Vom Großen und vom Kleinen
Der Hamburger Bahnhof erweist sich gegenwärtig einmal mehr als einer der spannendsten Orte Berlins für zeitgenössische Kunst. Nicht nur in der Haupthalle des ehemaligen Bahnhofs, der bereits in der Vergangenheit mit verschiedenen Großinstallationen bespielt wurde, sondern auch in den Seitenflügeln und den angeschlossenen Rieckhallen wird ein ausgewählter Querschnitt der aktuellen Moderne präsentiert. Ergänzt werden die Wechselausstellungen durch dauerhaft gezeigte Werke von Joseph Beuys sowie einer düsteren Installation von Bruce Nauman.
Betritt man den Hamburger Bahnhof, stößt man auf die monumentale Installation embrace von Klára Hosnedlová, eine futuristisch und gleichzeitig archaisch wirkenden Landschaft aus riesigen, von der Decke herabhängenden Flachsfasern, die wie urzeitliche Geschöpfe wirken oder wie verfilzte Haare. Eisenwände an den Rändern der Installation sowie steinerne Bodenplatten, Sandflächen und spiegelnde Wasserlachen aus gegossenem, glasähnlichem Material ergeben eine harte Kontrastwirkung. Hinzu kommen Betonreliefs und eingearbeitete Stickereibilder. Das Ganze ergibt beim Durchwandern eine Wirkung, die zum Phantasieren einlädt. Dazu trägt der Begleitsound aus gemixten Geräuschen mit Chorgesang und Worten eines tschechischen Rappers bei, die aus großen Boxen eingespielt werden. Zu sehen und zu hören ist embrace von Klára Hosnedlová noch bis zum 26. Oktober 2025. Begleitend wird ein Katalog angeboten.
embrace
Im rechten Seitenflügel des Hamburger Bahnhofs, der Kleihues-Halle, werden dauerhaft einige der Schlüsselwerke von Joseph Beuys aus der Sammlung Marx gezeigt. Dazu gehören die großen Environments Das Kapital sowie die Straßenbahnhaltestelle, aber auch der vergleichsweise kleine Energiestab oder die Capri-Batterie. An der Wand hängt ein Exemplar des berühmten Filzanzugs, der bei einer solchen Präsentation wohl nicht fehlen darf. Videos einiger Performances ergänzen den Werküberblick. Einmal mehr wird so die Bedeutung von Beuys bekundet, der seit den 1960er Jahren mit komplexen Werken die zeitgenössische Kunst mitgeprägt hat. Unverständnis inbegriffen. Und auch in der Postpostmoderne mag das eine oder andere mitunter wie gequirlter Unsinn erscheinen. Die einstmals mit Ehrfurcht aufgenommenen Selbsterklärungen des Meisters werden heute doch mit etwas mehr Nüchternheit betrachtet. Möglich, dass da ein gewisser Abnutzungseffekt wirksam ist.
Im Westflügel des Hamburger Bahnhofs ist im Übrigen von Beuys auch noch, schummerig beleuchtet, das vor sich hin rottende Objekt Unschlitt/Tallow ausgestellt. Quader aus Talg, ungesättigtem Tierfett, Gips sowie einige vom Künstler als Ausgleichselemente bezeichnete Geräte wie Digitalvoltmeter, Wechselstromgenerator und Temperatur-Messgerät nehmen viel Platz ein, ohne dass die Masse des Ganzen heute wirklich noch beeindruckt. Das Museum ist jedenfalls nicht zu beneiden, dieses organische, unansehnliche Ungetüm bewahren zu müssen. Schließlich geht es nicht um Reliquienverehrung. Nicht alles, was jemals künstlerisch produziert wurde, muss von Dauer sein. Man sollte die Klötze dem prallen Sonnenlicht aussetzen und gezielt verfallen lassen. Beuys hätte dem wohl zugestimmt.
Verlässt man das Hauptgebäude des Hamburger Bahnhofs und erreicht durch einen Übergang, der mit seinen grünen Wandfliesen an einen alten Berliner S-Bahnhof erinnert, die Rieckhallen, die bis in die 1960er Jahre für den Warenumschlag des benachbarten Güterbahnhofs genutzt wurden, zeigen sich neue, andere Möglichkeiten zeitgenössischer Kunst nach Beuys. Aktuell ist hier allerdings nach der großartigen Ausstellung von Mark Bradford, die gerade beendet wurde, am Ende der langen Halle als dauerhafte Installation lediglich das epochale Werk Room with My Soul Left Out, Room That Does Not Care von Bruce Nauman zu sehen. Die monumentale Skulptur, mit fahlem Licht beleuchtet, kann durch zwei horizontale Korridore betreten werden. Im Kreuzungspunkt trifft man auf einen Gitterrost, durch den der Blick in die Tiefe gezogen wird. Mitunter stellen sich zwischen den brutalen Mauern beklemmende Anflüge von Isolation und Angst ein. Man denkt an Folter oder auch an Auschwitz.
Im Kabinett des oberen Stockwerkes dann wieder Buntes. Mit Ayoung Kims Many Worlds Over wird eine komplexe Installation gezeigt, die wie ein verwirrender Spiegelsaal mit Multimediaeffekten wirkt. Die koreanische Künstlerin hat mit KI-erzeugten Videos, Spielsimulationen und Skulpturen ein fiktives Universum geschaffen, das den Betrachter räumlich desorientiert und zur Erforschung einlädt. Für die Ausstellung wurden Komponenten aus einem Werkzyklus Kims zusammengeführt, in denen die Geschichte einer Lieferfahrerin und einer Doppelgängerin in einem fiktiven Seoul erzählt wird. Verspiegelte Wände und Metallstrukturen erschweren eine Orientierung zwischen Zeit und Ort, zwischen Gegenwart und Zukunft. Besucher werden immer wieder mit ihrem eigenen Bild konfrontiert. Das Werk Ayoung Kims ist im Hamburger Bahnhof noch bis zum 20. Juli des Jahres zu sehen. Auch hier wird im Bookshop ein Katalog angeboten.
Geradezu erholsam nach all den Riesenobjekten von Hosnedlová, Beuys, Nauman und Kim, deren Materialaufwand nicht nur beeindruckt, sondern hinsichtlich ihrer Gigantomanie auch nachdenklich macht, dann schließlich im Obergeschoss des Westflügels neben einigen Fotoserien und Objekten anderer Künstlerinnen und Künstler das Videoessay Lange Welle von Tina Bara aus dem Jahr 2016 mit Schwarzweißfotografien und gesprochenem Begleittext. In den 1980er Jahren nahm sie in Ost-Berlin und anderswo tausende von Bildern auf, darunter intime Portraits von Freundinnen und Freunden und auch von sich selbst. Eingearbeitet in den Fotofilm sind die Dokumentation eines von den DDR-Behörden zensierten Künstlerprojektes im Chemiewerk Buna sowie Geschichten der Ausreise Unangepasster in den Westen. Sie selbst verließ die DDR im Juli 1989 kurz vor dem Ende des Staates. Rund 25 Jahre nach dem Mauerfall suchte sie aus ihrem Archiv die im Fotofilm gezeigten Bilder heraus. In seiner konzentrierten Schlichtheit beeindruckt das Werk. Das Kleine erwies sich beim Besuch des Hamburger Bahnhofs jedenfalls nach all dem Großen als das persönlich vielleicht Nachhaltigste.
Der Hamburger Bahnhof – Nationalgalerie der Gegenwart befindet sich in der Invalidenstraße unweit des Berliner Hauptbahnhofs.