Nach der Postmoderne
Im neuzeitlichen Denken scheinen alle Definitionsversuche von Kunst vergeblich. Alles geht, alles ist möglich. Und das Gegenteil ebenso. Unter Kunst wird verstanden, was als solche gelabelt ist, vom Publikum und vor allem vom Kunstmarkt. Dessen Kriterium scheint eindeutig: Je teurer, umso Kunst! Es muss sich bei dieser Feststellung nicht einmal um Zynismus handeln. An anderen Kriterien herrscht schließlich Mangel. Soweit das postmoderne Weltbild. Aber ein schaler Geschmack verbleibt. Gerade weil es so aufgeklärt und desillusioniert klingt, will die durch Beliebigkeit und Kunstüberflutung entstandene Langeweile auf Dauer nicht erheitern. Dies klingt nach Treibstoff für gegenläufige Tendenzen.
Expressionismus, Surrealismus, Abstraktion, Performances, schließlich der Erweiterte Kunstbegriff, sie alle waren Etappen der modernen Kunstentwicklung. Dabei galt und gilt das dialektische Prinzip: Ohne Durchschnittliches nichts Herausragendes, nichts Exzeptionelles. Um als solches erkannt zu werden, bedarf das Besondere der Hintergrundfolie des Mittelmäßigen. Oder des Gewöhnlichen. Ohne naturalistisch gemalte röhrende Hirsche über dem Sofa kein dadaistischer Skandal. Gerät die Mehrheitsgesellschaft allerdings in Unruhe und beginnt, sich selbst infrage zu stellen, verliert die künstlerische Avantgarde an Bedeutung. Gegenüber dem Mainstream ist nun nichts mehr zu negieren. Wenn alle zu Abweichlern vom einstmals Normalen werden und die Hirsche flächendeckend durch Neumodisches ersetzt sind, büßt die avantgardistische Kunst ihre Sprengkraft ein. Die postmoderne Beliebigkeit ist ein zusätzliches Problem. Gegen den Strom zu schwimmen hieße deshalb, eine Drehung der Schwimmrichtung vorzunehmen. Aber wohin?
Gegensätze ziehen sich an. Alles, was entsteht, vergeht auch wieder, und die Mode von gestern ist der tauende Schnee von heute! Die Liste der Banalitäten zur Dynamik des Seins ließe sich fortsetzen. Das einzig Beständige ist die Unbeständigkeit. Dies gilt auch für die Fotografie. Hinzu kommt, dass die Warengesellschaft auf dem Prinzip beruht, immerzu Neues zu produzieren und es schnell zu konsumieren. Nichts spricht dafür, dass die gegenwärtigen Erscheinungsformen der Contemporary Art den Endpunkt einer Entwicklung darstellen, und auch in der noch relativ jungen Geschichte der Fotografie lassen sich unterschiedliche Ansätze sowie zyklische Entwicklungen und Gegenbewegungen erkennen. In den knapp zweihundert Jahren ihres Bestehens machte sie wie im Schnelldurchlauf vieles von dem durch, was die übrigen Bildenden Künste über lange Jahrhunderte geprägt hat.
Begonnen hatte es einstmals mit schemenhaften Zeichen an der Höhlenwand, die sich mehr und mehr verfeinerten, bis schließlich das Ideal der perfekten realistischen Malerei entwickelt war. Wilde Formen wie Impressionismus und Expressionismus sowie der ins Phantastische schweifende Surrealismus folgten, ebenso Gegenstandsloses. Die Geschichte der Fotografie von den ersten vagen Schemen auf einer belichteten Platte über den Piktoralismus um 1900 bis zur digitalen Hyperschärfe ähnelt dem. Heute versammelt sich vorgeblich Dokumentarisches gleichermaßen wie Experimentelles, Surrealistisches und Abstraktes unter dem Label Fotografie. Selbst kameralos entstandene Arbeiten werden hinzugerechnet. Die Begriffsbestimmung ist diffus geworden. Strukturalismus und Postmoderne haben im letzten Viertel des Zwanzigsten Jahrhunderts die Dinge zusätzlich in Verwirrung gebracht oder, je nach Sichtweise, homogenisiert. Die Welt mit ihren mannigfaltigen Erscheinungen einschließlich der Wahrnehmungsprozesse in den Köpfen besteht seitdem für manchen nur noch aus Symbolen und Zeichen, so dass auch die Gattungsgrenzen zwischen Bildender und anderer Kunst obsolet geworden sind.
Verständlich, dass die sukzessive Auflösung alter Klarheiten dazu führt, dass in der Postpostmoderne wieder Sicherheiten gefragt sind. Der Neorealismus in der Malerei weist darauf hin. Und da sich das Experimentelle auch durch Gewöhnung ein wenig abgenutzt hat, ist der Weg wieder offen für Bilder, die sich vom Betrachter geschmeidiger erschließen lassen, als dies seit den 1960er Jahren hier und dort der Fall gewesen ist. Vom Anything goes führt offenbar ein Weg zurück in eine Kunstwelt, die ihre Botschaften wieder expliziter und nachvollziehbarer formuliert. Der Überdruss am Abstrakten mit diffus verborgenem Sinngehalt fördert die Wiederkehr des Figurativen, Gegenständlichen.
Das gilt in ähnlicher Weise auch für die Fotografie. Nachdem uns die Avantgardisten von Moholy-Nagy bis Gursky hinreichend darüber belehrt haben, dass jede Fotografie ein Konstrukt ist, lässt sich der Blick wieder unbefangen auf die fotografische Scheinwelt richten. Wir wissen ja nun, dass sie kein einfacher Spiegel des Realen ist. Zu dieser Erkenntnis bedarf es keiner wilden Experimente, ausufernder Digitalmontagen oder langweiliger serieller Konzepte mehr. Handwerklich gut gemachte Fotografien mit überzeugender Gestaltung und erkennbarer inhaltlicher Aussage haben hingegen nichts an Attraktivität verloren. Vielleicht entwickelt sich ja so etwas wie eine neue Straight Photography. Dieser könnte eine Rückbesinnung auf den spezifischen, technisch bedingten Charakter der Fotografie zugrunde liegen, zurück zu den Wurzeln eben. Eine solche Fotografie verzichtet auf Mätzchen und zeigt sich überwiegend gegenständlich. Sie funktioniert im Übrigen sowohl analog wie digital.
Ein Wermutstropfen hat das Ganze. Mit solchen einfachen Erscheinungsformen des Fotografischen den Kunstmarkt zu interessieren, dürfte ein schwieriges Unterfangen sein. Im Zeitalter der allgemeinen Bilderflut fallen meist nur Werke mit außergewöhnlichen Merkmalen auf. Es werden Bilder mit extraordinären Eigenschaften protegiert: Riesengroß, aufwändig produziert, dazu mit Zeichen des Zeitgeistes aufgeladen und mitunter nur mit Anstrengung zu deuten. Ob solchen Megawerken aus der fotografischen factory eine dauerhafte Zukunft beschert sein wird, kann gleichwohl bezweifelt werden, denn sie sind relativ weit entfernt von der ursprünglichen Idee des Fotografischen als einer ungeschminkten, schnellen und demokratischen Technik.
Am Ende könnte sich in einer komplexer werdenden Welt wieder das Einfache durchsetzen. Bereits der Blogbeitrag Abstraktes und Figuratives hatte sich mit dieser Thematik befasst.