Die wundersame Kunstvermehrung
Glaubt noch jemand, es ließe sich die ganze in der Vergangenheit, heute und in Zukunft produzierte Kunst konservieren und in Museen zur Schau stellen? Die Frage, was Kunst überhaupt ist, blenden wir bei der Frage einmal aus. Irritierend jedenfalls der Eindruck, dass der Kunstmarkt - dazu gehören nicht nur Agenten, Sammler und Galerien, sondern auch die staatlich geförderte Museumswelt - bemüht ist, das Publikum und die Politik von der Notwendigkeit zusätzlicher Ausstellungsflächen zu überzeugen. Letztes Großbeispiel ist der kostspielige Bau des Museums der Moderne am Berliner Kulturforum, von den Lobbyisten der Tourismuswirtschaft kräftig unterstützt. Es scheint die Gleichung zu gelten, Kunstwachstum sei wie Wirtschaftswachstum und diene dem allgemeinen Wohl. Als gäbe es in der Stadt nicht genügend Ausstellungsflächen.
Wenn sich die Dinge weiter in diese Richtung entwickeln, benötigen wir demnächst für jedes Jahrzehnt der Moderne ein neues Museum und für die Epoche nach 1945 mindestens doppelt so viele. Die Zahl der neuen und neu entdeckten Kunstwerke vermehrt sich schließlich exponentiell und die Dinge wollen im Interesse eines süchtigen Publikums, der Sammler und Investoren auch ausgestellt werden. Hinter alledem verbergen sich die bekannten Mechanismen der Kommerzialisierung. Im System der globalisierten Warenwirtschaft bilden Angebot und Nachfrage, auch von Kunstobjekten, entscheidende Faktoren. Auktionen steigern die Preise, die Galerien und der Kunsthandel spielen eine wichtige Rolle. Künstler werden zu Marken, ihr Marketing treibt den Wert. Die Präsenz in Museen ist ein erwünschter und einkalkulierter Preistreiber.
Naiv wäre die Hoffnung auf eine selektierende Wirkung immanenter Kunstkriterien. Mag sein, dass es solche in der Postmoderne auch gar nicht mehr gibt und stattdessen das Prinzip je teurer, umso Kunst herrscht. Gleichwohl, oder gerade deshalb, drängt sich die Frage auf, warum man in den Museen das eine oder andere nicht einfach mal aussortiert, um Platz für Neues zu schaffen, anstatt zusätzliche Flächen zu fordern. Da jedoch die Ankaufetats der staatlichen Museen begrenzt sind und Neues kaum zu finanzieren ist, setzt man lieber auf die Leihgaben wohlhabender Sammler. Und die fordern nun einmal repräsentative Räumlichkeiten und spektakuläre Neubauten.
An dieser Stelle tritt als alternatives Gedankenspiel die Fotografie auf die Bühne. Sie erscheint als ideales Medium, um den Vermehrungsunfug zu durchbrechen. Ihre, technisch bedingte, natürliche Halbwertzeit könnte sich eher als Segen denn als Fluch erweisen. Fotografien verrotten im Laufe der Jahre, Positive und Dias sowieso, aber auch digitale Dateien wollen irgendwann umkopiert werden. Analoge Negative haben da noch die längste Lebensdauer. Müssen Fotografien jedoch überhaupt auf ewig bewahrenswert sein? Was ist eigentlich so schlimm an der Vorstellung, dass sie sich in Luft auflösen? Schnell wird da mit dem Hinweis auf Kulturgutbewahrung reagiert. Das wirkt wie ein Freibrief. Ist erstmal ein Werk als Kunst geadelt, scheint es einen sakrosankten Status zu besitzen und für alle Ewigkeiten unter Schutz zu stehen.
Können wir es bezüglich der Fotografie nicht eine Nummer kleiner machen? Gemeint ist vor allem die sogenannte Kunstfotografie. Für Dokumentarisches gelten andere Regeln. Da ist nachvollziehbar, nachfolgenden Generationen einen Eindruck vom Leben der Vorfahren zu ermöglichen. Und die Masse der Gelegenheitsfotografien, insbesondere die mit dem Smartphone, verschwindet sowieso meist von alleine. Aber fotografische Kunst? Da sollte, insbesondere für digitale Werke, die Latte hoch hängen, um einer unkontrollierten Vermehrung zu begegnen. Ein solcher Appell ruft nicht dazu auf, alles ungebremst dem Verfall zu überlassen. Es gibt eine Menge Bildmaterial, das aus fotografie- und kunsthistorischer Perspektive bewahrenswert ist. Schnell steht jedoch die Frage im Raum, wer darüber entscheidet, was unter den Rettungsschirm genommen wird und was nicht. Jede Antwort wäre kontingent. Das kann aber nicht als Begründung dafür herhalten, immer umfangreichere Depots anzulegen, um die sich beständig vermehrende Masse an fotografischem Kulturgut möglichst dauerhaft zu sichern.
Viele Kuratorinnen und Kuratoren sehen das Problem und wählen mit Bedacht, was in den Museumsbestand aufgenommen wird. Stefan Gronert, zuständig für die Fotografie am Sprengel Museum Hannover, hat kürzlich in dem Beitrag Das Verschwinden, das Bremsen und das Zähneknirschen: Probleme der Farbfotografie auf einige Aspekte der Thematik aufmerksam gemacht. Insbesondere geht es um den Umgang mit dem Original. Da die Verfallsprozesse bei der Farbfotografie noch gravierender sind als bei Schwarzweißbildern, stellt sich gerade hier die generelle Frage nach der Ausstellbarkeit. Das originale Original würde bei Lichteinfall unwillkürlich leiden. Als Lösung bieten sich Exhibition copies an, authentische quasi-Originale, allerdings unnummeriert und unsigniert, die man ausstellen kann, auch wenn sie damit auf längere Sicht dem Verfall preisgegeben sind. Das eigentliche Original bleibt ja im Depot. Die dritte Möglichkeit wären extra für Ausstellungszwecke angefertigte Faksimiles, die eine ähnliche Qualität aufweisen wie eine copy, aber vom Künstler bzw. der Künstlerin nicht autorisiert sind und deshalb nach der Ausstellung wieder vernichtet werden.
Für die digitale Fotografie könnte dies im Übrigen bedeuten, dass ein Museum vom Künstler oder von der Künstlerin nicht unbedingt eine manifeste Fotografie erwerben muss, sondern einen Datensatz mit Farbreferenzen, aus dem für Ausstellungszwecke Prints angefertigt werden, gegebenenfalls auch variabel etwa in der Größe oder bei der Wahl des Papiers. Laut Gronert hat Wolfgang Tillmans einen entsprechenden Vorschlag unterbreitet. Dies scheint ein sinnvoller Kompromiss zwischen Kulturgutbewahrung, materialbedingten Verfallsprozessen und der Vermeidung überquellender Depots zu sein. Jedenfalls gilt dies für die Welt der Fotografie.
Eine Übertragung auf die übrige Kunst scheint sich auf den ersten Blick zu verbieten. Dennoch ist vorstellbar, auch hier bei einigen Objekten, gleich ob Gemälde, Installation oder Plastik, auf eine Präsentationsform zu setzen, die virtuelle, also digitale Techniken einsetzt. Da mag zwar eine gewisse Aura verschwinden, aber für viele Betrachterinnen und Betrachter ist dies sowieso eine ominöse Kategorie aus der kunsthistorischen Metaphysik. Der Trend geht schon jetzt dahin, dass wir zunehmend digitalen Artefakten begegnen. Und machen wir uns nichts vor: Virtualisierte Kunstwerke werden in ihrer Wirkung mit fortschreitenden technologischen Möglichkeiten immer quasi-authentischer. Einige Museen machen hiervon schon jetzt mit digitalen Präsentationen ihrer Bestände Gebrauch. Wieviel neue, in Stein gebaute Museen wir benötigen, bleibt vor dem Hintergrund der unaufhaltsamen Kunstvermehrung und der Digitalisierung vieler Lebensbereiche jedenfalls eine spannende Frage.
Abschließend ein Blick über den Tellerrand. In Berlin wird seit Jahren die Schaffung einer neuer Zentralbibliothek erörtert. Mit viel Geld soll ein entsprechendes Gebäude geschaffen oder ein vorhandenes ertüchtigt werden. Wo bleibt denn da eine zukunftsfähige Vision? Dass die Mittel nicht in die Digitalisierung der gegenwärtigen und künftigen Bibliotheksbestände gesteckt werden, sondern weiter auf Unmengen von Regalmetern gesetzt wird, erscheint reichlich old fashioned. Der Untergang des analogen Abendlandes ist für manche offenbar eine beängstigende Vorstellung.