Wenn es keine Fotografien mehr gibt

Es werden immer mehr KI-generierte Bilder präsentiert, die einen beeindruckenden Authentizitätsgrad aufweisen. Entsprechend nervös ist die Fotoszene. Nahezu alles lässt sich am Rechner erzeugen. Warum da noch mit einer Kamera auf die Straße oder ins Studio gehen? In Szenarien wird ausgemalt, wie es in Zukunft nicht nur keinen Bedarf an Fotografen und Fotografinnen mehr gibt, sondern alle Branchen, die direkt oder indirekt mit der Kameratechnik verbunden sind, unter Druck geraten.

Nun, dazu wird es so schnell nicht kommen. In verschiedenen Bereichen gibt es auch künftig einen Bedarf an der Dokumentation mit Hilfe von statischen oder bewegten Bildern. Die Spanne reicht von der tagesaktuellen Reportage bis zur Überwachungskamera oder der medizinischen Diagnostik. Dessen ungeachtet, spinnen wir den Gedanken einer Welt ohne Fotografien einmal weiter, wären zwei Folgen erkennbar.

Erstens wird die Faszination für das KI-generierte Bild nachlassen, denn diese beruht auf dem Effekt, dass es wie eine Fotografie aussieht. Gibt es diese jedoch nicht mehr, entfällt auch der Maßstab für die Bewertung eines KI-Bildes. Übrig bliebe ein Bild, das naturalistisch bzw. realistisch aussieht und wie eine Verdoppelung von Wirklichkeit erscheint. In einer ähnlichen Situation befand sich die Malerei des 19. Jahrhunderts. Perfekt bis ins Detail, jedenfalls auf der Basis der damaligen Sehgewohnheiten, und durch ihren suggerierten Wirklichkeitsbezug überzeugend. Als dann die Fotografie das gleiche Ergebnis noch viel besser zu erbringen vermochte, war der Reiz des Naturalismus allerdings vorüber. Es begann die Hinwendung zur Moderne bis hin zur gegenstandslosen Abstraktion. Übertragen auf das KI-Bild in einer Welt ohne Fotografie könnte dies bedeuten, dass die Sache schlichtweg langweilig wird. Man/frau nimmt ein Bild zur Kenntnis, wohl wissend, dass es wie Wirklichkeit aussieht, dies aber nicht ist, und fragt sich Wozu das Ganze?

Zweitens: Gibt es keine Fotografien mehr, entfällt auch das Trainingsmaterial für KI-Bildgeneratoren. Übrig blieben alte Fotografien sowie die bereits im Netz vorhandenen KI-Bilder. Welche Bedeutung dies für die Bildästhetik haben könnte, lässt sich ausmalen. Diese wird am bereits Vorhandenen orientiert sein und ernährt sich, lässt man Fotografien einmal unberücksichtigt, aus sich selbst. Neue KI-Bilder werden anhand bereits vorhandener KI-Bilder trainiert. Da mag der menschliche Auftraggeber noch so viel Textbefehle eingeben, um Neues zu schaffen, das für ein Bild zur Verfügung stehende Datenfutter ist selbst KI-erzeugt. Der schon heute den Generatoren entgegengehaltene Einwand, dass diese kaum aus der Mainstream-Bildästhetik auszusteigen in der Lage seien, da letztlich alles auf Wahrscheinlichkeitsalgorithmen aufbaut, gilt in noch viel stärkerem Maße in einer Welt, in der KI-Bilder auf der Basis von KI-Bildern erzeugt werden. Aber vielleicht gibt es ja demnächst den Befehl Mach etwas, das es noch nicht gibt!

Und dennoch, eine Welt ohne Fotografien ist so schnell nicht vorstellbar. Was nicht unbedingt bedeutet, dass die heutige Kameratechnik für alle Zeiten das vorherrschende Paradigma sein muss. Es lassen sich Technologien zur Speicherung realer Objekte und Vorgänge denken, die völlig anders funktionieren. Wie das aussehen könnte? Keine Ahnung, aber auszuschließen ist es nun einmal nicht. Entscheidend ist die Frage, ob es in Zukunft einen Bedarf an der Aufnahme und Speicherung von Realität geben wird, oder ob wir uns nur noch in virtuellen Welten bewegen wollen. Die Frage ist nicht trivial. Metaverse und Co. locken uns schließlich in ein Universum jenseits realitätsgebundener Bildwelten. KI-Bildgeneratoren passen da bestens hinein. Wer von einer solchen Entwicklung allerdings nicht so recht überzeugt ist, wird weiterhin an der klassischen Fotografie Gefallen finden. Und obwohl die digitale Fotografie auf der technologischen Ebene dem KI-Bild relativ nahesteht, ist die alte Geschwisterlichkeit zwischen analoger und digitaler Fotografie am Ende vielleicht doch in Abgrenzung zum KI-Bild von einer genetisch angelegten Bedeutung über den Tag hinaus. Die Dinge und ihre Definitionen sind in Bewegung geraten. Das ist eher spannend als beunruhigend.

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Emanzipation der Fotografie von der KI