Wer beherrscht hier wen?

Lässt sich eine Kamera überhaupt steuern, wenn sie doch alles von alleine erledigen kann? Ihre Automatiken sind zwar einstellbar, aber ebenso gut kann ein Programm gewählt werden, bei dem man sich um nichts mehr zu kümmern hat. In früheren Zeiten wollte die Technik hingegen beherrscht sein und der Fotograf bzw. die Fotografin war stolz auf einen gekonnten Umgang mit dem Prozess bis hin zur Positivarbeit in der Dunkelkammer. Zufälliges spielte keine Rolle. Nur hin und wieder wurde das Unerwartete von ein paar Avantgardisten ausdrücklich gesucht. Aber das blieb die Ausnahme. Das vorherrschende fotografische Paradigma forderte die Beherrschung aller Prozesselemente und eine kontrollierte Bildgestaltung.

Ein wenig anders stellt sich dies bei der Schnappschussfotografie dar, die seit dem Erscheinen der Leica in den 1920er Jahren neben dem klassischen Paradigma eine zunehmend bedeutsame Rolle spielt. Den vorläufigen Gipfelpunkt bildet die Alltagsfotografie mit dem Smartphone. Die Kamera ist nun ein stets greifbereites Utensil wie die Brille oder der Kugelschreiber. Alle Ereignisse des täglichen Lebens, ob wichtig oder belanglos, werden festgehalten und als Bilder über die sozialen Medien kommuniziert. Es wird der Welt mitgeteilt, was man gerade macht, und hofft, dass dies die Welt interessiert. Die Technik ist dabei ohne Bedeutung. Es geht ausschließlich um die Fixierung und Weitergabe des gerade Erlebten.

Ambitionierte Amateure, die mit einer richtigen Kamera unterwegs sind, nehmen eine Doppelrolle ein. Einerseits wollen sie, wie der Snapshooter mit dem Smartphone, alltägliche Ereignisse festhalten, daneben geht es ihnen meist aber auch um die elaborierte Handhabung der Kamera, die wie ein Instrument beherrscht sein will. Dabei findet eine Annäherung an das Verhalten des professionellen Fotografen statt, der im Auftrag arbeitet und ein technisch sauberes Ergebnis abliefern muss. Ganz ähnlich strebt der ambitionierte Amateur Fotos in hoher Qualität an. Technisch wird ihm das im Gegensatz zu früheren Zeiten ohne größere Probleme gelingen.

Der ernsthafte Amateur fotografiert aus verschiedenen Gründen. Er mag sein apparatives Können beweisen wollen, er will vielleicht an einem Fotowettbewerb teilnehmen oder seinen ästhetischen Geschmack zur Schau stellen. Einstmals war die Bühne dafür der Fotoclub, heute sind es die unzähligen Plattformen, auf denen er seine Bilder teilt und möglichst viele Likes erhofft. Zusätzliche Kommentare machen deutlich, welche Bilder gefallen und welche nicht. Daraus lässt sich ein Rezept ableiten, wie künftig fotografiert werden sollte, möchte man von der Gemeinde anerkannt werden. Der Amateur ist dann jedoch mit einem Dilemma konfrontiert. Soll er ein weiteres Klischeebild produzieren, etwa den zehnmillionsten Sonnenuntergang, oder lieber die Konventionen brechen und auf den Überraschungseffekt setzen? Keine leichte Wahl, schätzt die Mehrheit der Nutzer in den sozialen Medien doch am meisten die Sonnenuntergänge oder, noch erfolgversprechender, Katzenbilder.

Daneben tragen die Kamerahersteller mit ihren Kampagnen zu dem Glauben bei, dass die tollen Bilder nur mit dem neuesten Apparat gemacht werden können. Da als Kaufanreiz jedoch Emotionen geweckt werden sollen, neigen sie zu einer zwiespältigen Strategie. Auf der einen Seite suggeriert die Werbung, dass vor allem die Visionen und der gestalterische Blick zählen. Hier wird der Kunde als Künstler angesprochen. Auf der anderen Seite hebt sie die Bedeutung von Kamera, Sensor und Objektiv hervor. Bringen Sie Ihre Fotografie auf ein neues Level ...! Versprochen wird Individualität, geliefert wird Vorgefertigtes.

Ein amüsantes Beispiel für die Denkweise eines Premiumherstellers bietet das Ernst Leitz Museum in Wetzlar. Zielgruppe der Kameras wie auch des Museums sind zahlungskräftige Amateure. Vor allem auf diese ist die Markenstrategie ausgerichtet, weniger auf Profis, die umsatzmäßig kaum ins Gewicht fallen, aber gerne als Ambassadeure eingesetzt werden. Die gut betuchten Amateure folgen vom eigenen Anspruch her, getriggert durch die Werbung, den Professionellen, müssen jedoch, da sie keine sind, angeleitet werden. So oder so ähnlich wohl die Überlegung der Museumsmacher. Am besten, man nimmt den Leica-Fan an die Hand und zeigt ihm, wie er zu seinem ganz persönlichen, einzigartigen Foto kommt.

Betritt der Besucher das Gebäude, wird er nach Entrichtung des Eintrittsgeldes und noch vor dem Gang auf die Treppe zur oberen Ausstellungsetage durch eine Bodenmarkierung auf einen definierten Standpunkt hingewiesen, ein freundlicher Herr gab den Tip, um eine an der Wand angebrachte Werbegrafik fotografisch optimal abzubilden. Das ist schon witzig. Da bemühen sich die Marketingexperten in ihren Kampagnen, die kreativen Eigenleistungen der Leica-Fans anzusprechen, und geben dann im Museum für das tolle Bild einen Standort vor, der im Übrigen, da frontal auf das kreisförmige Objekt ausgerichtet, reichlich langweilig ist. Das Ganze erinnert an touristische Hotspots überall auf der Welt, bei denen mit Hinweisschildern der Weg zum bevorzugten Aufnahmestandpunkt markiert ist. Malen nach Zahlen, fällt einem da ein. Das Leica-Motiv an der Museumswand wird nun tausendfach in gleicher Weise abfotografiert. Ohne persönliche Sichtweise, aber in exzellenter technischer Qualität, denn bei den Besuchern dürfte es sich nicht zuletzt um Markenliebhaber auf Pilgerfahrt mit hausadäquater Kamera handeln.

Aber es ist ja heutzutage auch wirklich schwierig, einzigartige Bilder zu schaffen. Der Klischeegehalt von Motiven und bestimmten Techniken bildet ein schwer zu überwindendes Hindernis. Es scheint, als sei alles bereits tausendfach fotografiert. Offenbar lässt sich die aus dem Textlichen bekannte Weisheit Wer glaubt, originell zu sein, hat nur noch nicht genug gelesen auf das Fotografische übertragen. Und dennoch, so wie der Schriftsteller nicht aufgibt, die Dinge immer wieder anders zu beschreiben, weist die Kamera das Potential auf, Bekanntes auf neue Weise darzustellen. Neu können dabei sowohl inhaltliche Aspekte sein wie auch die technische Umsetzung.

Thematisch würde dies die konsequente Lösung von Klischees bedeuten. Das ist schon anspruchsvoll genug. Ein Kanon fotografischer Vorbilder ist so fest in den Köpfen verankert, dass es schwerfällt, neue Sujets oder einen neuen Stil zu finden. Mindestens genauso schwierig ist die Befreiung von der digitalen Bildanmutung. Technisch perfekt bis in die Bildränder, keine Verzerrungen und keine Unschärfen. Autofokus, Bildstabilisierung und massenhafte Pixel tragen dazu bei, dass eine klinisch saubere Fotografie entsteht. Beides zusammengenommen, die Wirkung von Klischeevorbildern und das technisch makellose Bild, stellen ein Hindernis für Fotografien mit Überraschungseffekt dar. Interessanter wäre da das Unperfekte, Unscharfe, das deutlich macht, dass sich der Fotograf oder die Fotografin der Herrschaft der Kameraautomatiken, die kaum noch einen Fehler zulassen, entzogen hat.

Fotografische Emanzipation bedeutet, sowohl eine Distanz zu den abgenutzten Vorbildern aufzubauen und sich deren einschränkender Wirkung bewusst zu werden, wie auch eine Besinnung auf die dienende Funktion der Kamera. Es geht darum, wer beim Fotografieren das Sagen hat. Deshalb: Automatiken abschalten, Fehler in Kauf nehmen, Zufälliges zulassen. Das alles geht mit einer digitalen Kamera. Noch konsequenter ist allerdings der Einsatz eines mechanischen Fotoapparats früherer Zeiten, und sei es aus selbst auferlegten pädagogischen Gründen.

Kaum jemand möchte die Möglichkeiten der digitalen Fotografie missen. Dazu bietet sie zu viele Vorteile. Und dennoch: Wer analog fotografiert, fotografiert am Ende auch digital anders und, vielleicht, besser. Der Verzicht auf Klischeebilder stellt jedoch stets die zentrale Herausforderung dar.

 

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