Sozialistischer Klassizismus (3)
Eines der prägenden Stilmerkmale der Bauten der Stalinallee, heute Karl-Marx-Allee, sind ihre zahlreichen Säulen. Waren diese in der Antike als tragende, himmelwärts weisende Elemente vorwiegend für sakrale Tempelbauten verwendet worden, wurden sie mit dem architektonischen Klassizismus des 19. Jahrhunderts für weltliche Repräsentationsbauten profanisiert und selbst für Bahnhöfe und Börsen genutzt. Kaum ein Name steht für den neoklassizistischen Baustil prägender als der Karl Friedrich Schinkels. Paradigmatisch sind in Berlin die Neue Wache Unter den Linden, das Schauspielhaus am Gendarmenmarkt und das Alte Museum am Lustgarten, alle im Ostteil der Stadt gelegen, Hauptstadt der ehemaligen DDR. Der sozialistische Klassizismus der 1950er Jahre knüpfte an genau dieser Traditionslinie an. Die Bauten der Stalinallee verlängerten den preußischen Schinkelstil des historischen Zentrums geografisch in gerader Linie in Richtung Osten, zwar modifiziert und angepasst an einen mehrgeschossigen Wohnungsbau, aber ebenso historisierend geprägt. Nicht zuletzt hat man sich an der Inventarkiste antiker Säulen bedient.
Säulen und Pfeiler sind nicht allein Statikelemente eines Bauwerkes, sondern symbolisieren Stärke und Standfestigkeit. Darüber hinaus stehen sie für Vertikalität und für die Verbindung des Erdhaften mit etwas Höherem. Säulen sind in der Regel mit einer Idee aufgeladen. Für Schopenhauer bildeten sie gar den Generalbass der Architektur. So verweist auch der sozialistische Klassizismus der Stalinzeit mit seinen Pfeilern und Säulen auf eine idealistische Zielsetzung. Kraftvolle Architektur und sozialistische Pracht sollten die Überlegenheit der neuen Gesellschaftsordnung dokumentieren. Das Sein bestimmt schließlich das Bewusstsein.
Dass sich die Baumeister der Stalinallee intensiv mit den Prinzipien der antiken und schinkelschen Architektur befasst hatten, kann als gesichert gelten. Fragen der Symmetrie und Balance, der Proportionen und des Rhythmus wie bei den Kolonnaden und Rundbögen am Strausberger Platz, aber auch die bauliche Vielfalt gehörten zu den Grundüberlegungen der Planungen. Die Konstruktionen der sich nach oben verjüngenden Pfeiler, der Kapitelle als Verbindungsglieder zur Auflagelast sowie der Säulenfüße folgen nahezu durchgängig klassischen Vorgaben.
Ein wenig abgeschwächt gilt dies für die zahlreichen rechteckigen Säulenkonstruktionen. Diese haben in der Regel statisch wichtige Funktionen, um aufgelagerte Lasten zu tragen. Die in der Stalinallee verbauten klassischen Rundsäulen dienen demgegenüber meist dem Wirkungseffekt. An einigen Stellen kommt es zur Kombination rechteckiger und runder Säulen, also tragender und verzierender. Das wirkt mitunter nicht so recht stimmig, obwohl es auch hierfür historische Vorbilder gibt.
Darüber hinaus zeigen sich Bauten mit Hausdurchgängen ohne explizite Säulenkonstruktion. Aber auch hier galt es, klassisch anmutende Lösungen zu schaffen. Die aufgesetzten Steinplatten haben eine reine Verzierungsfunktion und sollen Säulen suggerieren.
Die Baumeister der Stalinallee mussten, wie viele Architekten vor und nach ihnen, unterschiedliche Anforderungen unter einen Hut bringen. Am Anfang stehen Bauherrenvorgaben, dann kommen erste Entwürfe, die nicht selten architektonischen Idealvorstellungen folgen, und dann geht es in einem iterativen Prozess um das Machbare. Finanzielle Rahmenbedingungen und die zur Verfügung stehenden materiellen Ressourcen sind zu berücksichtigen. Am Ende stehen Kompromisse.
Die Säulen und Pfeiler der Stalinallee sind einerseits Ausdruck einer klassizistisch inspirierten Traditionslinie unter Nutzung der schinkelschen Formensprache. Andererseits war die Intention prägend, etwas zu schaffen, das die Ideale und das Selbstbewusstsein des neuen Staates machtvoll verkörperte. Politisch inszenierte Architektur eben. Paläste fürs Volk sollten es werden. Antike, feudale, protzbürgerliche Säulen wurden sozialistisch. Heute sind an manchen Stellen der ansonsten gepflegt erscheinenden Bauten der Karl-Marx-Allee einige berlintypische Dekonstruktionen hinzugekommen.
Informationen zum Gesamtprojekt bieten die vorangegangenen Teile (1) und (2) auf fotosinn sowie die Websites Die frühere Stalinallee in Berlin und der Wikipediaeintrag zur Karl-Marx-Allee, darüber hinaus die Sites Karl-Marx-Allee des offiziellen Hauptstadtportals, Stalinallee der Bauhauskooperation, der mdr-Beitrag Von der „Stalinallee“ zur „Karl-Marx-Allee“ in Berlin, Die Berliner Stalinallee – Boulevard zwischen Pracht und Panzern vom Deutschlandfunk oder die Site des Vereins Stalinbauten. Impressionistisches von der Karl-Marx-Allee bietet der Beitrag Das neue Leben der Stalinallee der ZEIT.