Konstruktive Sachlichkeit

Das Kunstmuseum Wolfsburg lockt gegenwärtig mit einer reizvollen Doppelausstellung. Piet Mondrians abstrakte Kompositionen treffen auf grafisch wirkende Industriefotografien von Peter Keetman. Das Zusammentreffen ist kein Zufall, haben sich doch beide dem prägenden Gedanken der ausgewogenen Bildkomposition verpflichtet. Als Gestaltungsmittel ist diese in der Malerei ebenso nutzbar wie beim Fotografieren.

Die Ausstellungsmacher beschreiben das Mondrian-Projekt als Beitrag zur Reflexion der Moderne: Wie kaum ein anderer hat Piet Mondrian es innerhalb weniger Jahre geschafft, sich in den 1910er-Jahren von der figurativen Malerei weg hin zu einem richtungsweisenden „abstrakten“ Malstil zu entwickeln, den er in seinen umfangreichen kunsttheoretischen Schriften als „Neue Gestaltung“ oder „Neoplastizismus“ bezeichnet hat. Die vermeintlich schlichten Kompositionen aus zunächst schwarzen Linien, farbigen Quadraten und Rechtecken auf weißem, hellblauem oder grauem Grund haben die Kunstwelt nichts weniger als revolutioniert und den Blick auf die Bildwirklichkeit für immer verändert.

Der Ausstellungstitel „Re-Inventing Piet. Mondrian und die Folgen“ mag vielleicht ein wenig hochgegriffen sein. Schließlich sind nur wenige Originale Mondrians zu sehen, daneben Werke einer Reihe von KünstlerInnen, die sich irgendwie auf den Meister beziehen. Das reicht von transkulturellen Auseinandersetzungen etwa von Remy Jungermann oder einer fotografischen Nachbildung von Jörg Sasse bis zu verkaufsträchtigen Adaptionen der Haute Couture von Ives Saint Laurent. Bei alledem wird deutlich, wie stark die künstlerische Ästhetik der letzten hundert Jahre durch Bauhaus, De Stijl und den Konstruktivismus geprägt ist.

Im Vergleich zu den farblichen Kompositionen Mondrians und seiner NachfolgerInnen wirken die in der oberen Etage des Kunstmuseums gezeigten Schwarzweißfotografien Peter Keetmans zunächst wie ein Gegensatz, aber dies eben nur auf den ersten Blick. Bei den im Jahr 1953 entstandenen Aufnahmen aus dem Volkswagenwerk handelt es sich nicht um Dokumentationen im klassischen Sinne, sondern vielfach um abstrakt wirkende Detailaufnahmen aus dem industriellen Fertigungsprozess, die der programmatischen Linie der Subjektiven Fotografie Otto Steinerts folgen. Interessant ist, dass dieser Aspekt in Keetmans Werk erst relativ spät hervorgehoben wurde. Lange Zeit wurden seine Aufnahmen lediglich als Begleitbilder der Käferproduktion verstanden. Erst Jahre danach wurden die Bilder Keetmans im Kontext der an Fahrt aufgenommenen Reflexion des Mediums Fotografie entdokumentarisiert und auch als Kunst sui generis verstanden.

Keetman war 1949 an der Gründung der Gruppe fotoforum beteiligt. In den Folgejahren waren seine Aufnahmen regelmäßig in Magazinen und Fotozeitschriften vertreten, so auch 1951 bei der ersten Ausstellung der Subjektiven Fotografie in Saarbrücken. In seiner 27. Ausgabe vom April 2023 würdigt DAS ARCHIV – Zeitung für Wolfsburger Stadtgeschichte, im Übrigen auch kostenlos in der Ausstellung angeboten, das Werk Keetmans mit mehreren Beiträgen in seiner historischen Einordnung sowie mit zahlreichen Bildbeispielen. Der Beitrag von Rolf Sachse beschreibt neben persönlichen Erinnerungen die Rolle der Subjektiven Fotografie der 1950er Jahre. Es ging um nichts weniger als die Befreiung von jeder Funktionalität. Im Vordergrund stand die Bildkomposition, die Verteilung von Schwarz und Weiß, von Licht und Schatten. Darüber hinaus schildert Sachse die Rezeptionsgeschichte des Werkes Keetmans bis hin zu seiner Förderung durch F.C. Gundlach sowie die Übernahme der Serie Volkswagenwerk durch das Kunstmuseum Wolfsburg im Jahr 2003. Der Beitrag von Dirk Schlinkert erinnert an die Geschichte des Käfers und seine Bedeutung für die Entwicklung der Stadt Wolfsburg. In einem Gespräch zwischen Schlinkert und dem Stadthistoriker Alexander Kraus wird noch einmal der besondere Blick Keetmans betont. Eine chronistische Dokumentation des Fertigungsprozesses oder der Stadt lagen weniger im Zentrum seines Interesses. Es war nicht die klassische Auftragsfotografie, die ihn reizte. Die Freiheit des suchenden Auges erfasste vielmehr die Wirklichkeit hinter den Kulissen. Leitend war seine Faszination für Strukturen, Formen, Oberflächen und die Abstraktion. Die entschleunigte Arbeit mit Stativ und der Rolleiflex förderte dies. Der Leiter der Sammlung und Kurator am Kunstmuseum Wolfsburg, Holger Broecker, fasst das Ergebnis in seinem Beitrag bündig zusammen: Von größter Präsenz ... sind innerhalb des eng gewählten Ausschnitts die abstrakt anmutenden Formen, die die Teile definieren, deren metallisch schimmernde Oberfläche, das Prinzip der Reihung – das die Form an sich betont, aber gleichzeitig auch relativiert – und das Licht, das das Volumen der Blechteile subtil sichtbar werden lässt. In weiteren Beiträgen befassen sich Bernd Rodrian mit dem Verhältnis von Auftrags- zur freien Fotografie sowie Kristin Torka mit der Werksfotografie. Insgesamt eine höchst lesenswerte Publikation.

Die Ausstellung „Re-Inventing Piet. Mondrian und die Folgen“ ist im Kunstmuseum Wolfsburg noch bis zum 16.07.2023 zu sehen, die Ausstellung „Peter Keetman. 70 Jahre Volkswagenwerk 1953“ bis zum 25.06.2023.

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