Ende einer Illusion?
Im Jahr 1970 veröffentlichte das Kursbuch 20 einen Essay von Hans Magnus Enzensberger mit dem Titel Baukasten zu einer der Theorie der Medien. Er übertrug Gedanken Brechts aus dem Jahr 1932 zum Rundfunk als Kommunikationsapparat auf das Fernsehen. Als Kernthese und im Duktus der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule konstatierte Enzensberger eine repressive Medienrealität. Die Bewusstseinsindustrie sei durch subtile Steuerungs- und Kontrollfunktionen gekennzeichnet, um systemaffirmative Leistungen zu erbringen. Die Kapitalismuskritik jener Zeit lässt grüßen. Zur Erinnerung: TV und Rundfunk bestanden 1970 ausschließlich aus öffentlich-rechtlichen Anstalten. Private Sender und ein allgemein zugängliches Internet gab es noch nicht. Dem repressiven Mediengebrauch stellte Enzensberger eine emanzipatorische Alternative gegenüber:
1. zentral gesteuertes Programm vs. dezentralisierte Programme
2. ein Sender, viele Empfänger vs. jeder auch ein potentieller Sender
3. Immobilisierung isolierter Individuen vs. Mobilisierung der Massen
4. passive Konsumentenhaltung vs. Interaktion der Teilnehmer
5. Entpolitisierungsprozess vs. politischer Lernprozess
6. Produktion durch Spezialisten vs. kollektive Produktion
7. Kontrolle durch Eigentümer oder Bürokraten vs. gesellschaftliche Kontrolle durch Selbstorganisation
Abgesehen von den Punkten Fünf und Sieben, die ambivalent erscheinen, ähneln die Merkmale des Emanzipatorischen Mediengebrauchs dem heutigen Internet und insbesondere den Sozialen Medien. Diese sind dezentral organisiert, bieten jedem Empfänger auch die Möglichkeit des Sendens, sind massentauglich und ermöglichen die Interaktion der Teilnehmer sowie eine kollektive Produktion.
Sind wir damit in der emanzipativen neuen Medienwelt angekommen, wie sie Enzensberger für perspektivisch realisierbar gehalten hatte? Wohl kaum. Im Übrigen sollte er dreißig Jahre später in einem auch heute noch lesenswerten Beitrag für den Spiegel mit dem Titel Das digitale Evangelium selbst von seinem Baukasten aus dem Jahr 1970 abrücken.
Die sogenannten Sozialen Medien gab es in der heute bekannten Form zwar auch im Jahr 2000 noch nicht, aber Enzensberger hatte aufmerksam die Entwicklungen des Internets wahrgenommen und einige seiner Folgen antizipiert. Gleichzeitig vollzog er den Schwenk zu einer ernüchternden Betrachtung. Während die Medien von den einen, wie etwa Marshall McLuhan, gleichsam evangelikal als Heilsbringer für Demokratie und weltweite, freie Kommunikation gefeiert worden waren, hatten andere wie Neil Postman das apokalyptische Schreckgespenst einer zu Tode amüsierten Gesellschaft gezeichnet. Enzensberger hielt beide Positionen für unzureichend. Die neuen interaktiven Medien seien weder Fluch noch Segen, sondern bilden schlicht und einfach die Geistesverfassung ihrer Teilnehmer ab.
Neue Medien sind immer auf der Suche nach unbekannten Bedürfnissen, so Enzensberger im Beitrag für den Spiegel. Hinzugefügt werden muss aus heutiger Sicht die Intention der Plattformbetreiber, solche Bedürfnisse selbst erst hervorzurufen. Und schon sind wir beim Thema Medienanalyse, denn die Dialektik der Entwicklung zeigt, dass die vermeintliche Liberalität der Medien in Gestalt einer lügenoffenen Meinungsfreiheit auch zur Verdummung beiträgt. Allein die Möglichkeit dezentraler Beiträge, die von keiner Instanz reguliert werden, reicht eben nicht aus, um von einer emanzipativen Entwicklung, gar mit Bezügen auf aufklärerisches Denken, zu sprechen. Den Plattformbetreibern geht es schließlich nicht um einen herrschaftsfreien Diskurs, sondern um Verwertungsmöglichkeiten. Basis hierfür sind die Daten, die wir zur Verfügung stellen und die für Werbezwecke weiterverkauft werden. Dabei fallen Gewinne an, von denen, so Enzensberger, die traditionellen Industrien nur träumen können. Die Wahrheitsfrage hinsichtlich der ins Netz gestellten Informationen spielt dabei keine Rolle. Dennoch sollten wir die Nutzenden nicht unterschätzen. Vielen ist durchaus bewusst, dass es um Unterhaltung und Amüsement geht, auch um politische Agitation, jedoch nicht um belastbare Fakten. Nur wird es immer schwieriger, dies alles auseinanderzuhalten.
Die Belästigung in den sogenannten Sozialen Medien mit Fakes aller Art nimmt beständig zu. Neben allerlei blödsinnigen Texten, die politisch desinformieren und Verunsicherungen schaffen sollen, werden KI-generierte Bilder und Videos gepostet, die anrührende Botschaften fürs Gemüt präsentieren. Mal wird ein kleiner Eisbär von freundlichen Polarforschern von einer umhertreibenden Eisscholle gerettet und zu seiner Mutter zurückgebracht, mal eine in Netzen verhedderte Robbe befreit. Dass sich das gerettete Tier anschließend bedankt und freundlich in die fiktive Kamera blickt, bildet den Abschluss des Videos. Oder ein treuer Hund beobachtet ein kleines Kind in Gefahr und rettet es vor der umfallenden Leiter. Die Liste wundersamer Geschichten ließe sich fortsetzen. Alles erstunken und erlogen. Der inzwischen verstorbene Papst im schicken, wintersporttauglichen Outfit war vielleicht noch witzig, wie auch die unzähligen Fakes aus der Welt politischer Akteure. Aber es ist eben nicht mehr erkennbar, dass es sich um frei gestaltete Erfindungen handelt. Die Fälschungstechniken werden immer besser. KI-Generatoren machen es möglich, auch für Amateure. Manche verbringen viel Zeit am Rechner, um allerlei Geschichten zu erfinden, mit denen sich Likes erzielen lassen. Und wer blöd genug ist, die Geschichten vom Eisbären oder der Robbe zu glauben, wird emotional angesprochen ... und dann vielleicht ein besserer Mensch. Nun gut.
Hinsichtlich des Mediums selbst, also Facebook, Instagram und Co., stellt sich zunehmend die Frage, wie lange man/frau das noch mitmachen will. Das Löschen bzw. Verbergen unsinniger Posts verschlingt Zeit und ist im Einzelfall auch gar nicht so einfach zu begründen. Den Fragen hinsichtlich der Authentizität der gezeigten Bilder mit eigenen Recherchen nachzugehen, ist im Alltag jedenfalls kaum mehr möglich. Beim schnellen Klicken ist der Eisbär einfach nur süß.
Der einstmals formulierte Anspruch der Sozialen Medien, ein demokratisches und für alle offenes Forum zur Beteiligung am öffentlichen Diskurs zu sein, ist pervertiert. Die Behauptung, dass alle Informationen, gleich ob Bild oder Text, gleichberechtigt seien, hat auf jeglichen Wahrheitsanspruch verzichtet. Meinungen und Tatsachen, Fakes und verlässliche Dokumentation, alles einerlei. So funktioniert Verdummung unter dem Deckmantel der Meinungsfreiheit. Die Erkenntnis ist nicht neu, aber der Zeitpunkt, sich aus den Sozialen Medien zu verabschieden, rückt näher.
Die inhaltlich dezentrale Organisation der Sozialen Medien, die Möglichkeit der eigenen aktiven Beteiligung, ihre Massentauglichkeit, die Interaktion der Teilnehmenden sowie die kollektive Produktion von Inhalten reichen jedenfalls nicht aus, wie Enzensberger es 1970 für möglich gehalten hatte, von einem emanzipatorischen Mediengebrauch zu sprechen. Der Blick auf die Punkte Fünf und Sieben der anfangs zitierten Merkmalsliste macht dies deutlich. Ob die Sozialen Medien in ihrer heutigen Form als Beitrag zu einem reflektierten politischen Lernprozess angesehen werden können, darf bezweifelt werden. Und von einer Selbstorganisation der Teilnehmenden kann nicht die Rede sein. Die Steuerung der Inhalte durch die Plattformbetreiber folgt nun einmal deren eigenen wirtschaftlichen und politischen Zielen.
Dies alles führt nicht zur Verdammung des Internets an sich. Die breite Informationsmöglichkeit ist ein Gewinn, den man nicht missen möchte. Nie war es so einfach, sich Wissen zu verschaffen. Nicht umsonst ist die Zeit der großen gedruckten Nachschlagewerke vorbei. Nur ist es aufwändiger geworden, verlässliche Informationen zu identifizieren und unterschiedliche Positionen gegeneinander abzuwägen. Ein politischer Lernprozess, das war Punkt Fünf in Enzensbergers Liste der Merkmale eines emanzipatorischen Mediengebrauchs, ist trotz allem weiterhin möglich. Nicht umsonst bemühen sich autokratische Politsysteme um eine Kontrolle des Informationszugangs.