Der kleine Tod und das wirkliche Leben

Der Fotograf Kristian Hadeland, Hauptfigur in Karl Ove Knausgårds Roman Die Schule der Nacht, sucht die Provokation und will mit seinen Bildern an Tabus kratzen. Nicht zuletzt geht es um die Abwendung vom schönen Schein. Darüber hinaus ist Hadeland besessen vom Morbiden und vom Gedanken der Vergänglichkeit des Lebens. Der Roman beschreibt, wie er eine tote Katze vom Tierarzt stiehlt und abkocht, um das Gerippe freizulegen und anschließend zu fotografieren. Das Bild trägt den Titel Das Gerüst des Lebens.

Die Verbindung des Gedankens der Vergänglichkeit mit der Frage nach dem Wesen des fotografischen Bildes wird zu einer Metapher für den kleinen Tod. Roland Barthes hat die damit verknüpften Ambivalenzen in Die helle Kammer essayistisch beschrieben. Jede Fotografie tötet den Moment, indem sie ihn aus dem Fluss der Zeit herausreißt und einfriert. Was im Bild festgehalten ist, existiert nicht mehr. Es ist immer schon Vergangenheit. In einer Fotografie treffen Leben und Tod aufeinander.

Bilder lassen sich neutral unter dem Aspekt ihres Informationsgehaltes und der Gestaltung studieren, eine wirkliche Betroffenheit stellt sich jedoch nur ein, so Barthes, wenn, wie ein Stich, ein punctum hinzukommt, das den Betrachter emotional berührt oder gar verwundet. Viele Fotografien schaut man an ... und geht beziehungsweise blättert weiter. Aber manchmal geschieht etwas anderes. Das Abgebildete wirkt dann nicht wie ein toter aufgespießter Schmetterling, sondern erinnert an vergangene Lebensmomente und den unvermeidlichen Tod. Das auslösende punctum kann ein kleines, beiläufiges Bilddetail sein, von dem der Betrachter auf besondere Weise angesprochen wird.

Roland Barthes selbst befasste sich eher mit Fotografien aus dem realen Zeitstrom. Dies unterscheidet ihn von der Romanfigur Kristian Hadeland, der das Katzenskelett vor der Aufnahme sorgfältig drapiert und das Bild konstruiert. Fragen der Wahrheit der Fotografie sowie ihrer subjektiven Interpretation erhalten hier eine noch stärkere Bedeutung, als dies auch schon bei vermeintlich dokumentarischen Aufnahmen der Fall ist. Im Übrigen unterscheiden sich die Intentionen der Fotografen. Während dessen Absicht bei Barthes keine zentrale Rolle spielt, da sich ein punctum nicht vorherplanen lässt, rufen die konstruierten Bilder Hadelands stets die Frage nach ihrer Botschaft hervor. Um ein punctum geht es bei ihnen eher nicht. Hadelands Bilder sollen durch ihren Wirkungseffekt als Ganzes beeindrucken.

Karl Ove Knausgård schreibt in seinem Roman Der Morgenstern, Vorläufer von Die Schule der Nacht, einem Kulturjournalisten den Gedanke zu: Ich habe im Grunde nichts gegen Künstler, wohl aber gegen Leute, die glauben, sie wären Künstler, diese grenzenlos egozentrischen und prätentiösen Gestalten, die alle denken, dass sie etwas wissen, was wir nicht wissen, und dass sie etwas sehen, was wir nicht sehen, und die uns darüber belehren wollen. Im Grunde lässt sich dies auf den fiktiven Fotografen Kristian Hadeland beziehen. Bei allen Erfolgen bis hin zu einer, ebenfalls fiktiven, großen Ausstellung im New Yorker MoMA ist nicht zu übersehen, dass seine Fotografien einem zeitgeistigen Effektwollen verhaftet sind. Sie mögen tiefgründig gemeint sein, es bleibt jedoch bei der vordergründigen Wirkung, ohne punctum im Sinne von Roland Barthes.

Wir wollen aber in der Regel nicht mit Kunst erzogen werden, schon gar nicht, wenn die Absicht allzu deutlich erkennbar wird. Genau hier liegt die Grenze zwischen einer Botschaftskunst und Bildern, die nachdrücklich berühren. Zumal sich gezielt eingesetzte Effekte auf Dauer abnutzen. Schon Susan Sontag hat dies herausgearbeitet. Im Essayband Über Fotografie aus dem Jahr 1977 beschreibt sie ihre Skepsis, was die Rolle der Kamera im Kontext aufklärerischen Denkens anbelangt. Als unbestreitbar galt ihr, dass die Fotografie keine moralischen Positionen schaffen kann. Die Arbeit mit der Kamera mag zwar dazu beitragen, bestehende Werthaltungen zu verstärken. Ist ein normativer Orientierungssinn aber nicht vorhanden oder nur schwach ausgeprägt, bleiben auch unangenehme Fotografien mit großer Wahrscheinlichkeit ohne Folgen für die eigenen Einstellungen. Im Übrigen beinhaltet die Menge bedrückender Bilder in den alltäglichen Medien eine Tendenz zur Abnutzung. Zwar können Fotos erschrecken, der Effekt schwächt sich jedoch mit jeder Wiederholung ab. Soll die Wirkung erhalten bleiben, muss die Dosis erhöht werden.

Oder aber die Kamera dient von vorneherein der Schaffung durchkomponierter Kunstbilder ohne wirklichen Bedrohungscharakter hinsichtlich des Seelenheils. Das Objekt vor der Kamera interessiert hier meist nur indirekt. Im Vordergrund steht während des Schaffensprozesses beim Fotografen die gedankliche Antizipation eines grandiosen Bildes. Das Objekt ist Mittel zum Zweck, primäres Ziel eine Aufnahme, die als Beweis für das Können des Fotografen und seine Kunst gilt. Die Beachtung und auch der Ruhm richten sich schließlich auf ihn, nicht auf das fotografierte Objekt. Es handelt sich um abgehobene intellektuelle Spielereien, die, insbesondere bei der Studiofotografie, mit simulierten Realitäten arbeiten. Letztlich eine Betroffenheitskunst aus der bequemen Ferne. Mit dem wirklichen Leben hat sie nicht viel zu tun.

Vielleicht trifft diese Erkenntnis auch auf die Romanfigur Kristian Hadeland zu. Sein Scheitern liegt in dem Bewusstwerden begründet, dass die Kunstfotografien eines abgekochten Katzenskelettes nur Artefakte vom Leben und vom Tod sind. Hadelands eigene Geschichte hat sich hingegen in der persönlichen Erfahrung mit einem konkreten Todesfall und der Verdrängung moralischen Versagens niedergeschlagen. So gesehen ist Die Schule der Nacht ein existenzialistischer Roman. Im vorangegangenen Blogbeitrag wurde dem nachgegangen.

Bei den Anmerkungen zu Susan Sontag handelt es sich um überarbeitete Textpassagen aus den fotosinn-Essays Philosophisches vom Schatten sowie Das Fremde und die Moral.

 

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