Technobilder

Als der Kommunikationswissenschaftler Vilém Flusser in den 1960er Jahren begann, seine Thesen zur Fotografie zu entwickeln, gab es noch keine Digitalmaschinen mit künstlicher Intelligenz im heutigen Sinne und dementsprechend keine KI-generierten Bilder. Gleichwohl beschäftigten ihn schon damals die Besonderheiten apparategestützter Bilder. Der Begriff Technobilder stammt von ihm. Es geht darum zu verstehen, so Flusser, wie wir mit Hilfe von Apparaten, Symbolen und Codes unseren Standpunkt zur Welt entwickeln, einen Sinn konstruieren und gedanklich Ordnung schaffen. Die Eigenheiten fotografischer Bilder und deren Allgegenwart heben diese von anderen, nichttechnischen Bildformen ab. Sie stellen eine eigenständige Interpretation der Welt dar.

Im Unterschied zu traditionellen Bildern werden Technobilder mit Apparaten gemacht. Anfangs war man davon überzeugt, sie seien dem gemalten Bild überlegen, da sie die Welt neutral, also objektiv spiegeln. Dieser Glaube befreite das traditionelle Bild von allen Ansprüchen an eine richtige Wiedergabe der Welt. Die moderne Kunst konnte nun abstrakt werden. Später wurde deutlich, dass Fotografien kaum objektiver sind als traditionelle Bilder, ihre Subjektivität allerdings besser verbergen. Jede Fotografie entsteht nun einmal von einem Standpunkt aus, einen einzig richtigen gibt es nicht. Fotografische Bilder stellen keine natürlichen Widerspiegelungen dar. Sie sind vom Standpunkt des Fotografierenden aus entstanden und im Rahmen des von der Kameratechnik Vorgegebenen.

Substanziell subjektiv sind Technobilder nicht, da sie von der Konstruktion eines Apparates abhängig sind. Wir kommen darauf zurück. Im Übrigen beanspruchen sie eine intersubjektive Geltung, da sie von anderen Betrachtern verstanden werden wollen und meist auch verstanden werden. Nicht Objektivität ist bei Fotografien das Wahrheitskriterium, sondern Intersubjektivität. Sie sind Bilder der Welt, die für wahr genommen werden. Es klingt wie ein Widerspruch: Fotografien sind auf der einen Seite abhängig vom Standort des Fotografen oder der Fotografin und werden andererseits als verlässliche Realitätsabbildung verstanden. Der Widerspruch löst sich auf, wenn, mit Flusser, Wirklichkeit als eine Funktion von Wahrscheinlichkeit betrachtet wird. Wir haben gelernt, Technobilder als Realität zu begreifen, wenn das Dargestellte als möglich eingeschätzt wird. Fotografien sind im Rahmen der alltäglichen Kommunikation deshalb wirkmächtiger als traditionelle Bilder, denen immer der Geschmack des künstlerisch Subjektiven anhaftet. Fotografien eignen sich aus dem gleichen Grund besser für die Lüge. Beim gemalten Bild ist klar, dass es von einem Menschen erfunden wurde. Das Technobild hingegen sieht aus, als wäre es objektiv wahr.

Das fotografische Bild muss dennoch nicht als ein manipulatives Medium abgetan werden. Es verweist bei kritischem Nachdenken schließlich darauf, dass ein perspektivloses Bild nicht möglich ist und jeder Standort einen je eigenen Sinn vermittelt. Flusser bezeichnet die Kamera deshalb als einen anti-ideologischen Apparat. Dieser kann für die Ideologiekritik nutzbar gemacht werden, denn es wird aufgrund der technisch, monofokal bedingten Perspektivhaftigkeit der Kamera begründbar, dass der Bilderwelt nicht zu trauen und an der Unterscheidung zwischen wirklichen und imaginären Welten festzuhalten ist. Diese imaginären Welten sind künstlich hergestellt, von Menschen gemacht und von deren Interessen geleitet. Man kann ihnen misstrauen wie jeder Kunst. Sie lassen sich allerdings als virtuelle Realitäten auch bewusst aufsuchen, bieten sie doch aufgrund der Suggestion von Wirklichkeit eine stärkere Immersionskraft als traditionelle, gemalte Bilder.

Die technisch bedingte, monofokale Perspektivhaftigkeit der Kamera legt nahe, die Konstruktion des Apparates einer näheren Betrachtung zu unterziehen. Insbesondere in Zeiten der digitalen Fotografie, die Flusser noch nicht im Blick hatte, kommt dem im Inneren der Black BoxVerborgenen eine besondere Bedeutung zu.

Im Jahr 1983 erschien Flussers Für eine Philosophie der Fotografie, dem die nachfolgenden Zitate (mit Seitenangaben) entnommen sind. Noch einmal: Flusser befasste sich mit der analogen Technik. Die digitale Fotografie befand sich noch in einem Experimentierstadium. Umso erstaunlicher ist, dass sich seine Anmerkungen ohne Weiteres auf die digitale Welt übertragen lassen. Vielleicht, so unsere Vermutung, lässt sich Flusser heute sogar noch besser verstehen als zum damaligen Zeitpunkt.

„Der Fotoapparat ist programmiert, Fotografien zu erzeugen, und jede Fotografie ist eine Verwirklichung einer der im Programm des Apparats enthaltenen Möglichkeiten“ (24). Heute assoziieren wir mit den Begriffen Programm und Programmieren nahezu reflexartig eine digitale Realität. Dies wird durch das folgende Zitat verstärkt: Der Apparat tut das, „was der Fotograf von ihm will, obwohl der Fotograf nicht weiß, was im Inneren des Apparates vor sich geht“ (26). Und: „Jedes Programm funktioniert in Funktion eines Metaprogramms, und die Programmierer eines Programms sind Funktionäre dieses Metaprogramms“ (28).

Dies beschreibt die Realität moderner Digitalkameras recht genau. Es lassen sich in deren Menüs zahlreiche Parameter einstellen, aber die im Kamerachip verborgenen Grundprozesse bleiben undurchsichtig. Und so kommt es, dass verschiedene Kameras verschiedener Hersteller unterschiedliche Bildanmutungen hervorbringen. Es gibt keine Kamera, die sich von den Besitzern vollständig „für ihre eigenen, privaten Zwecke programmieren“ (28) lässt. Und Flusser weiter: Es sieht so aus, „als könne der Fotograf frei wählen, als folge die Kamera seiner Absicht. Aber die Wahl bleibt auf die Kategorien des Apparates beschränkt, und die Freiheit des Fotografen bleibt eine programmierte Freiheit“ (33). Letztlich tut der Apparat das, „was der Fotograf will, und der Fotograf muss wollen, was der Apparat kann“ (33). Ambitionierte Fotografen und Fotografinnen mögen sich hier nicht angesprochen fühlen, aber ein Blick auf die Knipserei mit dem Smartphone unterstreicht die Plausibilität dieser Thesen.

Es geht heute jedoch nicht nur um die Reflexion der digitalen Fotografie, sondern, in Weiterführung der Gedanken Flussers, um die Rahmenbedingungen KI-generierter Bilder. Die Black Box ist jetzt nicht mehr eine Kamera, sondern ein Bot irgendwo in der Cloud, dessen Programmierungen wir nicht kennen.

Allein der Begriff Künstliche Intelligenz weist darauf hin, dass von einer unbekannten Maschine Ergebnisse hervorgebracht werden, die sich im Übrigen nicht einmal von deren Programmierern nachvollziehen lassen. Wir arbeiten als Anwender mit einer Technik, ohne genau zu wissen, auf welche Weise diese eine Bildrealität schafft, die das Zeug hat, als Wirklichkeit anerkannt zu werden. Die neuen Technobilder stellen, so gesehen, eine Steigerung gegenüber den mit der Digitalkamera erzeugten Fotografien dar. Die programmische Fremdsteuerung erreicht eine neue Stufe, aber es bleibt bei der Diagnose: Wir unterliegen der Versuchung, Technobilder als Realität zu betrachten, wenn das Dargestellte als wahrscheinlich oder zumindest als möglich betrachtet wird.

KI-generierte Bilder können, so der Stand der Dinge, zwei unterschiedlichen Paradigmen folgen. Sie können den Kunstweg beschreiten und auf jeglichen Realitätsanspruch verzichten. Dann lässt sich im gelungenen Fall ein phantasievolles Ergebnis beklatschen. Wenn es nicht gefällt, muss sich niemand aufregen. Der andere Weg führt in Fortsetzung des fotografischen Anscheins in die Welt vermeintlich objektiver Abbildungen. Solche KI-Bilder mit Realitätsanmutung sind das eigentliche Problem. Die Weisheit besteht darin, zwischen beiden Paradigmen und wirklichen Fotografien zu unterscheiden. Ohne Metadaten eines fotografisch aussehenden Bildes oder einen verlässlichen, kontextschaffenden Kommentar wird das jedoch immer schwieriger.

Hier eine Auswahl der Werke Vilém Flussers, die sich zum Verständnis seines Denkens anbieten:

Flusser, V.: Für eine Philosophie der Fotografie; Edition Flusser, hrsg. von Andreas Müller-Pohle, Bd. 3; European Photography, Berlin, 11. Aufl. 2011

Flusser, V.: Kommunikologie; Fischer Taschenbuch Verlag; Frankfurt a. M., 4. Aufl. 2007

Flusser, V.: Kommunikologie weiter denken. Die Bochumer Vorlesungen; Fischer Taschenbuch Verlag; Frankfurt a. M., 2008

Flusser, V.: Medienkultur; Fischer Taschenbuch Verlag; Frankfurt a. M., 5. Aufl. 2008

 

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