Paul Strand und die fotografische Moderne
Seit ihren Anfängen warf die Fotografie einen Seitenblick auf die traditionellen Künste. Bald schon erhob sie den Anspruch, die Dinge exakter abbilden zu können, als es deren Techniken vermochten. Später mischte sich das Ansinnen hinzu, selbst Kunst sein zu wollen und nicht nur als Nachahmung der naturalistischen Malerei zu gelten. Dem lagen zwei Denkweisen zugrunde, eine handwerklich bestimmte und eine künstlerische. In den ersten Dezennien des Zwanzigsten Jahrhunderts fand die Fotografie schließlich zu einem Selbstverständnis, das beides vereinte. Exemplarisch dafür sind die Bilder von Paul Strand. In wenigen Jahren veränderte sich deren Anmutung vom Piktoralistischen hin zur Straight Photography, dem ersten eigenständigen fotografischen Stil.
Paul Strand wurde 1890 in New York geboren. Schon früh experimentierte er mit der Kamera. Zu seinen Lehrern gehörte Lewis Hine, einer der Begründer der sozialdokumentarischen Fotografie. Strand selbst orientierte sich zunächst jedoch weniger am fotografischen Realismus, sondern arbeitete mit Weichzeichnerlinsen und verschiedenen soften Vergrößerungstechniken. Ergebnisse waren Bilder mit bewussten Unschärfen und dem erkennbaren Bemühen, der impressionistischen Malerei ein fotografisches Pendent an die Seite zu stellen.
Strands Hinwendung zur New Yorker Photo-Secession veränderte seinen fotografischen Blick. Alfred Stieglitz empfahl ihm, sich vom Weichzeichner zu verabschieden und stattdessen eine kleine Blende mit großer Tiefenschärfe einzusetzen. Impressionistische Anleihen gab Strand zwar nicht gänzlich auf, aber es kam Neues hinzu. Er experimentierte mit Abstraktionen sowie der Betonung klarer Linienführungen und Flächengestaltungen, die über vertraute Sehgewohnheiten hinausgingen. Im Jahr 1916 präsentierte Stieglitz einige der neuen Fotografien Strands in einer Ausstellung der legendären Galerie 291 sowie in der Zeitschrift Camera Work. Noch zu Beginn der 1910er Jahre galt hier der Piktoralismus als angesagter Stil. Dies war nun Vergangenheit.
In den Jahrzehnten bis zu seinem Tod im Jahr 1976 widmete sich Paul Strand verschiedenen fotografischen Genres. Abstrakte Bilder wie in früheren Jahren, die er hin und wieder auf den Kopf gestellt hatte, um so deren eigenständige grafische Qualität hervorzuheben, wurden seltener. Seine Stadtszenen, Landschaften, Stillleben, Portraits und Reisebücher machten aber weiterhin deutlich, dass die Straight Photography der frühen Jahre zu ihren ästhetischen Wurzeln zählte.
Die Arbeiten Paul Strands loteten die Möglichkeiten der fotografischen Technik aus, lassen sich hinsichtlich irgendeines Wesens des Fotografischen aber nicht passgenau einordnen. Er blieb ein Wanderer zwischen den Welten. Als Bildjournalist verstand er sich nicht. Eher schon als Fotograf, der in einem konkreten Raum lebte und von diesem beeinflusst wurde. Aber auch seine sozialdokumentarischen Fotografien wollten als Bilder an sich wahrgenommen werden. Klar aufgebaut, Straight Photography eben. Die Dinge lassen sich nun einmal sowohl als sinnhafte Objekte wie auch als abstrakte Formen abbilden. Das begründet auf der einen Seite den Wirklichkeitsbezug der Fotografie. Andererseits fügt der gestaltende Wille des Fotografierenden stets Subjektives hinzu. Handwerkliches und Künstlerisches, beides wirkt mit.
Wall Street
Beim Original der Fotografie Wall Street von Paul Strand aus dem Jahr 1915 handelt es sich um einen getonten Platinum Print. Die Bildanmutung mit leichter Unschärfe folgt noch einer piktoralistischen Attitüde. Die grafisch orientierte Flächengestaltung entspricht hingegen bereits der Straight Photography. Die Aufnahme steht für das Übergangsstadium der fotografischen Moderne jener Zeit und für die gewonnene Unabhängigkeit von der Malerei. Zusammen mit dem Titel Wall Street lädt sie im Übrigen zur Interpretation ein. Der gewaltige Säulenbau als Symbol für machtvolle finanzimperiale Ansprüche und die schattenhaften, eilenden Kleinfiguren lassen Spielraum für Deutungen zu, auch gesellschaftskritische.
Die Abbildung zeigt die Vorderseite eines Ausstellungskatalogs des Metropolitan Museum of Art, New York, aus dem Jahr 1998.
Das Metropolitan Museum of Art bietet weitere Informationen zu Paul Strand, ebenso das Archiv des Museums of Modern Art in New York, die Alfred Stieglitz Collection des Art Institut of Chicago, das Philadelphia Museum of Art, das International Center of Photography oder die Zürcher Paul-Strand-Sammlung. Ein lesenswertes Interview zur Arbeit Paul Strands hat vor einigen Jahren das Magazin Aperture veröffentlicht, auch dieses mit Bildbeispielen.