Vom Großen und vom Kleinen. Der EMOP in Berlin

Drei mal drei fotografische Lichtkästen mit Bildern von Menschen in archaisch anmutenden Schutzanzügen, verteilt liegend im Kirchenschiff. Und an der Wand hinter dem Altar eine ebenfalls großformatige Farbfotografie mit dem Titel Sarkophag. Es sind dies die Elemente der Installation HAGIOGRAPHIE BIOROBOTICA von Andreas Mühe in der St. Matthäus-Kirche am Berliner Kulturforum. Sie ist Bestandteil einer Reihe von mehr als hundert Ausstellungen im Rahmen des European Month of Photography 2020.

Unwillkürlich denkt man an große schwere Steinplatten auf dem Kirchenboden, die an mittelalterliche Bischöfe oder Heilige erinnern, im Laufe der Jahrhunderte durch viele Besucher profilflach geworden und an manchen Stellen gänzlich abgeschliffen. In der St. Matthäus-Kirche jedoch sind es klar und hell leuchtende Heilige, wenn auch Heilige anderer Art, als die von der klassischen Hagiographie beschriebenen. Andreas Mühe hat Menschen nachgestellt und großformatig fotografiert, die 1986 nach der Atomkatastrophe von Tschernobyl in die Reaktortrümmer geschickt wurden, um dort mit einfachen Mitteln der Zerstörung zu begegnen. Maschinen hatten sich aufgrund der Hitze und der Strahlenbelastung als ungeeignet erwiesen. Stattdessen wurden hunderttausende Menschen als Bioroboter eingesetzt, von der staatlichen Obrigkeit Liquidatoren genannt, die man mit unzureichenden Schutzausrüstungen in die Hölle schickte. Schätzungen gehen davon aus, dass bis zu fünfzigtausend der so tätig Gewordenen als Folge der Strahlenbelastung ihr Leben verloren. Männer und Frauen, die als Arbeiter, Ingenieure, medizinisches Personal, Feuerwehrleute oder Hubschrauberpiloten ihr Opfer gaben. Geopfert wurden.

Hagiographie. Grabähnliche Lichtkästen. Das Bild über dem Altar. Der Kirchenraum als Kulisse. Biorobotica. Dies alles zusammen formt eine Aura, der man sich kaum entziehen kann. Vertieft man die angestoßenen Themen wie Heldentum oder Opfer, wird jedoch deutlich, dass es mit schnellen Urteilen nicht getan ist.

Die Installation von Andreas Mühe ist der erste Teil eines auf drei Akte angelegten Konzeptes. Er ist noch bis zum 19. November 2020 in der St. Matthäus-Kirche zu sehen. Anschließend ergänzen bis zum Februar 2021 zwei weitere Akte mit veränderter Anordnung und auch anderen Fotografien das Werk.

Der European Month of Photography (EMOP), alle zwei Jahre in Berlin veranstaltet, zeugt auch diesmal von der großen Bandbreite und Vielfalt der Fotografie. Thematischer Schwerpunkt ist Europa. Fragen seiner Identität und Zukunft, aber auch seiner Krisenerfahrungen stehen im Mittelpunkt vieler Ausstellungen. Das Zentrum bildet in der Akademie der Künste am Pariser Platz die die von der Agentur OSTKREUZ konzipierte Ausstellung Kontinent – Auf der Suche nach Europa. Dreiundzwanzig ehemalige und gegenwärtige Fotografinnen und Fotografen der Agentur sind mit Beiträgen vertreten, so etwa Sibylle Bergemann, Roger Melis, Ute und Werner Mahler oder Harald Hauswald. Letzterer zeigt Fotografien, die anlässlich einer Reise mit dem Zug auf den Spuren des Orientexpresses quer durch Europa ausschließlich mit dem Smartphone entstanden sind. Direkt an die Wand des Ausstellungsraumes geklebt und mit handschriftlichen Erläuterungen versehen, bilden die spontanen und einfach gehaltenen kleinformatigen Bilder den kompletten Gegenentwurf zu der aufwändigen Arbeit von Andreas Mühe. Großes und Kleines in der Fotografie eben.

Mag man die in der Akademie der Künste gezeigten Fotografien von Hauswald als Reiseknipsereien nicht ganz zu Unrecht für ein wenig belanglos halten, zeigt die ihm zur gleichen Zeit im C/O gewidmete Retrospektive Voll das Leben! sein ganzes Können als Chronist des Alltagslebens der DDR und der Nachwendejahre, nicht zuletzt in der Hauptstadt. Wie überhaupt (West-) Berlin, die Mauerjahre, aber auch Neueres aus der Stadt einen Schwerpunkt vieler am EMOP beteiligter Galerien und Ausstellungsstätten bilden. Ethna O´Regan hat in Gedenken an die Grenzopfer den vollständigen Mauerweg um die eine Hälfte der einstmals geteilten Stadt abgewandert und dokumentiert, Mila Hacke das Architekturerbe der Alliierten in Berlin. Götz Lemberg zeigt das Portrait Berlins als einer Stadflusslandschaft, Aram Radomski erinnert an die unmittelbare Zeit nach dem Mauerfall mit ihrer kulturellen Vielfalt und Ralf Marsault hat das Leben in einer der damals verbreiteten Wagenburgen festgehalten. Ähnlich, jedoch aktueller, präsentiert Lena Maria Loose Bilder aus der Rummelsburger Bucht und vom dortigen Alternativleben. Frank Hensel schließlich, um die Reihe der beispielhaft herausgegriffenen Ausstellungen abzuschließen, zeigt mit Leerstelle Berlin 2.0 – Hauptstadt im Lockdown Bilder aus dem Pandemiejahr.

Auch Historisches ist Bestandteil des EMOP. Die Berlinische Galerie präsentiert Robert Petschow und das Neue Sehen, das Bröhan-Museum zeigt Der proletarische Blick – Arbeiterfotografie der 1920er Jahre von Kurt Pfannschmidt, Ernst Thormann und Richard Woike. Im Verborgenen Museum ist Wahlverwandtschaften. Rendezvous mit Fotografinnen 1900-1935 zu sehen und das Willy-Brandt-Haus hat Fotografien von Ruth und Lotte Jacobi wiederentdeckt, die zum Teil ebenfalls dem Neuen Sehen zuzurechnen sind. Aus jüngerer Zeit soll die Ausstellung FOTOGRAFIE. Wolfgang Schulz und die Fotoszene um 1980 im Museum für Fotografie Erwähnung finden. In jenen Jahren war Schulz Herausgeber der einflussreichen FOTOGRAFIE. Zeitschrift internationaler Fotokunst. Die Fotografie wurde zu jener Zeit in vielerlei Hinsicht als Medium neu erfunden und die Museen sowie der Kunstmarkt zeigten zunehmend Interesse, wie unter anderem die documenta 1977 deutlich machte. Die Ausstellung dokumentiert diesen besonderen Abschnitt der neueren Fotografiegeschichte in einer umfangreichen Schau.

Zur ganzen Vielfalt der Fotografie gehören nicht zuletzt Avantgardistisches sowie besondere Einzelprojekte. Auch hier eine Auswahl aus dem Angebot des EMOP: Kameralose Arbeiten in lockerer Anlehnung an Man Ray oder László Moholy-Nagy zeigt Kurt Wendlandt in der Ausstellung Material-Erkundigungen. Fotografie und Skulptur werden von Sebastian Klug in Photographic Landscapes verknüpft. Und mit dem Zufall, dieser zentralen Produktivkraft in der Geschichte des Mediums, wie Jens Hinrichsen es im Einführungstext des Begleitkataloges formuliert, arbeitet Johanna Jaeger. Die Ergebnisse sind in der Ausstellung Repeating Accidents zu sehen. Schließlich sei auf das Projekt Blinde Fotograf*innen hingewiesen, in dem gezeigt wird, wie früher einmal Sehende, nun jedoch Erblindete mit Techniken des Lightpaintings und mit Assistenzunterstützung ihre inneren Bilder in die Außenwelt übertragen, sowie auf die große Gruppenausstellung Masculinities: Liberation through Photography im Gropius Bau. Sie geht der Frage nach, wie sich seit den 1960er Jahren die sozialen Konstrukte von Männlichkeit entwickelt haben und welche Identitätskonzepte sich daraus ergeben.

Was fällt in der Gesamtsicht beim Besuch des EMOP auf? Erstens: Die bildmäßige Fotografie steht im Vordergrund. Es gibt zwar auch Experimentelles und Abstraktes, dominierend jedoch sind Bilder mit eher dokumentarischer Anmutung. Das mag am Titel des Festivals liegen. Ob dies auch einen Trend der zeitgenössischen Fotografie markiert, bleibt eine Vermutung. Zweitens: Technisch gesehen, handelt es sich ganz überwiegend um unspektakuläre Exponate. Die aufwändige Lichtkasteninstallation von Andreas Mühe in der St. Matthäus-Kirche ist eine Ausnahme. Bei der großen Mehrzahl handelt es sich um klassische Fotografien, mal als Einzelbild, überwiegend jedoch als Bestandteil thematisch angelegter Konzepte. Drittens: Schwarzweiß hat nicht nur Bestand, sondern scheint sogar wieder zuzunehmen. Viertens: Die Abgrenzung Analog versus Digital spielt beim EMOP so gut wie keine Rolle. Für die bildmäßige Fotografie ist die Kamera Mittel zum Zweck, und die verwendete Technik richtet sich einzig nach der Aufgabenstellung. Selbstreflexive Grundsatzdiskurse zum Wesen der beiden Technologien interessieren deshalb nicht großartig. Heftige digitale Bildbearbeitungen sieht man im Übrigen selten. Fünftens und abschließend: Jedes kuratierte Festival hat sein eigenes Profil. Beim Berliner EMOP steht der egalitäre, demokratische Charakter der Fotografie im Vordergrund. Um bemerkenswerte Bilder zu schaffen, bedarf es eben nicht viel mehr als einer Kamera, eines Konzeptes und eines gestaltenden Blickes, aber nicht unbedingt eines riesigen und teuren Produktionsaufwandes. Der Faszinationscharakter der Fotografie leitet sich nicht zuletzt aus der relativ einfachen Handhabbarkeit des Mediums ab. Was nicht gegen aufwändige Großproduktionen spricht. Aber man darf sich von diesem eher elitären Randzweig der Fotografie, dem mitunter der Anspruch Ich will Kunst sein ein wenig zu aufdringlich anzumerken ist, nicht übermäßig beeindrucken lassen. Beim Besuch von Ausstellungen im Rahmen des EMOP wird deutlich, welche Kraft und welche Potentiale in der bodenständigen, technisch häufig unspektakulären, jedoch handwerklich gekonnten Fotografie liegen.

Der Europäische Monat der Fotografie läuft noch bis zum 31. Oktober. Neben den Ausstellungen finden zahlreiche Begleitveranstaltungen statt, über die das Programm des EMOP informiert. Sehr empfehlenswert ist der Katalog, der für freundliche zehn Euro angeboten wird und einen guten Überblick zu den vielen Ausstellungen vermittelt.

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