Anarchie im fotografischen Bild

Nur selten werden bei der Betätigung des Kameraauslösers sämtliche Informationen registriert, die in genau diesem Augenblick auf den Film oder die Speicherkarte gelangen. Erst bei der späteren Betrachtung fallen Details auf, die zuvor beim Blick durch den Sucher nicht bemerkt wurden. Manchmal wird das Ergebnis als störend empfunden, wenn etwa ein Vogel vor Tante Ernas Gesicht vorbeiflattert, mitunter jedoch machen gerade die anarchischen Dinge den Reiz einer Aufnahme aus. Dieser doppelte Charakter einer Fotografie, einerseits Ergebnis einer subjektiven Bildkonstruktion, andererseits objektive Abbildung dessen zu sein, was sich im Augenblick der Aufnahme vor der Kamera abgespielt hat, bildet ein Spannungsverhältnis, das die Sache erst so richtig interessant macht.

Wer fotografiert, beansprucht meist die Autorenschaft des entstandenen Bildes. Aber das ist eben nur halbwegs korrekt. Die andere Hälfte der Wahrheit wird von der Wirklichkeit beigesteuert, die sich auf mitunter freche Weise einmischt und der Fotografie ihre Spuren aufdrückt. Der Fotografierende kann also, abgesehen von inszenierten Studioszenen, kaum die Urheberschaft für die gesamte, im Bild festgehaltene Wirklichkeit für sich reklamieren. Aber bleiben wir bei dem anderen, dem vom Fotografen konstruierten Anteil der Wahrheit. Diese Zutat ist Ergebnis eines aktiven Prozesses der Bildgestaltung mit unbewussten und bewussten Elementen.

Beim Blick durch den Sucher setzt das visuelle Gehirn vorbewusst wirkende Ordnungsprinzipien ein, die sich bereits im frühen Lebensalter herausgebildet haben. Die Gestalt- und die Entwicklungspsychologie haben den Prozess des Sehenlernens beschrieben. Noch vor dem eigentlichen Sinnverständnis hinsichtlich des Geschehens wird die an sich chaotische Informationsmenge der Wirklichkeit sortiert. Ihre Komplexität wird eingedämmt, Ordnung entsteht und es bilden sich Zusammenhänge. Einzelne Bildelemente oder Bildpunkte werden zu plausiblen Einheiten zusammengefasst und Figuren heben sich vom Hintergrund ab. So werden Punkte, die in hinreichender Dichte auf einer gedachten Vierecklinie angeordnet sind, als Quadrat oder Rechteck interpretiert. Andere Gestaltgesetze besagen, dass ähnliche Elemente als zusammengehörig gesehen werden oder dass Linien dem einfachsten aller möglichen Wege folgen. Bilden sie ein Kreuz, werden sie nicht als abknickend interpretiert, sondern als durchgehend. Auf diese Weise werden die Objekte eines Bildes voneinander abgegrenzt. So lassen sich ihre Flächen identifizieren und mit Sinn versehen. Wir verstehen, was sie bedeuten. Fotografien richtig interpretieren zu können, ist Ergebnis eines langjährigen Lernvorganges und setzt eine bestimmte kognitive Reife voraus. Im fotosinn Essay Sehenlernen und Gestalten wird dieser Prozess näher beschrieben.

Gänzlich anders funktionierende Regeln, wie etwa der Goldene Schnitt, haben im Gegensatz zu den angeborenen Gestaltmustern einen kulturell gebundenen Hintergrund. Es handelt sich bei ihnen um Sehgewohnheiten, die anerzogen wurden. Was wir als schön empfinden, ist das Ergebnis eines Sozialisationsprozesses, aber auch der kritischen Auseinandersetzung mit den vorherrschenden Normen der Ästhetik. Beides zusammen, die physiologisch geprägten Ordnungsmuster und die kulturell geformten Gefälligkeitsideale, sind bedeutsam für die Frage, ob eine Fotografie als interessant empfunden wird oder nicht. Hinzu kommt, wie die berühmte Prise Salz, Subversives Wir empfinden ein Bild schnell als langweilig, wenn es allzu stimmig ist. Vermeintlich Störendes kann das Aufmerksamkeitsniveau jedoch aufrechthalten. Mitunter wird gerade die Abweichung von gewohnten ästhetischen Prinzipien als interessant empfunden.

Am Beispiel Henri Cartier-Bresson, dessen Bildkonstruktionen einer überlegten Rezeptur folgen, lässt sich das Ganze exemplarisch konkretisieren: Man nehme gestaltpsychologisch wirkende Bildlinien und Kontrastfelder, füge Kompositionsideale hinzu, etwa aus dem Fundus des Goldenen Schnitts, und schließlich ein wenig Zufall, beziehungsweise etwas, das wie Zufall aussieht. In alledem eingebettet befindet sich das Motiv. Am Ende fasst der richtige Bildausschnitt die Zutaten zusammen. Das Ergebnis: Eine Fotografie des entscheidenden Augenblicks.

Die Leistung Cartier-Bressons bestand darin, Gestaltungsprinzipien intuitiv anzuwenden. Bei der Betrachtung seiner Aufnahmen wird die Anteilsgewichtung der subjektiven Bildkonstruktion einerseits sowie der objektiven Abbildung andererseits nahezu automatisch in Richtung der ersten Kategorie, also der Fotografenleistung, gelenkt. Dies ist nicht selbstverständlich, denn dokumentarisch ist in gewisser Weise jede Fotografie, sofern sie nicht wirklichkeitsverzerrend bearbeitet wurde. Der subjektive Wille des Fotografen spielt sich gegenüber der objektiven Abbildung erst dann in den Vordergrund, wenn durch die Bildgestaltung in die Menge der Informationen eine ästhetisch interessante Ordnung gebracht wurde.

Gleichwohl, wer das Perfekte sucht, mag am Ende nur Langweiliges finden. In Erinnerung bleibende Fotografien weisen häufig Zufälliges auf. Auch dafür steht Cartier-Bresson. Im fotosinn Essay Der magische Augenblick werden die Dinge ein wenig näher beleuchtet.

 

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Der fotografische Eintopf