Das große Knipsen

Martin Walser beginnt im Jahr 1960 eines der Kapitel des Romans Halbzeit mit einem inneren Dialog: Aber Gott kann doch, als er den Menschen bastelte, nicht schon mit der Erfindung der Photographie gerechnet haben! Doch, hat er, muss er, schließlich weiß er alles schon im voraus. Dann sind aber die, die lebten, bevor das große Knipsen begann, ganz schön geprellt worden. Sind sie, sind sie. Je früher geboren, desto schlimmer!

Walsers Anmerkungen zur Fotografie haben Entwicklungen vorweggenommen, mit deren Erscheinungsformen wir es heute zu tun haben. Fotografieren ohne Ende. Das große Knipsen. Einige Jahre nach Walsers Roman erschien im Kino Das große Fressen. Eine dekadente Veranstaltung Frustrierter, die ins Übermäßige ausartete, bis zum Kotzen, bis zum Tod.

Müssen wir, wie Walser meinte, die Generationen bedauern, denen noch keine Kamera zur Verfügung stand? Menschen haben ihre Welt doch schon immer mit Bildern beschrieben. Von der frühen Höhlenkunst über die Wandmalereien der Antike, die religiösen Darstellungen des Mittelalters, die Repräsentationsbilder der Renaissance bis zu den Selfies im Zeitalter der Singularitäten, stets ging und geht es um Gewissheiten. Dabei gibt es grundlegende Unterschiede zwischen dem vorfotografischen Zeitalter und der fotografierenden Moderne. Das permanente Festhalten aller denkbaren Lebenssituationen ist eine vergleichsweise junge Erscheinung. Selbst zum Zeitpunkt des Erscheinens von Walsers Roman hatte es diese, jedenfalls in der heute bekannten Form, noch nicht gegeben. Aber waren die noch älteren Generationen deshalb Geprellte? Schließlich lässt sich nur begehren, was überhaupt bekannt ist. Vor der Existenz von Kameras konnte es kein Bedürfnis nach einem fotografischen Bild geben.

Das Verlangen nach Bildern, insbesondere Portraits, war in vorfotografischen Zeiten einer Elite aus Kirche sowie weltlichen Machtzentren in Herrschaftshäusern und Handel vorbehalten. Man ließ sich vom Maler porträtieren, um Macht und Status zu dokumentieren. Die Bilder waren Teil einer Inszenierung. Für das gemeine Volk spielte dies hingegen keine Rolle. Weder standen die notwendigen Mittel zur Verfügung, noch gab es eine Veranlassung, das eigene Dasein als eine bewahrenswerte Angelegenheit zu betrachten. Das Porträt blieb Sache einer exponierten Elite. Alle Übrigen verstanden sich als kleine Rädchen im großen, göttlich bestimmten Weltenlauf. Auch in der Renaissance galt der Blick auf Individuelles zunächst nur für Mächtige. Erst mit der Aufklärung im 18. Jahrhundert keimte der Gedanke auf, dass jeder (heute fügen wir hinzu: und jede) die potentielle Kraft und Befähigung hat, seinen bzw. ihren Verstand zu gebrauchen. Es war der Beginn eines individuellen und individualisierenden Denkens. Mit Folgewirkungen auch für das Porträt.

Walsers Verdikt muss wohl zeitlich eingeschränkt werden. Das Geprelltsein kann bestenfalls die Generationen seit der Aufklärung betreffen. Aber auch da waren es noch einige Jahrzehnte bis zur Erfindung der Fotografie um 1830. Und selbst dann sollte es dauern, bis sich das aktive Fotografieren für jedermann und jedefrau etablierte. Bis dahin blieb es eine Angelegenheit von Profis. Vor allem im 19. Jahrhundert diente die inszenierte Atelierfotografie der bürgerlichen Repräsentation einschließlich stereotyper Geschlechtsrollen: Mit einem aufrechten Gatten, dessen Hand beschützend auf der Schulter der sitzenden Gemahlin ruhte, die sich ihrerseits dem Nachwuchs zuwandte. Ein Klischee, ja, aber damals weit verbreitet.

Dabei war die Fotografie das ideale demokratische Medium, um der elitären Porträtmalerei eine egalitäre, schnellere und bezahlbare Alternative entgegenzusetzen. Was im Übrigen mit dem Kern des aufklärerischen Denkens und seinem Individualitätsversprechen korrespondierte. Aber das funktionierte eben noch nicht sofort. Erst mit dem Erscheinen der Kodak Box im Jahr 1888, mobilen Faltapparaten sowie der Leica Mitte der 1920er Jahre und anderer Kleinbildkameras wurde die Sache wirklich demokratisch. Nun war der Weg bereitet für die egalitäre Massenfotografie und es begann das, was Walser das große Knipsen nannte. Die gestelzte Statusfotografie im Atelier war erledigt. Nun ging es darum, den Bildern Leben einzuhauchen. Zwar kennen wir bis heute Portraitfotografien für Repräsentationszwecke, sei es für das private Umfeld oder die größere Öffentlichkeit, aber auch dabei wird zumindest eine Andeutung von Individualität gesucht.

Die allgemeinen Motive fürs Fotografieren sind mannigfaltig geworden. Mal geht es um das Festhalten persönlicher Erinnerungen oder die Dokumentation des Zeitgeschehens, mal um das Erzählen von Geschichten oder die Faszination hinsichtlich überwältigender Naturerscheinungen. In Zeiten Sozialer Medien kommt das Bestreben hinzu, anderen die eigene Existenz als besonderes Ereignis mitzuteilen. Das Selfie erscheint dabei als Mittel der Wahl für die Befriedigung des Bedürfnisses nach Statusvergewisserung sowie für den Wunsch nach Bestätigung in Gestalt von Likes und Emojis.

Der Individualisierungsdruck der modernen Gesellschaft fördert Selbstinszenierungen, die das eigene Tun ausschmücken. Wohin reise ich, welche Restaurants besuche ich, wen kenne ich? Andreas Reckwitz hat das in dem Buch Die Gesellschaft der Singularitäten überzeugend beschrieben. Der Druck zur Kuratierung der Lebensgestaltung ist weit verbreitet. Kaum jemand möchte von den sozialen Erwartungsnormen seiner relevanten Bezugsgruppe abweichen, sondern diese eher noch übertreffen. Und selbst diejenigen, die ihr Anderssein bewusst zur Schau stellen, spekulieren auf den Applaus für genau diese Abweichung. Selfies und andere Bilder des eigenen Tuns sind für beide Strategien bestens geeignet. Das große Knipsen hat, aus heutiger Sicht, erst mit dem Auftauchen des Smartphones so richtig Fahrt aufgenommen.

Die eingangs zitierte Passage findet sich in: Martin Walser: Halbzeit; suhrkamp taschenbuch, Frankfurt a. M., 1973 (zuerst 1960), S. 472

 

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