Die Vermessung des Körpers

Geheimrat Goethe lässt den Laboranten Wagner im Zweiten Teil des Faust das Experiment vornehmen, mit Mitteln der Alchemie einen künstlichen Menschen zu erschaffen, einen Homunkulus. Das Experiment bleibt allerdings im Versuchsstadium und in der Phiole stecken. Goethe beließ es dabei. Dahinter ist jedoch die Idee einer naturwissenschaftlichen Analyse des Menschen und seiner Optimierung erkennbar. Im Übrigen war die Vermessung des Körpers schon vor den Arbeiten am Faust für Goethe von Interesse. Einerseits studierte er die menschlichen Proportionen, um die idealen Formen der klassischen Statuen zu verstehen und die eigene Zeichenfähigkeit zu verbessern, andererseits ging es auch um die Frage, ob sich aus äußeren Merkmalen Charaktereigenschaften ableiten ließen. Dass er als Geheimer Legationsrat für die Musterung von Rekruten zuständig war und bei diesen allerlei Körpermesswerte erheben ließ, sei nur am Rande erwähnt. Hier ging es um die militärische Praktikabilität, etwa beim Zuschnitt von Standarduniformen.

Exponat der Ausstellung “Was ist Aufklärung? Fragen an das 18. Jahrhundert” im Deutschen Historischen Museum Berlin

Goethes Gedanken passten in die Zeit. Seit der Aufklärung unternahm man den Versuch, den Lauf der Welt nicht mehr durch göttliches Wirken, sondern durch Beobachtung, Messung und anhand mathematischer Formeln zu erklären. Empirie und Rationalität waren an die Stelle von Spekulation und Transzendenzbetrachtungen getreten. Dies führte unter anderem zur Entwicklung der Anthropometrie und Biometrie als Methoden zur systematischen Vermessung des menschlichen Körpers. Wissenschaftler wie Carl von Linné und Johann Friedrich Blumenbach nutzten Messergebnisse jedoch auch für kollektive Kategorisierungen bis hin zu vermeintlichen Rassenunterschieden. Adolphe Quetelet führte statistische Methoden ein, um den durchschnittlichen Menschen zu berechnen, und Johann Caspar Lavater leitete aus Gesichtsmerkmalen tieferliegende Charaktereigenschaften ab. Ähnlich Franz Joseph Gall, der die These vertrat, physische und geistige Eigenschaften ließen sich anhand von Schädelformen bestimmen. Allen war der Gedanke zu eigen, den Menschen individuell anhand von Zahlenwerten bestimmen oder kollektiv die Menschheit klassifizieren zu können. Gänzlich neu war das nicht. Schon in der Antike hatte man bezüglich des Körpers nach Harmonieregeln und Proportionsgesetzen gesucht wie später auch Leonardo da Vinci mit der Vitruvianischen Figur. René Descartes schließlich betrachtete den Körper als eine, wenn auch beseelte, Maschine, die nach festen Regeln funktioniert. Der Mensch als mathematische Formel?

Das szientistische Programm der Aufklärung bildete für die Vermessung des Körpers den Rahmen. Während die Empirie Daten sammelt, liefert der Rationalismus theoretische Modelle, um sie in Ordnungssysteme einzupassen. Einige darüber hinausgehende Gesamtaspekte aufklärerischen Denkens markiert gegenwärtig die Ausstellung Was ist Aufklärung? Fragen an das 18. Jahrhundert im Deutschen Historischen Museum in Berlin. Dabei geht es nicht nur um die Sachdarstellung damaliger Gedanken, sondern vor allem auch um Widersprüche und Ambivalenzen, die bis heute virulent sind. Bei der Aufklärung handelt es sich eben um kein eindeutiges, homogenes Fortschrittprojekt. Sie ist ebenso geprägt durch Vorstellungen, die in der Praxis nicht eingelöst wurden oder befremdlich erscheinen.

Mit den Forderungen nach Emanzipation des Menschen, Gleichheit und Selbstbestimmung gibt es heutzutage in der Regel, zumindest verbal, eine hohe Übereinstimmung. Eine von Verwertungszwängen freie, unabhängige wissenschaftliche Forschung oder auch der herrschaftsfreie Diskurs verständigungsbereiter Vernünftiger bleiben jedoch häufig ein nur eingeschränkt wirksames Versprechen. Und dann gibt es da noch die Dialektik der Aufklärung. Einige der Elemente des einstmals progressiven Denkens haben sich durch ihre Auswirkungen ins Gegenteil verkehrt. Empirismus und Rationalismus boten keine Gewähr dafür, dass Freiheit, Gleichheit und Geschwisterlichkeit in der Realität zu Maximen der Moderne wurden. Auch die Konzepte zur Vermessung des Körpers erfuhren eine folgenreiche Weiterentwicklung. So wurden trotz der an sich wertneutralen Diversität der Gattung Mensch normative Hierarchieperspektiven mit teilweise tödlichen Folgen proklamiert. Die sogenannte Wissenschaft vom Menschen prostituierte sich von der Kolonialzeit bis zum Nationalsozialismus als direkte Stichwortgeberin für Rassentheorien.

Hierarchisierende Systeme im Bereich des Sozialen sind selten harmlos. Ob es um vergleichende anthropologische Körperdarstellungen geht, um die Kategorisierung von Krankheitsbildern oder psychiatrische Auffälligkeitstypen, oftmals werden mit Hilfe von Vermessungsdaten wertende Ordnungssysteme geschaffen. Die Definierenden machten dabei bestimmte, meist eigene, Eigenschaften zum neutralen Nullpunkt. Alles, was von diesem abwich, wurde oftmals minderwertigen oder krankhaften Positionen zugeordnet. Schnell war in früheren Zeiten auch die Schlussfolgerung konstruiert: Zivilisation ist, was dem eigenen Sein und der eigenen Kultur entspricht. Von der deutschen Kolonialpolitik im Kaiserreich und den Genoziden in Afrika bis zum Massenmord durch die Nationalsozialisten und ihren eugenisch begründeten Ausrottungsprogrammen, durchgängig wurden anthropometrische Messdaten für die Herleitung einer Theorie unterschiedlicher Typen und Rassen sowie deren Wertigkeiten eingesetzt. Die politischen Akteure und Auftraggeber nutzten diese als vermeintlich wissenschaftliche Unterstützung für eigene Überlegenheitsphantasien einerseits und Minderwertigkeitszuschreibungen auf der anderen Seite.

Das seit der Aufklärung verfolgte Programm zur Vermessung des Körpers wurde nach der Nazizeit hinsichtlich ihrer rassistischen Ordnungssysteme als Ideologie markiert. Es ist heute eine allgemeine Erkenntnis, dass genetische Unterschiede innerhalb einer kulturellen Gruppe eine höhere Varianz aufweisen können als die zwischen verschiedenen, auch weit entfernten Gruppen. Nicht zuletzt postkoloniale Studien machen das Konstrukthafte der früheren Ansätze deutlich. Sie zeigen auch, wie wirkmächtig einige der Begriffe und Vorstellungen sein können. Diese spiegeln die Einstellungen und Perspektiven von Gesellschaften wider, die sich ein projektives Bild anderer Kulturen gemacht haben und dieses über lange Zeit systematisch perpetuierten, teilweise bzw. unterschwellig bis in die Gegenwart.

Die Vermessung des Körpers ist auch heute gang und gäbe. In vielen Anwendungsbereichen wird mit umfangreichen biometrischen Daten gearbeitet. In der medizinischen Diagnostik sind es neben klassischen äußeren Körpermessungen auch Laborwerte, CTs, MRTs, Angiographien sowie weitere Methoden zur mathematischen Erfassung bzw. Digitalisierung des Körpers. In der Sportwissenschaft werden junge Athletinnen und Athleten daraufhin untersucht, welche Voraussetzungen sie für potentielle Medaillenerfolge in bestimmten Disziplinen mitbringen. Die Arbeitswissenschaft optimiert Maschinen hinsichtlich der Körperextremitäten des bedienenden Personals. Der Modeindustrie ist daran gelegen, ihre Produkte in standardisierten Größen anzubieten, abgeleitet aus den Durchschnittswerten der Käuferinnen und Käufer. Schließlich, auch dies als Beispiel, basiert die automatische Gesichtserkennung auf biometrischen Daten. Der klassische Fingerabdruck ist da fast schon eine Methode der Vergangenheit. DNA-Analysen sind neben biometrischen Verfahren mindestens genauso aussagekräftig. Die Liste ließe sich fortsetzen. Stets wird gemessen, mal zur individuellen Identifikation, mal zur kollektiven Typbestimmung, etwa beim Racial Profiling im Rahmen polizeilicher Maßnahmen.

Das szientistische Paradigma der Aufklärung bildet auch heute den Rahmen für die Vermessung des Körpers. Empirie sammelt Daten und Theorien bieten Modelle, um die Zahlenergebnisse zweckgerichteten Ordnungssystemen zuzuordnen. Andere, nicht mit mathematischen Methoden gewonnene, Erkenntnisse spielen eine nebensächliche Rolle. Wenn überhaupt. Die Schädelvermessungen früherer Zeiten waren, so gesehen, nur der Ausgangspunkt einer bis heute wirksamen, letztlich reduzierten Sicht auf den Menschen.

Die Ausstellung Was ist Aufklärung? Fragen an das 18. Jahrhundert im Deutschen Historischen Museum in Berlin ist noch bis zum 6. April des Jahres zu sehen.

 

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