Sozialistischer Klassizismus (2)
Die Bauten der Berliner Stalinallee aus den 1950er Jahren, heute Karl-Marx-Allee, sind durch eine Reihe prägnanter, am Klassizismus orientierte Stilmittel gekennzeichnet. Kolonnaden im italienischen Stil, zahlreich verbaute Säulen, Dreiecksgiebel und andere antike Formen sowie Reliefs und Ornamente offerieren einen historisierenden Gesamteindruck, der trotz aller Monumentalität der bis zu 300 Meter langen Gebäudeblöcke nicht erdrückend wirkt. Einzelne zurückgesetzte Bauteile mit unterschiedlichen Geschosszahlen sowie der breite Straßenzug unterstützen diesen Eindruck.
Die meist mit Sandstein verkleideten Sockelgeschosse beherbergen Geschäfte und Restaurants, während, prägend für den Gesamteindruck, die darüber liegenden Fassaden in der Regel mit Keramikfliesen versehen wurden. Auch hier finden sich antikisierende Elemente wie etwa Säulen an den Balkonen oder Ornamentbänder.
Nicht zuletzt sind es solche Gestaltungen, die zum Urteil Zuckerbäckerstil beitrugen, da die Verkleidungen keinen organischen Bezug zur Funktionalität der Bauwerke aufweisen, sondern vor allem auf historisierende Wirkung bedacht sind.
Im Prinzip ähnelt dies, ungeachtet der vollkommen unterschiedlichen Erscheinungsbilder, den ästhetischen Prinzipien der typischen Berliner Gründerzeitbauten des 19. Jahrhunderts, die ebenfalls mit angeklebten Ornamenten, Säulen und anderen klassizistischen Anleihen historisch Aufgeladenes vermitteln wollten.
Und es gibt eine weitere Parallelgeschichte, die nicht unbeachtet bleiben soll. Die Bauten der Stalinallee bilden einen bewussten Kontrast zum Funktionalismus des Bauhauses und des Neuen Bauens. Ganz ähnlich hatten auch schon die Architekten der Repräsentationsbauten aus der Nazizeit gedacht. Das Berliner Olympiastadion, der Flughafen Tempelhof oder das Reichsluftfahrtministerium an der Leipziger Straße waren ebenfalls neoklassizistisch konzipiert mit machtvollen Senkrechten und viel Sandstein.
Die Bauten der Stalinallee unterscheiden sich insbesondere durch ihre kleinformatigen Kachelfassaden erkennbar von der Naziarchitektur, zieht man jedoch das äußere Erscheinungsbild gedanklich vom Baukörper ab, verbleibt eine gewisse Wirkungsverwandtschaft. Deutlich wird dies nicht zuletzt bei der 1951 erbauten und 1972 abgerissenen Deutschen Sporthalle, deren straßenseitige Frontansicht auch auf ein fünfzehn Jahre früheres Entstehungsdatum hätte hinweisen können.
Um keinen falschen Eindruck entstehen zu lassen: Hermann Henselmann oder Richard Paulick, zwei der bedeutenden Architekten der Stalinallee, waren erklärte Gegner des nationalsozialistischen Regimes gewesen. Und dennoch sind einige Wirkungsverwandtschaften zwischen den Repräsentationsbauten beider Epochen unübersehbar. Beim Sozialistischen Realismus jener Jahre und dessen Heldendarstellungen in den bildenden und skulpturalen Künsten werden solche Parallelen besonders deutlich.
Die Bauqualität der Stalinallee war der damaligen Zeit geschuldet. Die Große Frankfurter Straße, so der frühere Name, wie auch das Umfeld bildeten nach 1945 eine Trümmerlandschaft. Deren aufgearbeitete Steine wurden für die Neubauten verwendet. Weiteres Material war knapp und mitunter nicht von substanzieller Qualität. Gleichwohl sollten die neu errichteten Bauten eine moderne Ausstattung bieten. Stuck und Parkettböden, Warmwasser und Zentralheizung sowie Fahrstühle, Müllschlucker auf den Etagen und Klingelanlagen an den Hauseingängen, selbst Pförtner, waren planerische Vorgaben. Schon nach einigen Jahren waren die Folgen der gewollten Standards in Anbetracht der zur Verfügung stehenden Ressourcen spürbar. Angerostete Wasserleitungen, undichte Fenster und Dächer sowie nicht zuletzt die Fassadenverkleidungen führten zu Beeinträchtigungen der Wohnqualität. Abgefallene Keramikfliesen wurden, wenn überhaupt, in späteren Jahren durch Plastikimitate ersetzt. Weitere Schäden hinterließen gravierende Probleme für die Bausubstanz. Erst nach 1990 wurden grundlegende Sanierungsmaßnahmen eingeleitet.
Heute steht der gesamte Straßenzug unter Denkmalschutz. Zuvor waren zahlreiche der Bauten an private Immobilienunternehmen veräußert worden. Mit entsprechenden Folgen. Die Wohnqualität entspricht nun zwar der ursprünglichen Intention, allerdings um den Preis, dass eine Reihe der Wohnungen in Kaufobjekte umgewandelt wurden und sich die verbleibenden Mietverhältnisse bei Neuabschlüssen mehr und mehr dem Berliner Niveau für bevorzugtes Wohnen annähern. Von Luxus für alle, wie einstmals intendiert, kann heute nicht mehr die Rede sein.
Informationen zum Gesamtprojekt bieten der vorangegangene Teil (1) auf fotosinn sowie die Websites Die frühere Stalinallee in Berlin und der Wikipediaeintrag zur Karl-Marx-Allee, darüber hinaus die Sites Karl-Marx-Allee des offiziellen Hauptstadtportals, Stalinallee der Bauhauskooperation, der mdr-Beitrag Von der „Stalinallee“ zur „Karl-Marx-Allee“ in Berlin, Die Berliner Stalinallee – Boulevard zwischen Pracht und Panzern vom Deutschlandfunk oder die Site vom Verein Stalinbauten. Impressionistisches von der Karl-Marx-Allee bietet der Beitrag Das neue Leben der Stalinallee der ZEIT.