Sozialistischer Klassizismus (4)

Warum sich die Architekten der Stalinallee in den 1950er Jahren an sowjetischen Vorbildern orientierten und nicht an der modernen Bautradition der Weimarer Republik, lässt sich aus der Zeit heraus und mit Blick auf die politischen Abhängigkeitsverhältnisse erklären. Walter Ulbricht und andere waren im Moskauer Exil nicht nur ideologisch, sondern auch ästhetisch geprägt worden. Die Hauptstadt der DDR sollte aussehen wie die des großen Bruderstaates.

Dennoch wirkten die Traditionen des Bauhauses und des Neuen Bauens der 1920er Jahre zunächst unterschwellig nach. So bemühten sich Planer wie Hermann Henselmann, einer der wichtigen Architekten der Stalinallee, an diesen anzuknüpfen. Erst einmal vergeblich. Henselmanns ersten Entwürfen wurde Formalismus vorgeworfen. Damit waren sie erledigt. Formalismus galt in der politischen und ästhetischen Auseinandersetzung als vernichtendes Urteil.

Dennoch gehörten zu den frühen Bauten der Stalinallee die am Neuen Bauen orientierten Laubenganghäuser von Hans Scharoun und Ludmilla Herzenstein. Sie wurden bereits in den letzten 40er Nachkriegsjahren als Bestandteile einer modernen Wohnzelle Friedrichshain geplant.

Von Henselmann ursprünglich sachlich-funktionell geplant, arbeitete er den Entwurf aufgrund der Funktionärsvorgaben aus Moskau und Berlin klassizistisch um. Die Kubatur des Hochhauses an der Weberwiese, etwas im Hintergrund der heutigen Karl-Marx-Allee, lässt die ursprünglich gedachte Formensprache allerdings erahnen. Gleichwohl wurde Henselmann für seine Anpassung belohnt. Ihm wurde die Oberverantwortung für den gesamten ersten Bauabschnitt der Stalinallee übertragen.

Paradigmatische Basis für die sozialistische Planung der Stalinallee bildeten die Grundsätze des Städtebaus aus dem Jahr 1950. Unter Ziffer fünf hieß es dort: Der Stadtplanung zugrunde gelegt werden müssen das Prinzip des Organischen und die Berücksichtigung der historisch entstandenen Struktur der Stadt bei Beseitigung ihrer Mängel. Hieraus ließ sich eine Anlehnung an den Schinkelschen Neoklassizismus ableiten, zumal es unter Ziffer vierzehn hieß: Die Architektur verwendet dabei die in den fortschrittlichen Traditionen der Vergangenheit verkörperte Erfahrung des Volkes. Weitere Vorgaben erfolgten im sechsten Grundsatz: Auf den Plätzen im Stadtzentrum finden die politischen Demonstrationen, die Aufmärsche und die Volksfeiern an Festtagen statt. Das Zentrum der Stadt wird mit den wichtigsten und monumentalsten Gebäuden bebaut, beherrscht die architektonische Komposition des Stadtplanes und bestimmt die architektonische Silhouette der Stadt. Die Partei hatte damit unmissverständlich ihre Erwartungen formuliert. Andere Grundsätze befassten sich mit verkehrlichen, infrastrukturellen und wohnbaulichen Planungsaspekten, die auch heute als diskussionsfähig gelten können.

Mit den Grundsätzen des Städtebaus war der Rahmen gesteckt und mit dem Nationalen Aufbauprogramm von 1951, das in allen größeren Städten der DDR Berücksichtigung fand, wurden die Vorgaben noch einmal manifestiert. Real galten diese solange, wie die Ära Stalin andauerte. Dies bedeutete, dass der in der Sowjetunion von Chruschtschow Ende der 50er Jahre eingeleitete Prozess der Entstalinisierung letztlich auch die DDR erreichte und die Städteplanung vom bislang herrschenden Paradigma befreite. Die 1951 errichtete Stalinstatue wurde 1961 in einer Nacht- und Nebelaktion abgerissen und die Stalinallee in Karl-Marx-Allee umbenannt. Der Baustil des Sozialistischen Klassizismus war ebenfalls passé. Nun konnten sich die Planer an internationalen Architekturtrends orientieren. Aber es ging nicht nur um eine Anknüpfung an das Neue Bauen, sondern auch um serielle Fertigungstechniken. Deren spätere Diskreditierung als ostdeutsche Platte ist im Übrigen eine westliche Erfindung. In der Bundesrepublik plante und baute man seit den 1960ern ebenfalls flächendeckend mit vorgefertigten Bauteilen.

In der DDR war nun auch die Frage entschieden, ob die Bauten der Stalinallee mit ihrem immensen Ressourcenaufwand und den damit verbundenen Kosten überhaupt ein Vorbild für die landesweite Lösung der Wohnungsfrage sein konnten. Sie waren schlichtweg zu teuer geraten. Von der weiterhin fatalen Erinnerung an den Aufstand der Arbeiter der Stalinallee aufgrund erhöhter Erfüllungsnormen am 17. Juni 1953 ganz zu schweigen. Hinzu kamen aktuelle politische Aspekte. Das Streben der DDR nach internationaler Anerkennung erforderte die Orientierung an einer modernen Architektursprache. Und Funktionalismus war da nun einmal angesagter als die bisherige neoklassizistische Pseudohistorie.

Bereits 1962 wurde gegenüber einem der verpönten Laubenganghäuser als einer der ersten Bauten der DDR nach dem Paradigmenwechsel auf der anderen Seite des Boulevards, nun Karl-Marx-Allee, das Kino Kosmos fertiggestellt. Mit über tausend Plätzen war es das größte und modernste Kino des Landes, heute eine Event-Location mit saniertem Outfit. Damals Peitsche und Zuckerbrot. Einerseits Bau der Mauer 1961, andererseits Vergnügungen fürs Volk.

Die Laubenganghäuser rufen im Vergleich zu den geschützten Prachtbauten des sozialistischen Klassizismus keine ähnliche Aufmerksam hervor. Sie sind nun einmal weniger auf Wirkung bedacht als die Vorzeigeobjekte der Stalinallee.

Als man sich anfangs der 1950er Jahre politisch für den Neoklassizismus nach Moskauer Vorbild entschieden hatte, wurden die Laubenganghäuser straßenseitig mit schnell wachsenden Bäumen verdeckt. Sie galten nun als westlich und nicht repräsentativ für die neue sozialistische Architektur. Damit war auch das Projekt Wohnzelle Friedrichshain erledigt.

Hermann Henselmann fügte sich der politischen Windrichtung. Vom Neuen Bauen und der Tradition des Bauhauses war offiziell keine Rede mehr. Sein Hochhaus an der Weberwiese war als erstes Werk des Projektes Stalinallee Ausdruck der Neuorientierung.

Es machte ästhetisch und planerisch Sinn, das Kino Kosmos auf der nördlichen Straßenseite gegenüber einem der Laubenganghäuser zu platzieren. Beide folgten inmitten einer neoklassizistischen Umgebung der funktionalistischen Tradition.

Das Kino Kosmos war nur ein erster Ausdruck der neuen DDR-Architektur der 1960er Jahre. Die Bauten der Karl-Marx-Allee westlich des Strausberger Platzes in Richtung Alexanderplatz setzen den Stil fort. Markant ist hier eine weitere Vergnügungsstätte, das Kino International, momentan aufgrund umfangreicher Sanierungsmaßnahmen eingerüstet. Dahinter das Rathaus des Bezirks Mitte.

Das Café Moskau mit Sputnik auf dem Dach und schließlich das Haus des Lehrers von Hermann Henselmann, der nun endlich am Alexanderplatz einen an Le Corbusier orientierten Stil unter Hinzufügung einiger sozialistischer Bildmotive verwirklichen konnte, hatten mit dem klassizistischen Stil der ehemaligen Stalinallee ebenfalls nicht mehr viel gemeinsam.

Auch die weiteren Bauten am Alexanderplatz einschließlich des 1969 eröffneten Fernsehturms folgten dem Paradigma der funktionellen Gestaltung. Hinzu kamen Planungen für Wohngebäude in anderen Stadtbezirken, die allesamt auf der Verwendung serieller Vorprodukte basierten. Architektonisch war die DDR in der Moderne angekommen.

Der Sozialistische Klassizismus der Stalinallee repräsentiert im Rückblick eine relativ kurze Epoche der Architekturgeschichte und steht dennoch aufgrund seiner Dominanz zwischen Strausberger Platz und Frankfurter Tor zu Recht unter Denkmalschutz. Die Bauten sind historisch vor allem bei Berücksichtigung ihrer Rahmenbedingungen von Bedeutung. Städtebau ist stets auch kulturelle Zeitgeschichte. Dies gilt im Übrigen für die DDR ebenso wie für die neue Gesamtrepublik nach 1990.

Städteplanung und Architektur sind häufig Ergebnis eines nicht immer fundiert ausgebildeten ästhetischen Geschmacks politischer Entscheidungsträger. Das war bei den Funktionärsverantwortlichen der Stalinallee nicht anders als bei den neurepublikanischen Beschlüssen zum Abriss des Palastes der Republik und zum Bau des wilhelminischen Stadtschlosses, heute im Nachhinein mit latent schlechtem Gewissen verschämt Humboldtforum genannt. In diesem Fall darf man allerdings davon ausgehen, dass es nicht, wie die Stalinallee, eines Tages unter Denkmalschutz gestellt wird. Dazu ist der Bau zu inhomogen und auf oberflächliche Wirkung bedacht: Drei Fassaden wilhelminisches Disneyland, die Ostfassade im Stil der Moderne und im Inneren der Charme eines Einkaufszentrums. Denkmalpflegerisch bestenfalls ein Beispiel für architektonischen Eklektizismus im postmodernen Zeitalter des Anything goes. Dauerhafte Geltung wird es wohl nicht beanspruchen können, selbst wenn der populistische und auch der touristische Geschmack das Ganze als schön empfindet. Wer die Bauten der ehemaligen Stalinallee aufgrund ihrer monumentalen Verzierungen als Ausdruck eines Zuckerbäckerstils kritisiert, sollte jedenfalls hinsichtlich der pseudohistorisierenden Schlossarchitektur ebenso deutliche Worte finden. Deren wilhelminische Fassaden sind auch nichts anderes als angeklebte Zuckerbäckerei.

Weitere Informationen zum Sozialistischen Klassizismus bieten die vorangegangenen Teile (1), (2) und (3) auf fotosinn sowie die Websites Die frühere Stalinallee in Berlin und der Wikipediaeintrag zur Karl-Marx-Allee, darüber hinaus die Sites Karl-Marx-Allee des Hauptstadtportals, Stalinallee der Bauhauskooperation, der mdr-Beitrag Von der „Stalinallee“ zur „Karl-Marx-Allee“ in Berlin, Die Berliner Stalinallee – Boulevard zwischen Pracht und Panzern vom Deutschlandfunk oder die Site des Vereins Stalinbauten. Impressionistisches von der Karl-Marx-Allee bietet der Beitrag Das neue Leben der Stalinallee der ZEIT.