeiten der Bildbearbeitung bis hin zur Bildfälschung. Wollten diese jedoch unauffällig, also gut gemacht, sein, so waren einige Fertigkeiten gefragt, die nicht jede/jeder auf die Schnelle mitbringt. Diese Voraussetzung entfällt in der neuen KI-Welt. In Nullkommanix ist versteh- und umsetzbar, wie sich ein Bild gefällig verändern lässt. Und genau dies ist der Grund dafür, dass sich die KI-Bearbeitungstools auf breiter Ebene durchsetzen werden. Sie sind einfach zu handhaben und vom Betrachter eines Bildes schwer oder gar nicht zu durchschauen. Zwar gibt es gegenwärtig noch zahlreiche Beispiele für schwächelnde Ergebnisse, etwa bei der Darstellung von Händen, aber auch das wird sich in den nächsten Monaten verbessern. Hinzu kommen inhaltliche Fehler, wenn etwa der KI-Bot aufgefordert wird, historisch unwahrscheinliche oder gar unmögliche Bildzusammenhänge zu konstruieren. Napoleon mit einem Smartphone in der Hand passt eben nicht so recht. Aber es handelt sich hierbei um eine Frage der Eingabeaufforderung, nicht um eine Schwäche der Software an sich. Kurz, aus bildforensischer Sicht wird es für Alltagsbetrachtende immer schwieriger, Manipulationen zu erkennen.

Wie aber lässt sich bei dieser Entwicklung das Medium Fotografie künftig definieren und von anderen Bildformen abgrenzen? Es ist dies eine Frage, bei der sich die fotografischen Fachgesellschaften schwertun. Will man alle diejenigen ausgrenzen, die zur Bildbearbeitung KI-Tools einsetzen? Aus den oben genannten Gründen wird dies kaum möglich sein. Es sein denn, man zieht sich auf den Status einer puristischen Sekte zurück. Aber selbst in analogen Zeiten brachten Dunkelkammerspezialisten erstaunliche Manipulationsergebnisse zustande. Damit sind nicht nur politisch intendierte Retuschen gemeint, um in Ungnade Gefallene bildlich auszulöschen, sondern auch die aus gestalterischen Gründen vorgenommene Veränderungen. Von künstlerischen Collagen und Montagen ganz zu schweigen. Käme jemand auf die Idee, Moholy-Nagy oder Man Ray aus dem fotografischen Diskurs auszuschließen? Die Grenzlinien der Fotografie müssen offenbar anders gezogen werden. Einzig sinnvoll erscheint hierbei die Kontextualisierung eines Bildes.

Es gibt nicht Die Fotografie. Sie fand schon immer in unterschiedlichen Funktionalzusammenhängen statt. Im Gegensatz zu früheren Zeiten gibt es im Übrigen keine exklusiv richtige Interpretation der Welt. Nichts ist beschreibbar, ohne dass es aus einer Perspektive wahrgenommen wird. Die soziologischen Systemtheorien von Talcott Parsons bis Niklas Luhmann haben gezeigt, wie sich die Gesellschaft in Teilbereiche ausdifferenziert hat, mit denen der Einzelne in unterschiedlicher Weise verbunden ist. Wesentliche Subsysteme sind die Wirtschaft, die Politik, das Rechtssystem, die Religion, das Bildungssystem und die Wissenschaft. Hinzu kommen die Welt der Kunst sowie das Netz privater Beziehungen. Das soziale Handeln und die Kommunikation, somit auch die Fotografie, folgen in den Subsystemen jeweils eigenen Logiken.

Es gibt keine eindimensionale Bedeutung eines Bildes. Für einen ästhetisch Interessierten, einen Kunstspekulanten, einen Bildredakteur, einen Historiker oder für Freunde und Bekannte kann ein und dieselbe Fotografie höchst unterschiedliche Bedeutungen haben. Das genormte Passbild aus dem Bahnhofsautomat, die anthropologische Sammlung von Gesichtern aus fremden Welten, die Polizeidatenbank, das Überwachungsfoto, das Selfie zum Festhalten des gerade Erlebten, das professionelle Foto der Fachkamera und schließlich die sogenannte Kunstfotografie sind so unterschiedliche Erscheinungsformen, dass eine definitorische Homogenisierung nicht einmal auf der Metaebene Sinn macht.

Der Versuch, das fotografische Muster aus einem der Subsysteme heraus begreifen zu wollen und verallgemeinernd auf andere zu übertragen, ist dennoch so alt wie die Fotografie selbst. Und so kommt es, dass Dokumentaristen den objektiven Charakter des mit der Kamera aufgenommenen Bildes betonen und KI-Eingriffe ablehnen müssen, während der Künstler eine grundsätzliche Unabhängigkeit reklamiert und jeden zwingenden Wirklichkeitsbezug für eine überflüssige Idee hält. Im fotosinn-Essay Soziologie mit der Kamera wurde das Thema Kontextualisierung näher beschrieben.

Um zur Ausgangsfrage zurückzukommen: Brauchen wir eine neue Definition der Fotografie? Nein, das ist nicht notwendig. Was wir aber brauchen, ist ein klares Verständnis dafür, in welchen Fällen eine Fotografie unbedingte Authentizität versprechen muss. Eine Zertifizierung erscheint hier als der richtige Weg. Und so konzentriert sich die Problematik in erster Linie auf das Dokumentarische. In allen anderen Bereichen ist es unbedeutend oder zweitrangig, ob bei der Bildherstellung ein KI-Tool mitgespielt hat. Wenn überhaupt, so könnte für solche Bilder eine neue Definition gefunden werden. Dafür gibt es auch schon Vorschläge. Unabhängig von dieser Frage ist die Medienkompetenz des Betrachters stets von Vorteil. Schließlich geht es darum, das dokumentarische von einem freien Bild unterscheiden zu können. Was immer schwieriger wird.

 

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