Die Revolution frisst ihre Kinder

Das Fotografieren mit einem herkömmlich als Kamera bezeichneten Apparat ist eine aussterbende Kulturtechnik. Demnächst muss wohl Artenschutz beantragt werden. Dabei hatte die Verbreitung digitaler Kameras in den 1990er Jahren so hoffnungsvoll begonnen. Die Bildqualität war zwar anfangs noch nicht überzeugend, aber wer die weiteren technischen Entwicklungen richtig zu antizipieren wusste, dem war schon damals klar, wohin die Reise gehen würde. Heute sind digitale Kameras ihren analogen Vorgängerinnen in vielerlei Hinsicht haushoch überlegen.

Die marktbeherrschenden Kamerahersteller ließen damals jedenfalls die Sektkorken knallen. Mit diversen Automatiken ausgestattet, versprachen die neuen digitalen Wunderkisten auch dem Amateur Ergebnisse, die einen professionellen Vergleich nicht zu scheuen brauchten. Aber wie es bei technischen Entwicklungen meist der Fall ist, sie machen nicht an einem bestimmten Punkt halt.

Die Kamerahersteller fokussierten sich in den Anfangsjahren der digitalen Fotografie auf die Verbesserung ihrer schwarzen Kisten. Diese wurden immer leistungsfähiger, kleiner und auch bunter. Taschenkameras wurden neben den klassischen Spiegelreflexen zu einem umsatzstarken Segment. Was die Hersteller allerdings nicht auf dem Schirm hatten, waren die Smartphones, die in den 2010er Jahren am Horizont auftauchten. Telefone konnten plötzlich auch fotografieren. Das Ergebnis kennen wir. Kleine Taschenkameras gibt es kaum noch. Wozu auch? Das Smartphone kann es mindestens ebenso gut. Und dies so erfolgreich, dass selbst herkömmliche Spiegelreflexe, inzwischen abgelöst durch Spiegellose, im nichtprofessionellen Segment immer weniger nachgefragt werden.

Die digitale Revolution frisst ihre Kinder. Die heutzutage massenhaft produzierten Bilder mögen zwar auf den ersten Blick ein bergauf des Mediums Fotografie suggerieren, hinsichtlich der Kamerafotografie im herkömmlichen Sinne ist es jedoch ein bergab.

Nun mag es eine Definitionsangelegenheit oder auch Geschmackssache sein, ob man das Bildermachen mit dem Smartphone als Fotografieren bezeichnen will. Das bewusste Einstellen von Blende, Verschlusszeit, ISO, Fokus und Brennweite entfällt und wird nun automatisch erledigt. Auch die durchdachte Bildgestaltung rückt in den Hintergrund. Spontan draufhalten und den Botton des Smartphones berühren. Das wars. Für den Alltagsgebrauch, als Erinnerungsbilder oder für die Verbreitung in den Sozialen Medien, ist das meist auch vollkommen ausreichend. Ein Symptom: In den touristischen Hotspots sieht man immer weniger Menschen mit Kameras. Sie knipsen mit dem Smartphone. Ob es sich dabei um Fotografieren handelt, interessiert den Alltagsnutzer im Übrigen wenig. Dies bleibt eine akademische Frage.

Die Entwicklung musste Folgen haben. Kamerahersteller wollen Produkte anbieten, die auch gekauft werden. Keine Nachfrage, dann auch kein Umsatz, kein Gewinn. Demzufolge ging die Produktion großer Kameras in den letzten zwanzig Jahren dramatisch zurück. Einige Hersteller gaben ganz auf. Auch Canon und Nikon als verbleibende Platzhirsche verkaufen immer weniger Kameras. Die Entwicklung des Segments wird lediglich durch einige innovative Produkte, etwa von Sony, ein wenig nach oben korrigiert. Alle Hersteller lassen dabei erkennen, dass sie den Fokus auf das hochpreisige Segment legen. Dieses verspricht noch immer akzeptable Umsatzrenditen. Amateurorientierte Angebote im unteren Preislevel dienen hingegen eher dem Anfixen. Das Kalkül: Wer heute eine Einsteigerkamera kauft, oft im Sensorformat APS-C, dann anschließend bei der Sache bleibt und sich irgendwann davon überzeugen lässt, dass sich gute Fotos eigentlich nur mit professionellen Vollformatschwestern schießen lassen, wird schwach und langt bei der nächsten Cashback-Aktion zu. Der Wunsch nach ein paar zusätzlichen Objektiven ist dann nur eine Frage der Zeit. Hier lässt sich Geld verdienen.

Diese Strategie der Hersteller wird sich langfristig kaum als erfolgreich erweisen. Teure Profikameras sind in der Regel schon heute lediglich im Bildjournalismus und vor allem in der Werbebranche aufgrund der Forderung nach hochauflösenden Riesenformaten nachgefragt. Für den Normalo sind sie hingegen Overkill-Maschinen. Bilddarstellungen auf dem heimischen Monitor oder als Whitewall-Print fürs Wohnzimmer erfordern auch bei hohen Ansprüchen keine Megapixelvollformatdateien. Es ist eine reine Werbemasche, wenn anderes behauptet wird. Aber die Versprechen zeigen Wirkung. Nur muss man für die Realisierung der Wünsche immer mehr Geld mitbringen. Gleichwohl, betuchte Amateure mögen zwar gegenwärtig als Zielgruppe noch relevant sein. Aber diese wird immer kleiner. Die Hersteller stellt dies vor Probleme. Die Entwicklungs- und Produktionskosten für neue Kameras können nur dann eingespielt werden, wenn entweder die Stückzahlen hoch sind oder deren Preis. Die Verkäufe gehen aber nun einmal zurück, und ein steigender Preis bildet keinen Anreiz zum Kauf durch breitere Kreise außerhalb des Profisegments. Ein Dilemma.

Olympus hat die Zeichen der Zeit erkannt und seine Kamerasparte verkauft. Heute heißt sie OM Digital Solutions. Ob die Rechnung am Ende für den neuen Eigner aufgeht, darf bezweifelt werden. Gleichwohl die Kameratechnik und die Objektive von exzellenter Qualität sind, werden Natur- und Tierfotografen, die das MFT-Format bei langen Brennweiten schätzen, als Kundenstamm wahrscheinlich nicht ausreichen. Das Marketing des Unternehmens mit wahnwitzigen Cashback-Aktionen trägt im Übrigen dazu bei, das Vertrauen in die Marke zu beschädigen. Wer seine Produkte verramscht, zeigt, dass er keine Visionen mehr hat. Dabei war vorhersehbar, dass sich dem Mythos des konkurrierenden Vollformatsensors nur mit Mühe ein zugkräftiges MFT-Narrativ entgegensetzen lässt. Nicht wegen der Technik, MFT bietet unbestritten eine Reihe von Vorteilen. Vielmehr scheint es allein die Vorsilbe Voll beim großen Sensor zu sein, die den MFT-Kameras das Attribut eines schmächtigen Apparates für weniger Leistungsorientierte verpasst. Die Markenstrategen von OM Digital Solutions und auch Lumix/Panasonic als zweitem maßgeblichen MFT-Anbieter scheinen es jedenfalls aufgegeben zu haben, dem Vollformatdiktat etwas Überzeugendes entgegenzusetzen. Es ist deshalb nur eine Frage der Zeit, bis sich MFT vom Markt verabschiedet.

Leica, dies ein anderes Beispiel, nimmt eine Sonderstellung ein. Die Marke ist inzwischen ein reines Lifestyleprodukt ohne Verankerung im professionellen Bereich. Sie lebt alleine vom Imagewert. Die Kameratechnik und auch die einstmals hochgerühmten Objektive bieten für professionelle Fotografen im Vergleich zu anderen Marken jedoch kaum noch irgendwelche Vorteile. Ein paar Aficionados mögen anderes behaupten. So oder so, die Markenstrategen von Leitz setzen mit ihren Narrativen auf ein vermögendes Publikum und die Abgrenzung zu Canon, Nikon und dem breiten Markt. Leica will ein exklusives Produkt sein für Zahnwälte, wie die Zielgruppe schon einmal ironisch genannt worden ist.

Von Olympischen Spielen allein werden auch Canon und Nikon nicht leben können. In Paris sah man an einigen Wettkampfstätten jede Menge auf Bodenstativen montierte Boliden, die im entscheidenden Augenblick per Fernauslösung im Serienmodus, also auf Dauerfeuer gestellt, bedient wurden. Ein Unterschied zur Videofunktion ist da kaum noch erkennbar. Nur logisch, dass viele Profikameras über leistungsfähige Bewegtbildfunktionen verfügen. Foto- und Filmkamera sind längst zu einem Gerätetyp verschmolzen. Ein neuer Massenmarkt wird dadurch aber nicht entstehen.

Eine weitere Entwicklung kommt hinzu. Im Bereich der Werbe- und Produktfotografie ist durch KI-Technologien eine neue Konkurrenz entstanden. Warum aufwändige Shootings mit realen Produkten und teuren Models, wenn sich viele Aufträge auch am Bildschirm realisieren lassen? Fotografien werden da bestenfalls noch als Bildzulieferer und als Trainingsmaterial für KI-Tools benötigt. Selbst die Filmindustrie träumt davon, endlich auf nervige, mitunter vollgedröhnte und egomanische Stars verzichten zu können und stattdessen coole Nerds an Produktionsbildschirmen zu beschäftigen.

Zurück zur These von der Bedrohung der Kulturtechnik Fotografieren. Hier einige Trends, die sich unter anderem aus dem Datenmaterial von Statista ablesen lassen:

-       Die Vereinigung der großen japanischen Kamerahersteller berichtet von einem Rückgang der Verkäufe von 2010 bis 2023 um 94 Prozent.

-       Die Verkaufszahlen aus 2023 für digitale Kameras liegen deutlich selbst unter dem Peak für analoge Kameras Ende der 1990er Jahre.

-       Insgesamt werden heute etwa genauso viele Kameras verkauft wie 1975. Der danach einsetzende Höhenflug hatte seine Spitze etwa 2010. Danach ging es steil bergab.

-       Besaßen 2018/2019 etwa 60 Prozent der Befragten in Deutschland eine Digitalkamera, waren es fünf Jahre später nur noch 40 Prozent.

-       Im Jahr 2017 wurden weltweit etwa 85 Prozent aller Bilder mit einem Smartphone aufgenommen, Digitalkameras waren mit zehn und Tablets mit fünf Prozent beteiligt.

-       Bei einer Befragung unter professionellen Fotografen im Jahr 2020 gaben 37 Prozent an, selbst im beruflichen Kontext mitunter eine Smartphone-Kamera einzusetzen. Für persönliche Fotos waren es sogar 86 Prozent.

Der Zusammenhang ist eindeutig. Smartphones mit leistungsfähigen Bildaufzeichnungsfunktionen haben den Kameramarkt zum Absturz gebracht. Der Fotografieboom im klassischen Sinne ist nach 2010 weitestgehend eingebrochen. Die Auflagenentwicklung von Fotozeitschriften korrespondiert hiermit. Print lohnt nicht mehr. Alles Wissenswerte zum Thema Fotografieren und Fototechnik wird im Netz angeboten, meist sogar kostenlos. Aber wer mit dem Smartphone fotografiert, interessiert sich meist sowieso nicht für technische Feinheiten, neue Geräte oder Objektive und auch nicht für komplexe Fragen der Bildgestaltung und Bildbearbeitung. Zeitschriften für den Fotoamateur sind somit überflüssig geworden. Übrig bleiben ein paar Periodika für die ambitionierte Kunstfotografie oder für Berufsfotografen.

Bemerkenswert ist, dass der Auflagenrückgang der Fotozeitschriften bereits um die Jahrtausendwende eingesetzt hat, also nicht erst mit dem Erscheinen des Smartphones, sondern schon mit der Verbreitung der digitalen Kameras Ende der 1990er Jahre und dem anschließenden Verschwinden der analogen Fototechnik. Auch hier zeigt sich: Die digitale Revolution hat das klassische Fotografieren und seinen hauptsächlichen Träger, die Gemeinde ambitionierter Amateurfotografen, die gerne Kameras und Zubehör kauften, an Fotowettbewerben teilnahmen und treue Leser von Fotozeitschriften waren, verdrängt.

Das bedeutet nicht, dass es heute keine Faszination mehr für das Medium Fotografie gibt. Seit Jahren steigt das Interesse an Fotoausstellungen. Aber genau dies mag ein Symptom dafür sein, dass sich das Fotografieren als allgemeine Kulturtechnik verabschiedet hat und stattdessen eine Angelegenheit von Künstlerinnen und Künstlern geworden ist. Das Smartphone hat das Bildermachen radikal demokratisiert, das Fotografieren im herkömmlichen Sinne jedoch gleichzeitig zu einer elitären Angelegenheit gemacht. Das bemerkenswerte Revival analoger Techniken lässt sich deshalb als Versuch einer Rückkehr zur ursprünglichen Art des Fotografierens vor der digitalen Revolution einordnen. Eine Marktrelevanz hat das freilich nicht.

 

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