Joel Meyerowitz und die Straßenfotografie
Ratgeber zum Fotografieren gibt es viele. Mal technisch orientiert und mit Hinweisen auf die Wirkung von Blende, Verschlusszeit und anderen Parametern. Andere befassen sich mit Gestaltungsfragen. Da wird der Goldene Schnitt empfohlen oder die proportionierte Aufteilung von Vorder-, Mittel- und Hintergrund. Andere sprechen einen entgegengesetzten Ratschlag aus und bevorzugen die freie Formensprache. Alles ist möglich, klare Regeln gibt es nicht. Ein Blick auf die aktuelle Fotoszene bestätigt das. Anything goes. Nicht zuletzt gilt dies für die Straßenfotografie.
Übrig bleiben, will man am Ratgeberdenken festhalten, die subjektiven Aspekte des Fotografierens. Und da lässt sich von den Haltungen mancher Fotografinnen und Fotografen einiges lernen. Einige von ihnen haben sich zu ihren Motivationen und Motiven geäußert, so Joel Meyerowitz. Das im Jahr 2019 in der Reihe Masters of Photographs im Verlag Laurence King erschienene, englischsprachige How I Make Photographs fasst einige seiner Gedanken zusammen. Schon die Titelformulierung erweckt Aufmerksamkeit, denn Meyerowitz verwendet nicht die verbreitete Phrase To Take Photographs, sondern betont die aktiven Gestaltungsanteile. Fotografien werden nicht genommen, sie werden gemacht.
Joel Meyerowitz zählt zu denjenigen Fotografen, denen einige ikonische Bilder gelungen sind, die zum klassischen Inventar der Fotografiegeschichte gehören. Retrospektiven wie im NRW-Forum Düsseldorf oder im C/O Berlin vor einigen Jahren oder aktuell die Zusammenstellung der Galerie NOACK zeugen davon. Anlässlich seines 85. Geburtstages zeigt diese in Zusammenarbeit mit der Howard Greenberg Gallery, New York, sein Werk in einer nicht umfassenden, aber gleichwohl sehenswerten Form. Die Ausstellung in Berlin kann noch bis zum 16. Dezember 2023 besucht werden.
In einem im Magazin MUSÈE. Vanguard of Photography Culture veröffentlichten Beitrag von Brigid Kapuvardi hat Meyerowitz ein prägendes Erlebnis mit einem Fotografenkollegen, es handelte sich um keinen geringeren als Robert Frank, aus dem Jahr 1962 geschildert: Die Art, wie er arbeitete, war eine Offenbarung. Wann immer ich das Klicken der Kamera hörte, schien es, als ob der Moment für Robert einen wichtigen Punkt erreicht hatte: Ein entscheidender Moment, in dem die kleinste Geste oder der Gesichtsausdruck Bedeutung oder Schönheit oder Inhalt oder Präsenz zu haben schien. Und: Als ich das Shooting verließ, war das Leben auf der Straße auf eine Weise sichtbar geworden, die es vorher nicht gegeben hatte (Freie Übersetzung, U.M.).
In der Tat, Robert Franks in Schwarzweiß fotografiertes The Americans kann als Vorläufer der Arbeiten von Meyerowitz gelten, der sich später der farbigen Street-Photography zuwandte. In dem 2018 erschienenen Where I Find Myself hat er dann einige seiner über die der Begegnung mit Frank hinausgehende Haltungen zur Fotografie beschrieben. Eine Art Zusammenfassung bietet das oben erwähnte How I Make Photographs.
In zwanzig prägnanten Thesen werden die Rahmenbedingungen der Street-Photography ohne langatmige Theorie auf den Punkt gebracht. Meyerowitz beginnt mit dem Appell, sich selbst als freier Künstler zu verstehen, und endet mit dem Ratschlag, sich aktiv um die Verbreitung der eigenen Werke zu kümmern. Dazwischen erfolgen in achtzehn weiteren Abschnitten Empfehlungen für das Agieren auf der Straße und für den Umgang mit der Kamera. Alles gut lesbar und ohne pädagogischen Zeigefinger: Lass Dich vom Geschehen inspirieren, betrachte das alltägliche Geschehen, suche, oder finde zufällig, einen entscheidenden Moment, scheue nicht das Gespräch, achte auf Details, höre auf Deinen fotografischen Verstand ebenso wie auf Dein Gefühl, suche die Story. Hinzu kommen ein paar technische Empfehlungen, etwa die zur Verwendung der persönlich passenden Objektivbrennweite oder zur Bildauswahl im Rahmen der Postproduktion.
Die Thesen klingen nicht unbedingt neu und man mag spontan denken, alles schon gehabt. Die Art, wie Meyerowitz seine Haltung zur fotografischen Praxis beschreibt, ist dennoch beeindruckend und bietet dem vielleicht nach einer neuen Motivation fürs Fotografieren Suchenden eine Menge Impulse. Fazit: Eine empfehlenswerte, gut lesbare Lektüre, nach der man gerne wieder einmal mit der Kamera die Straße erkundet.