Die Objektivität des Objektivs

Fünf Jahre nach seinem 2017 erschienenen Roman Die Hauptstadt hat Robert Menasse mit Die Erweiterung nachgelegt. In beiden Werken geht es um den kleinsten politischen Nenner der Mitgliedsstaaten der EU und die bürokratischen Wucherungen ihrer Institutionen. Hinzu kommen einige Menscheleien. Große Literatur? Nicht unbedingt, auch wenn Die Hauptstadt mit dem Deutschen Buchpreis bedacht wurde. Aber es sind ernüchternde Kommentierungen zu einer EU, die offenbar weniger visionär als machtreal geprägt ist. Menasses erster Roman spielte in Brüssel, der zweite überwiegend in Albanien. Grundthema ist das Begehren des Balkanstaates auf EU-Mitgliedschaft. Allerlei Verwicklungen, Intrigen und ein clowneskes Ende auf einem wirr umhertreibenden Kreuzfahrtschiff bilden den Hintergrund des Plots.

Stets spielt die Presseberichterstattung eine Rolle. Zu Beginn des vierten Teils des Romans lässt Menasse einen der Protagonisten über den Fotografen Gino Trashi sagen: Man sollte ihm verbieten, das Ding da vorne an seiner Kamera Objektiv zu nennen. Der Fotograf selbst sah die Dinge pragmatischer: Wenn die Perspektive, die ich finde, möglich ist, dann ist sie wirklich. Objektiv.

Die literarische Fiktion repräsentiert einen zentralen fototheoretischen Diskurs. Jede Perspektive ist zufällig, es wäre immer auch eine andere möglich gewesen. Was aber ist dann die wahre Sicht auf die Dinge? Jede einzelne Perspektive oder keine von ihnen? Im Roman lassen Menasse/Trashi den nicht-fiktiven albanischen Autor Ismail Kadare zu Wort kommen. Es geht um die Unterscheidung zwischen Beschreiben und Erzählen. Die Differenz lässt sich mit einigen Analogieschlüssen auf die Fotografie übertragen.

Beschreiben, so wird Kadares Haltung im Roman zusammengefasst, erhebe den größten Anspruch an Objektivität, Authentizität und Erkenntnis und leiste doch nichts davon. Es sei bloß ein tautologischer Akt, der das, was der Leser ohnehin schon wisse und kenne, vorführe. So könne man einen Wald oder auch einen Radiergummi mit extremer Genauigkeit beschreiben, aber am Ende wisse der Leser nur, was er ohnehin wusste. Wie langweilig! Die Beschreibung bleibe ein Ausschnitt aus der Oberfläche der Wirklichkeit, damit sei nichts gewonnen. Nur Pedanten mit Angst vor dem Leben können diese vorgebliche Genauigkeit genießen, nein, nicht einmal genießen, aber loben. Demgegenüber stehe die Intention des Erzählers. Er zeige nicht die Oberfläche, sondern setze das Wesen ins Bild, halte nicht nur den Moment fest, sondern lasse ihn fließen, vom Grund zur Wirkung. Allein in der Erzählung könne das Unbeschreibliche zur Geltung kommen.

Im Fotografischen mag man als Analogie die Kategorie der Wahrhaftigkeit zur Geltung bringen. Jedes Bild ist zwar optisch wahr, aber ob es einen Sachverhalt glaubwürdig, also korrekt in seinem Kontext, darstellt, ist eine andere Frage. Überhöhen sollte man das Ganze dennoch nicht. Es geht nicht darum, fotografisch irgendein letztes Wesen der Dinge darstellen zu wollen. Wahrhaftigkeit ist nichts Substanzielles, sondern beschreibt die Dinge so, wie sie, zumindest im Kontext eines gemeinsamen Kulturkreises, auch von anderen gutwilligen und verständnisbereiten Diskursteilnehmern interpretiert werden. Mehr Wahrheit ist nicht zu haben. Wem dies nicht ausreicht und wer auf absolute Sicherheit setzt, wird, so unsere Vermutung, anfällig für Demagogen mit einfachen Antworten auf komplexe Sachverhalte. Ambivalenzen und fremde Ansichten auszuhalten, ist nun einmal nicht jedermanns/jederfraus Sache.

Um noch einmal auf die These des Fotografen Trashi zurückzukommen: Wenn die Perspektive, die ich finde, möglich ist, dann ist sie wirklich. Objektiv. Dem ersten Teil der Aussage ist zuzustimmen. Jede Perspektive, die möglich ist, ist auch wirklich. Objektiv ist sie damit aber noch lange nicht.

Robert Menasses Roman ist trotz einiger Längen flott zu lesen, macht nachdenklich hinsichtlich der EU-Realitäten und spart nicht mit komödiantischen Szenen, auch wenn einem das Lachen hier und dort im Halse stecken bleibt. Aber um keine falschen Erwartungen entstehen zu lassen: Um Fotografie geht es in dem Roman nur am Rande. Die Erweiterung ist bei Suhrkamp erschienen.

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Lyonel Feininger als Fotograf

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Fotografie als Kunst