Surreale Wunderwelten

André Breton, theoretisierender Großmeister des Surrealismus, schrieb 1929 im Vorwort zu La femme 100 têtes des Freundes Max Ernst: Alle dinge sind anderen verwendungszwecken zugedacht als denen, die wir ihnen im allgemeinen zubilligen. Gerade von der bewußten preisgabe ihres ursprünglichen zweckes (...) lassen sich gewisse transzendente eigenschaften ableiten, die einer anderen gegebenen oder möglichen welt angehören. Mit anderen Worten, einzelne Objekte werden in der bildlichen Darstellung mit ihren denkbaren Eigenheiten präziser wahrgenommen, wenn sie aus dem üblichen Kontext herausgetrennt und in ungewohnte Zusammenhänge mit anderen Dingen gebracht werden. Vertrautes wird auf diese Weise fremd und will neu erforscht werden.

Letztlich ist dies der Grundgedanke aller surrealistischen Werke. Beim Bildlichen scheint es sich dabei vor allem um ein Sujet der Malerei zu handeln. Hier ist der Künstler vollkommen frei, die Dinge und auch Traumhaftes so zu arrangieren, wie es seiner Phantasie entspricht. Bekannte Beispiele sind Werke von Salvador Dali, René Magritte, Frida Kahlo, Yves Tanguy oder Max Ernst. Weiterhin denkt man an Collagetechniken, bei denen Nichtzusammengehörendes aus verschiedenen Quellen zusammengefügt wird. Hier sind etwa Hannah Höch, Kurt Schwitters oder Robert Rauschenberg zu nennen und ebenfalls, wie schon bei der Malerei, Max Ernst. Aber auch die Fotografie kann surrealistisch anmutende Bilder hervorbringen, als Collagen und Fotogramme oder in Form von Bildgestaltungen, die nicht den üblichen Sehgewohnheiten entsprechen. Bekannte Werke hierzu stammen von Herbert Bayer, László Moholy-Nagy, Germaine Krull, Raoul Hausmann, Man Ray oder John Heartfield.

Max Ernst selbst hat nicht fotografiert. Er wirkte als Maler, Bildhauer und Collagekünstler. Aber er ließ sich, offenbar nicht ohne eine gewisse Eitelkeit, oft und gerne fotografieren. Und Kameraaufnahmen bildeten häufig das Ausgangsmaterial für seine Collagen. Auf diese Weise gibt es im Gesamtwerk zahlreiche Berührungspunkte mit der Fotografie. Seine Bilderwelt ist mit dem Titel FOTOGAGA. Max Ernst und die Fotografie Thema einer Ausstellung im Berliner Museum für Fotografie. Gezeigt werden rund 270 Werke, vor allem Papierarbeiten, aber auch Gemälde, Fotogramme, Collagen und illustrierte Bücher von Max Ernst selbst sowie Arbeiten anderer surrealistischer Künstlerinnen und Künstler.

Das Ungeplante und der Zufall spielten im Surrealismus und im Dadaismus eine gewichtige Rolle. Fotografien mit verwischt festgehaltenen Bewegungen, spontane Collagen oder Fotogramme machen die Abgrenzung zum eher präzisen Neuen Sehen deutlich, das zu gleicher Zeit bevorzugt das Technische und Rationale betonte, wenngleich es Gemeinsamkeiten beider Strömungen gab wie etwa bei den kameralosen Fotoarbeiten Moholy-Nagys, die sich beim Entstehungsprozess ebenfalls einer vollständigen Kontrolle entzogen. Zu Dada grenzte sich der Surrealismus in einer wesentlichen Hinsicht ab. Dada war satirisch angelegt und nicht selten anarchistisch, der Surrealismus hingegen eher analytisch, obgleich Provokantes auch hier nicht ausblieb.

Das Auge galt als ein zentrales surrealistisches Symbol. Soll die eingeübte Realitätswahrnehmung überwunden werden, muss frei, neu und wild gesehen werden. So präsentiert die Berliner Ausstellung zahlreiche Bilder mit einem Augenmotiv. Ein weiteres Thema: Der surrealistisch ausgerichtete Blick auf Pflanzen, Hölzer, Blätter und anderes aus der Natur führt hinter die Oberfläche der Dinge, indem diese als Frottagen oder fotomechanisch hergestellte Drucke dargestellt werden. Hinzu kommen in der Ausstellung zahlreiche Collagen und Collageromane Max Ernsts sowie surrealistische Fotografien anderer aus gleicher Zeit. Experimente mit Positiv-Negativ-Effekten runden den Blick auf das Werk Max Ernsts ab. Frottagen in Schwarzweißumkehrung, Fotogramme oder die Positiventwicklung von Radierungen auf lichtempfindlichen, mit Farbe beschichteten Glasplatten als Negativ weisen auf die vielfältigen Verbindungen zwischen surrealistischen Experimenten und fotografischen Techniken hin.

Die Ausstellung FOTOGAGA. Max Ernst und die Fotografie ist noch bis zum 27. April 2025 im Museum für Fotografie zu sehen. Begleitend zur Ausstellung ist im Verlag Wienand ein Katalog erschienen. Eine ausführliche Biografie Max Ernsts findet sich bei Wikipedia.

 

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Anschein und Gehalt

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Edward Westons expressiver Realismus