Die Fragilität des Alltags
Beim Einsturz der Dresdener Carolabrücke ist niemand zu Tode gekommen oder verletzt worden. Aber das war reine Glückssache. Die Folgeschäden sind hingegen gravierend. Der Stadtverkehr und die Schifffahrt werden für längere Zeit beeinträchtigt sein. Soweit die nüchternen Tatsachen. Darüber hinaus erinnert der Einsturz an die Zerbrechlichkeit des Seins und berührt eine emotionale Komponente. Die technische und zivilisatorische Konstruktion des Alltags scheint ständig bedroht. Das mag man negieren oder verdrängen wollen. Der Alltag wäre ohne eine gewisse Grundsicherheit schließlich kaum zu ertragen.
Aber die Bilder aus Dresden wirken nach. Was wäre gewesen, wenn die letzte Straßenbahn nur zehn Minuten später die Brücke überquert hätte? Oder wenn Menschen auf Rädern oder zu Fuß unterwegs gewesen wären? Man mag es sich nicht vorstellen. Und dennoch oder gerade deshalb: Manchen Besuchern der Brücke mögen solche Gedanken durch den Kopf gehen.
Warum fahren wir auf der Autobahn langsamer und inspizieren mit aufmerksam Blick den Unfall auf der Gegenfahrbahn? Warum erzeugen Bilder von Kriegen und terroristischen Taten Interesse? Warum gibt es diese verbreitete Lust am Anschauen von Unheil? Es muss einen Grund dafür geben, dass die Medienwelt immer wieder Schreckensbildern offeriert. Offenbar spielen beim Betrachten auch Mechanismen eine Rolle, die zwischen Begierde, Furcht und Vernunft angesiedelt sind. Es ist nicht nur eine oberflächliche Neugier, die bei einem Unfall den Stau verursacht.
Ob diese Neigung zur menschlichen Grundausstattung gehört oder angelernt ist, bleibt offen. Tatsache ist, dass es sie gibt. Wer von einer solchen Erkenntnis überrascht ist oder vergisst, zu welchen Taten Menschen zu allen Zeiten und in allen Kulturen in der Lage waren, oder dass Naturgewalten und technisches Versagen immer wieder Zerstörungen mit sich bringen, verdrängt etwas. Fotografien erinnern uns jedoch daran, dass es solche Dinge jenseits aller Entrüstung und unabhängig von dem Wunsch, sie abschaffen zu wollen, gab, gibt und auch in Zukunft geben wird. Die Zivilisationsdecke ist dünn. Das ganze Leben ist lebensgefährlich, wie Erich Kästner konstatierte.
Immer wieder lesenswert sind die Essays von Susan Sontag in den Bänden Über Fotografie und Das Leiden anderer betrachten. Um Sontags Thesen geht es unter anderem auch im fotosinn Essay Philosophisches vom Schatten.