Abstraktes und Figuratives
In der Malerei lässt sich seit einigen Jahren ein Trend beobachten, weg vom Experiment und zurück zum Figürlichen, Gegenständlichen. Wenn auch nicht unbedingt als einfache Abkehr von der Abstraktion, sondern eher im Sinne einer Koexistenz oder Vermischung beider Stile. Mag sein, dass dies eine Folge gewisser Ermüdungserscheinungen hinsichtlich theorielastiger Bildkonstrukte ist, die nur mit angestrengter Reflexion auf der Metaebene, wenn überhaupt, einen Sinn ergeben. Man möchte lieber mit einer kürzeren Verweildauer vor einem Werk stehen, als sich tiefgründige Gedanken machen, was das alles zu bedeuten hat. Dies würde im Übrigen zu der Vermutung passen, dass sich im heutigen Medienzeitalter die Aufmerksamkeitsspanne auch bei der Kunstrezeption reduziert hat. Die schnelle Botschaft ist gefragt.
So wie das Lesen längerer Texte mehr und mehr zu einer elitären Angelegenheit wird. Andererseits will kaum jemand im Kreis bildungsbeflissener Kunstfreunde und Freundinnen als Banause gelten. Ein wenig Abstraktion im Kunstwerk wird deshalb als interessant akzeptiert. Man/frau ist schließlich nicht blöd. Aber die Probleme dieser Welt sind schon komplex genug. Alles gerade noch Verständliche wird da als wohltuend empfunden. Figuratives kommt dem entgegen.
In den repräsentativen Chefetagen großer Unternehmen und Banken hat die abstrakte Kunst an den Wänden der Konferenzräume jedoch weiterhin Konjunktur. Sie wirkt in dieser Umgebung ja auch irgendwie beruhigend. Keine erkennbare Aussage, keine explizite Botschaft, zu der man sich positionieren muss. Jeder und jede mag sehen, was er/sie möchte. Es bleibt selbst dann ungefährlich, falls einmal das Gespräch dazu eröffnet wird. Eine bewundernde Anmerkung reicht aus, insbesondere wenn es sich um das Werk eines Champions League Künstlers handelt. Diplomatisches Geschick ist nur dann gefragt, wenn das Bild von der malenden Ehefrau des Vorstandsvorsitzenden stammt oder vom mittelmäßig begabten Künstlergatten der Chefin.
Hybride wie zum Beispiel einige der halb realistisch, halb abstrakt wirkenden Werke Gerhard Richters eignen sich gerade noch als Konzernkunst. Wenn überhaupt bezahlbar. Dann wird es aber auch schon eng. Mit zunehmendem Realismus wird jedes Bild zum Statement, mitunter gar zur politischen Aussage. Und da will man sich auf der Vorstandsetage nicht unbedingt festlegen. Jonathan Meese oder Norbert Bisky gelten deshalb als wenig geeignet. Schließlich soll weder die gute Arbeitslaune verdorben werden, noch will man den Sitzungsteilnehmern allzu viel Detailblickfang oder Provozierendes offerieren. Es soll ja niemand abgelenkt oder abgeschreckt werden.
Während bei der Repräsentationskunst im Büro weiterhin das harmlos Abstrakte, innenarchitektonisch Dekorative vorherrscht, sieht die Sache auf dem allgemeinen Kunstmarkt etwas anders aus. Hier ist eine Renaissance der Figuration erkennbar, zwar nicht im Sinne des alten Naturalismus aus dem 19. Jahrhundert, wohl aber als neue Hinwendung zum inhaltlich Identifizierbaren. Dies mag mit der eingangs erwähnten Ermüdung bezüglich des Abstrakten zu tun haben, aber auch mit einem gesteigerten Interesse an gesellschaftlichen Bekenntnisthemen jenseits postmoderner Beliebigkeiten, an Identitätsfragen bis hin zu queeren Körperthemen oder an einer neuerwachten Lust am Erzählen. Das alles lässt sich abstrakt nur schwer umsetzen. Da bieten sich dann Neo Rauch, Daniel Richter, Rosa Loy oder auch die schon genannten Jonathan Meese und Lothar Bisky an, die das Bedürfnis nach inhaltlichen Sinnangeboten zeitgemäß befriedigen. Bei ihnen verbinden sich auf herausfordernde, teils provozierende Weise Affirmatives und Subversives.
Die Entscheidung für Gegenständliches wirkt nach Jahrzehnten der Abstraktion und der Konzeptkunst wie eine Rehabilitierung des potentiell Erkennbaren. Affirmativ ist es, wenn konventionelle Techniken und Kompositionsregeln angewandt werden, subversiv, indem mit üblichen Erwartungen und dem Hinweis auf das Fragile des Vertrauten gebrochen wird. Um plakativen Realismus handelt es sich nicht. Ein wenig Nachdenken ist schon gefordert. Zumal die Bilder Symbolisches oder Andeutungen bieten, die dem kunstsinnigen Feingeist beim angestrengten Entschlüsseln am Ende Befriedigung verschaffen. Heureka, ich habe da etwas erkannt und mit Sinn versehen!
Und in der Fotografie? Sie gilt zwar landläufig als Medium mit unmittelbarem Realitätsbezug, also mit einem grundsätzlich figurativen Ansatz, aber gerade deshalb hat es nie an Versuchen gemangelt, das Paradigma des Objektiven in Frage zu stellen beziehungsweise zu relativieren. Entsprechend wurde vom analogen Moholy-Nagy bis zum digitalen Andreas Gursky das Realität Konstruierende der Fotografie betont. Darüber hinaus gibt es vielerlei Abstraktes. In Anlehnung an die Freiheiten der Malerei wird auch die Fototechnik einschließlich kameraloser Ansätze als ein Medium verstanden, das eigene Realitäten zu schaffen in der Lage ist. Das Ergebnis kann vollkommen gegenstandslos sein oder auch fiktiv mit pseudorealer Anmutung. Die Übergänge sind fließend. Die Freischwimmer-Serie von Wolfgang Tillmans beruht auf chemischen Prozessen ohne Einsatz einer Kamera, Thomas Ruffs Substrat-Bilder zeigen digital verfremdete Farbflächen ohne Objekte und Marco Breuer bearbeitet belichtetes Fotopapier mit allerlei Hilfsmitteln bis hin zum Einsatz von Feuer und mechanischen Einwirkungen. Stets geht es um die Zerstörung der Idee von der Fotografie als einer Abbildtechnik. Hinzu kommen digitale Manipulationen wie etwa die KI-erzeugten post-fotografischen Artefakte von Boris Eldagsen. Das Pendeln zwischen Mimesis, Konstruktion und Abstraktion gehört im Kontext einer kritischen Neubewertung des Realismusverständnisses zum Kennzeichen dieser Ansätze.
Wie bei allen Strömungen gibt es auch hier gegenläufige Tendenzen. So wie die abstrakte Malerei durch den Neorealismus ergänzt wurde, zeigen sich in der Fotografie Bemühungen zur Rehabilitierung der klassischen Kameratechnik, gleich ob analog oder digital. Dies bedeutet nicht, dass naiv fotografiert wird. Eher lässt sich der Trend als Kritischer Realismus bezeichnen. Von Cindy Sherman, Jeff Wall, Andreas Mühe oder Rineke Dijkstra werden aufwändig inszenierte Tableaus geschaffen oder altmeisterliche Malstile und Kompositionstechniken fotografisch adaptiert. Andere wie Nan Goldin oder Wolfgang Tillmans arbeiten ebenfalls figurativ, allerdings mit einer deutlich stärkeren Betonung des Spontanen, Nichtinszenierten. Gemeinsam ist ihnen, dass der Mediencharakter der fotografischen Technik reflektiert wird und häufig auch soziale Machtfragen, geschlechterbezogene Rollenthemen sowie die gesellschaftlich begründete Historizität des Bildes bewusst gemacht werden.
Der Kritische Realismus findet eine Ergänzung im schnörkellosen Dokumentarrealismus alter Schule. Wenn gegenstandsfreie Experimente und die aufwändigen Digitalkonstrukte eines Gursky oder die Tableauinszenierungen von Jeff Wall und Andreas Mühe als Untreue gegenüber der einfachen, simplen Kamerafotografie empfunden werden, geht der Blick mitunter zurück. Statt des Einsatzes einer Großbildkamera im Studio und teuren Kulissenaufbauten oder komplexen Digitalmontagen am Rechner findet eine Rückbesinnung auf den klassischen Ansatz der Fotografie mit der Kleinbildkamera oder einem ähnlich schnellen Handapparat statt. Es müssen schließlich nicht immer die riesigen Formate sein, die, teuer hergestellt, ganze Wände in den Galerien und Museen beanspruchen. Das einfache Schwarzweißbild, etwas seltener auch in Farbe, auf Fotopapier oder als Print reicht aus, um an das ursprüngliche, vielleicht sogar eigentliche Potential der Fotografie zu erinnern. Das Keep ist simple übt jedenfalls eine anhaltende Faszination aus. Durchaus als Gegentrend zur bemühten Großkunst. Paradigmatisch steht hierfür die Magnum-Fotografie.
Aber es muss unterschieden werden. Der Kunstmarkt, vertreten durch Agenten, Galerien und Museen, sucht und fördert das Spektakuläre, meilenweit vom alltäglichen Gebrauch des Fotoapparates Entfernte. Oft führt dies zu teuer hergestellten Großformaten. Das Publikumsinteresse scheint sich hingegen, vielleicht gerade aus diesem Grund, auch weiterhin für Dinge zu interessieren, die nicht mit Hilfe einer großen Produktionsmaschine und zahlreichen Assistenten entstanden sind, sondern ganz einfach nur ... mit einer Kamera.
Figuratives könnte jedenfalls auch in Zukunft das Kerngeschäft der Fotografie ausmachen, verbunden mit einer aktiven Einengung der über Jahrzehnte eingeübten, immer breiter gewordenen Definition des Fotografischen. Die Fotografie hat es nicht nötig, sich alle möglichen Techniken, die auch nur entfernt mit Licht, dazu Chemie oder Rechneralgorithmen zu tun haben, definitorisch einzuverleiben. Je mehr die Arbeit mit der klassischen Kamera, analog oder digital, es muss nicht unbedingt eine Leica sein, zu einer randständigen Kulturtechnik wird, die auf wirkmächtigen Firlefanz verzichtet, umso größer die Möglichkeit, hier eine kleine, aber feine Nische zu besetzen. Fotografie im ursprünglichen Sinne eben. Eher ungeschminkt figurativ als abstrakt, theorielastig und angestrengt konzeptionell.