Landvolk in der Hauptstadt

Das Rednerpult vor dem Brandenburger Tor für den Bauernführer und den Minister war am frühen Montag noch nicht aufgebaut. Viele der nach Berlin Gekommenen hatten aber bereits die Nacht dort verbracht. Wärmende Feuer, laufende Motore und Bierflaschen zeugten davon, ebenso die Versorgung mit allerlei Gegrilltem. Vor den Cafes Unter den Linden hingegen lästernder Unmut. Keine Brötchen mit Wurst. Oh, diese Hauptstadtvegetarier! Es wurde mit lässigem Humor zur Kenntnis genommen. Eine andere Welt eben. Aber das gilt für beide Seiten. Ressentiments sind schnell zur Hand. Klar, es gibt die Agrarindustrielobby und populistische Trittbrettfahrer, die den Versuch unternehmen, die Bauernschaft für eigene Interessen zu instrumentalisieren. Aber das Unbehagen lässt sich nicht allein darauf zurückführen. Bei der Demo waren auch Ökobauern dabei.

Die Stadt muss sich die Frage gefallen lassen, ob sie das Land eigentlich noch versteht. Was haben kulturliberale Großstadtmenschen in den vergangenen Jahren dafür getan, um mit ihren Gesellschaftsbildern auch kleinstädtisch und ländlich geprägte Mentalitäten begreifbar zu machen? Die Denkmodelle waren meist durch multikulturelle Stadterfahrungen geprägt. Alltagsrealitäten anderer Lebenswelten fanden weniger Beachtung. Und nun wundern sich Prenzelberger und Charlottenburger, dass es da noch etwas anderes gibt, jenseits von Latte und Hafermilch. Okay, auch das ist ein Klischee.

Das städtische Milieu ist nicht der Nabel der Welt. Eine überzeichnende Dichotomie zwischen Stadt und Land wäre deshalb zu kurz gedacht. Nur in wenigen Regionen ist die nächste Metropole räumlich so weit entfernt, dass es nicht zu einem Austausch kommt. Landmenschen leben in der Regel nicht ohne die Stadt. Umgekehrt sieht das schon anders aus. Abgesehen von wochenendlichen Ausflügen in die Provinz oder zu Events in einer Kulturscheune mit anschließendem Besuch im schick gemachten Sternegasthof verbindet den Städter alltagspraktisch nicht allzu viel mit Acker und Weide. Hinzu kommen ein paar Wandersleute, stets auf der Suche nach der unbefleckten Natur. Von der Alltagswirklichkeit der Menschen vor Ort erfahren aber auch sie so gut wie nichts. 

Und nun rückt das Landvolk in das Herz der Hauptstadt ein. Mit tausenden Treckern und Gehupe und meist folgsam bezüglich der polizeilichen Anordnungen. Die Konvois nahmen die vorgesehenen Routen, ließen sich nicht von abseitsgelegenen Parkplätzen irritieren und stellten ihre riesigen Maschinen ordentlich in Reih und Glied am Straßenrand auf. Eine tatsächliche Revolte sieht anders aus. Kurz, es war ein Protest mit starker Präsenzwirkung, einigen martialischen Plakaten und einem ausgebuhten Finanzminister, der sich zu den Aufständischen gewagt hatte. Aber warum auch nicht, muss er sich gedacht haben. Zu Verlieren gab es nichts. Seine grünen Kollegen aus Landwirtschat und Wirtschaft hatten anderes zu tun oder es war ihnen von einem Erscheinen abgeraten worden. Und der Kanzler hätte einen akzeptablen Auftritt wohl nicht hinbekommen. Auf den ersten Blick also ein strategischer Punktgewinn des Ministers. Sein Erscheinen beim Landvolk kann allerdings als kalkulierte Aktion verstanden werden. Die Ablehnung, die er trotz Anbiederung erfuhr, zahlt vielleicht eher auf das Negativkonto seiner Koalitionspartner ein als auf das der eigenen Partei. Sein Redebeitrag legt eine solche Zielsetzung jedenfalls nahe. Keine Spur von Regierungsloyalität. Wie ein Bambi in Verwirrung. Und so könnte sich der vermeintliche Punktgewinn am Ende gegen seinen unseriös wirkenden Verursacher wenden.

Komischer Gedanke plötzlich. Ein gewisser Franz Josef Strauß hatte anlässlich einer Rede in Sonthofen einmal davon gesprochen, dem Land müsse es richtig schlecht gehen, damit eine neue Regierung gewählt werde. Und nun Christian Lindner, dem sein Spruch aus dem Jahr 2017 anhängt, besser nicht zu regieren als falsch. Will er jetzt etwa den Beweis erbringen, dass ihm die Koalition mit Rot und Grün aufgezwungen wurde und er es eigentlich besser gewusst hätte? Hoffnung auf eine self-fulfilling Prophecy, die er nun selbst nach Kräften nährt? Wenn das so wäre, wird es wohl nix mehr mit dieser Regierung.

Aber beenden wir die Phantasien. Hier noch einige Fotos vom Bauernaufstand am Morgen des 15. Januar in Berlin. Ohne Minister und ohne Bauernführer.

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