Fotografie und die Ambivalenz der Moral
Für den Katalog zur Weltausstellung der Photographie, die im Jahr 1964 in verschiedenen europäischen Städten stattfand, hat Heinrich Böll einen Prolog verfasst. Der Text Die humane Kamera reiht sich ein in Werke des Autors, die sich auf wiederkehrende Weise mit dem moralischen Potential der Fotografie befassen, nicht selten als Einleitung oder Begleitung zu zeitgenössischen Bildbänden. Wie später Susan Sontag lotete Böll die Gratwanderung zwischen einer voyeuristischen, effektheischenden und damit schnell menschenverachtenden Form der Fotografie auf der einen Seite aus und den Möglichkeiten einer empathischen, respektvollen Variante auf der anderen.
Wer am Schlüsselloch lauert, entdeckt natürlich den Menschen in seiner Gebrechlichkeit, so Böll. Und genau hier scheidet sich die Moral von ihrem Gegenteil. Das besondere Schicksal Einzelner lässt sich so darstellen, dass der Abgebildete seine Würde behält und das Bild gleichwohl als potentielles Schicksal vieler verstanden werden kann, oder aber es spielt sich das Bemühen des Fotografierenden in den Vordergrund, zu ertappen, zu denunzieren, zu entlarven.
Im heutigen Zeitalter der massenhaften Sensationsfotografie mit dem Smartphone und dem schnellen Hochladen der Bildchen in die sozialen Medien, oder auch einer Straßenfotografie, der zwar rechtliche Hemmschuhe angelegt wurden, die dennoch nicht selten das Elende, Skurrile und Lächerliche sucht, hat die Warnung Bölls weiterhin ihre Berechtigung.
In einem Interview mit dem Spiegel äußerte sich im Jahr 1994 der damals 71jährige Richard Avedon zu einigen grundsätzlichen Fragen der Fotografie. Natürlich, so Avedon, müsse man als Fotograf jedes Bild moralisch vertreten können. Man dürfe niemandem schaden, nur um ein starkes Bild zu bekommen. Letztlich ist es eine Frage der Werthaltung. Die Überlegung, ob ein Foto öffentlich gezeigt werden kann, muss auf ethischer Basis entschieden werden. Es gibt Bilder, bei denen sich eine Verbreitung verbietet. Einige Aufnahmen von Opfern des Vietnamkriegs hat Avedon nie veröffentlicht.
Gleichwohl wäre ein moralischer Rigorismus zu kurz gedacht. Susan Sontags Hinweis auf die offensichtlich nicht aus der Welt zu schaffende, auch voyeuristisch angelegte Triebstruktur des Menschen ist nicht ohne Berechtigung. Das ist kein Freibrief für die Veröffentlichung aller nur denkbaren Bilder, aber der gutgemeinte Appell zur Konzentration auf moralisch Verträgliches kann mitunter in eine Naivitätsfalle mit unschönen Begleiterscheinungen führen. Verdrängung war noch nie eine sinnvolle Strategie zum Umgang mit dem Laster, dem Bösen und dem schwer Aushaltbaren. Dies gilt sowohl für das Fotografieren wie das Betrachten von Bildern.
Heinrich Bölls lesenswerter Prolog zur Weltausstellung der Photographie wurde im Jahr 1964 von der ZEIT dokumentiert. Einige Anmerkungen zu Susan Sontags Thesen zum fotografischen Umgang mit dem Schicksal anderer bietet der fotosinn Essay Philosophisches vom Schatten. Die Dinge sind ambivalent, aber gerade das macht das Thema Fotografie und Moral so spannungsvoll.