Fotografien eines Wandels

Es war in den 1950er Jahren, als ein Amateurfotograf durch das im Thüringischen gelegene Berka streifte und Bilder vom Gemeinschaftsleben seines Heimatortes in der noch jungen DDR festhielt. Die Aufnahmen vermitteln eine optimistische Grundstimmung zwischen dem neugewonnenen Alltag nach dem Krieg und den Bemühungen des ostdeutschen Staates um Identitätsbildung. Fotografien von Hochzeitsfeiern und vom Karneval oder von der Arbeit in den landwirtschaftlichen Betrieben stehen neben Bildern vom Fahnenappell der Jungen Pioniere und Symbolen der sozialistischen Propaganda. Fotograf war der 1929 geborene Ludwig Schirmer, seit 1953 Müllermeister in Berka. Erfolge bei Fotowettbewerben führten ihn schließlich zu professionellen Auftragsarbeiten für regionale Betriebe und Ende der 50er Jahre zur Aufnahme in den Journalistenverband.

Im Jahr 1961 beendete Schirmer seine Tätigkeit als Müller, widmete sich fortan konsequent der Fotografie, gründete in Berlin ein Fotostudio und wurde ein renommierter Werbefotograf. Bekannt wurde er auch durch Portraitaufnahmen von Künstlerinnen und Künstlern im Schauspielhaus Berlin und der Berliner Philharmonie. Bis zu seinem Tod im Jahr 2001 experimentierte er darüber hinaus mit der Camera Obscura auf dem Gebiet der Landschafts- und Architekturfotografie.

Tochter von Ludwig Schirmer ist die 1949 geborene Ute Mahler. Nach dem Studium an der Hochschule für Grafik und Buchkunst (HGB) in Leipzig arbeitete sie für verschiedene Zeitschriften, unter anderem für Sibylle. Nach der Wende war sie Mitbegründerin der Agentur Ostkreuz und als Hochschullehrerin tätig. Verheiratet ist sie mit Werner Mahler. Zu Beginn seiner fotografischen Laufbahn arbeitete dieser als Assistent von Ludwig Schirmer. Studiert hatte er ebenfalls an der HBG. Als Abschluss legte er eine Fotoarbeit über Berka vor. Heute gilt er, wie Ute Mahler, als stilprägend für die Fotografie in der DDR und steht für einen schnörkellosen, fotografisch anspruchsvollen Sozialrealismus.

Werner Mahler hat Berka Jahre nach seiner Abschlussarbeit an der HGB für den Stern erneut besucht. Und Ute Mahler machte später unter anderen eine Serie von Aufnahmen des Alltagslebens Jugendlicher. Die Serien der Mahlers dokumentieren den Wandel des Soziallebens in der Nachwendezeit. Akkurat getrimmte Hecken, schick gemachte Häuser und dick gewordene Autos hatten die Welt Ludwig Schirmers verändert.

Unter dem Titel Ein Dorf 1950-2022. Ute Mahler, Werner Mahler und Ludwig Schirmer werden in der Akademie der Künste in Berlin am Hanseatenweg neben den Bildern Schirmers Ausschnitte aus dem Schaffen der Mahlers gezeigt. Portraits junger Frauen und Kleinstadtimpressionen der Nachwendezeit fügen sich zum Querschnitt einer Epoche deutscher Geschichte. Die Fotografien der Mahlers beziehen sich dabei nicht allein auf die Veränderungen in Berka, sondern zeigen einen generalisierbaren Ausschnitt aus der Lebenswirklichkeit in Ostdeutschland in den Jahren nach der Wende. So schließt sich der Kreis. Berka von den 1950ern bis in die nahe Gegenwart, von der frühen Aufbruchsstimmung über den ernüchternden Alltag in der DDR, die Wendezeit mit dem Versprechen blühender Landschaften bis zur Identitätssuche von Jugendlichen zwischen gemeinschaftlicher Subkultur und individualisierender Konkurrenzwelt.

Die Ausstellung Ein Dorf 1950-2022. Ute Mahler, Werner Mahler und Ludwig Schirmer ist in der Akademie der Künste im Rahmen des EMOP (European Month of Photography) noch bis zum 04. Mai zu sehen. Wer die Zukunft der Fotografie nicht in buntkreischenden Sensationen oder gar KI-getunten Fakes sehen will, sondern einem klassischen Verständnis des Mediums verbunden ist, kann in der Ausstellung bei allen inhaltlichen Spannungen der gezeigten Fotografien zu einer nachdenklichen, meditativen Ruhe finden.

Die ebenfalls in der Akademie der Künste stattfindende Zentrale Festivalausstellung des EMOP mit dem Titel Was zwischen uns steht. Fotografie als Medium der Chronik wirkt da mit ihrem Sammelsurium unterschiedlicher Ansätze im Vergleich zu den Fotografien Schirmers und der Mahlers doch etwas aussageschwach. Klar, es gibt nicht Die Fotografie oder nur einen fotografischen Stil. Gleichwohl darf die Prognose gewagt werden, dass der bildmäßigen Fotografie mit Dokumentarcharakter auch weiterhin eine anhaltende Faszination zukommen wird. Nicht zuletzt, weil gerade in Zeiten von KI-Phantasien, diffusen Experimenten oder einer inszenierten, hippen Spontaneität das Bedürfnis nach einem verständlichen fotografischen Sinn nicht nachlässt. Das allgemeine künstlerische Anything goes wird kontrastiert durch das Interesse an einer eher klassisch orientierten Fotografie mit vertrauter Bildanmutung. Dies schließt die experimentelle Auslotung ihrer Möglichkeiten nicht aus.

Bei Hartmann books ist das mit Textbeiträgen von Jenny Erpenbeck, Anja Maier, Steffen Mau und Gary Van Zante versehene Buch Ute Mahler, Werner Mahler, Ludwig Schirmer. Ein Dorf 1950 – 2022 erschienen, das den Wandel Berkas dokumentiert.

Sehr zu empfehlen ist ein Besuch der Website Fotoserien – Ute Mahler & Werner Mahler der Agentur Ostkreuz, auf der auch zahlreiche Bilder der in der gegenwärtigen Ausstellung vertretenen Projekte gezeigt werden.

Zur Auswertung des Nachlasses von Ludwig Schirmer durch Ute Mahler gab es im Jahr 2005 anlässlich einer damaligen Ausstellung in der Akademie der Künste ein Interview im Deutschlandfunk Kultur unter dem Titel Feldarbeit, Feiern und Flirten.

 

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