Sozialistischer Klassizismus (1)

Ornamental hervorgehobene Fassadeninschriften machen den Anspruch deutlich, in der Tradition des deutschen Klassizismus stehen zu wollen und gleichzeitig die neue DDR zu repräsentieren. Die Bauten der Ost-Berliner Stalinallee aus den 1950er Jahren, später umbenannt in Karl-Marx-Allee, bilden ein Amalgam aus preußischer Formensprache im Schinkelstil und Repräsentationsbauten nach sowjetischem Vorbild.

Die Mitte Berlins war durch den Zweiten Weltkrieg in weiten Bereichen zerstört. Der Wiederaufbau bot die Möglichkeit zur Realisierung eines neuen architektonischen Paradigmas. Die Führung der DDR entschied trotz Mangel an einfachem Wohnraum und knapper Ressourcen, zunächst symbolisch Kraftvolles und Aufwändiges zu schaffen. Ergebnis waren Paläste fürs Volk vom Strausberger Platz bis zum Frankfurter Tor und mit ihnen einer der wenigen Boulevards, die im Europa des Zwanzigsten Jahrhunderts neu entstanden. Mitunter wird aufgrund der überbordenden Ornamentik, die häufig wie aufgeklebt wirkt, von Zuckerbäckerstil gesprochen, aber das ist nicht frei von Polemik aus der Perspektive eines rein funktionalen Architekturparadigmas. Verstehen muss man die Stalinallee aus der Zeit heraus.

Vom Alexanderplatz kommend, öffnen die beiden Turmgebäude am Strausberger Platz sowie dessen Rundbauten den Boulevard in Richtung Osten. Der neoklassizistische Stil setzt sich fort bis zu den markanten Zwillingsbauten am Frankfurter Tor und noch ein wenig weiter.

Fassadeninschriften zeigen die Intention der staatlichen Bauherren. Solch ein Gewimmel möcht ich sehn, auf freiem Grund mit freiem Volke stehn! Der Anspruch des neuen Staates, im selbsterklärten Sozialismus einige der fortschrittlichen Errungenschaften deutscher Nationalkultur bewahren zu wollen, wird erkennbar durch das Zitat aus dem Zweiten Teil des Faust. Ein wenig drängt sich allerdings der Eindruck auf, dass Goethes Werk vor allem unter dem Blickwinkel untersucht worden war, einige sozialismusfähige Worte zu entdecken. Der freie Grund und das freie Volk schienen da als Metaphern brauchbar. Letztlich war es eine kontextgelöste Aneignung von Worten. Aber es ging ja um die Schaffung eines Narrativs.

Das Relief von Wilhelm Pieck, dem einzig jemals amtierenden Präsidenten der DDR, die Erinnerungen an die Grundsteinlegung durch den Ministerpräsidenten Otto Grotewohl und der Hinweis auf die Beteiligung von Lehrlingen am Nationalen Aufbauprogramm weisen nach der vorangegangenen Bemühung Goethes in direkter Weise auf die sozialistische Neuzeit hin.

Noch prägnanter wird dies bei den Inschriften über der Ehrentribüne, von der bis 1989 die Partei- und Staatsführung der DDR die alljährlichen Paraden und Aufmärsche entgegennahm, bejubelt vom abgeordneten Volk. Zentral platziert der Hinweis auf das Nationale Aufbauprogramm von 1952, rechts und links Zitate von Wilhelm Pieck.

Die Stalinallee, später Karl-Marx-Allee, war zu DDR-Zeiten das zentrale Pracht- und Aufmarschgebiet für staatsrelevante Feierlichkeiten. Alle Gebäude waren dafür vorbereitet, mit einem Meer von Fahnen den Begleithintergrund zu bieten. Heute sind nur noch vereinzelte Vorrichtungen für deren Befestigungen erkennbar, die meisten wurden nach 1990 entfernt.

Weitergehende Informationen zu den Bauten der ehemaligen Stalinallee bieten die Websites Die frühere Stalinallee in Berlin und der Wikipediaeintrag zur Karl-Marx-Allee, darüber hinaus auch die Sites Karl-Marx-Allee des offiziellen Hauptstadtportals, Stalinallee der Bauhauskooperation, der mdr-Beitrag Von der „Stalinallee“ zur „Karl-Marx-Allee“ in Berlin, Die Berliner Stalinallee – Boulevard zwischen Pracht und Panzern vom Deutschlandfunk oder die Site vom Verein Stalinbauten. Impressionistisches von der Karl-Marx-Allee bietet der Beitrag Das neue Leben der Stalinallee der ZEIT.

 

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