Rezension: Man Rays surreale Wirklichkeiten

Wer nicht ausschließlich einem dokumentarischen oder naturalistischen Ansatz folgt und beim Fotografieren auch frei Konstruiertes und Irreales einbezieht, kommt an Klassikern der surrealen Fotografie wie Herbert Bayer, Meret Oppenheim und vor allem Man Ray kaum vorbei. Darüber hinaus wird deutlich, wie stark deren Bildsprache in den medialen Ausdrucksformen der Gegenwart weiterhin spürbar ist.

In den vergangenen Jahren wurden dem Fotosurrealismus mehrere große Ausstellungen gewidmet, so 2015 vom Kunstmuseum Wolfsburg und anschließend dem Max Ernst Museum Brühl mit Werken aus der Sammlung Siegert. Parallel erschien das hervorragend editierte Begleitbuch Real SurReal. Meisterwerke der Avantgarde–Fotografie. Der Querschnitt des Gezeigten reicht von ungewohnt arrangierten Alltagsgegenständen, Fotogrammen, Collagen und Traumgespinsten bis hin zu verfremdenden Aktaufnahmen.

Als einer der Einflussreichsten unter den Surrealisten bzw. Dadaisten des Zwanzigsten Jahrhunderts gilt der Amerikaner Man Ray, der sich als Maler verstand, aber genau aus diesem Selbstverständnis heraus auch zur Kamera griff. Ob Fotografie Kunst sei, interessierte ihn dabei nicht. Er war geprägt von einem kompromisslosen Anything goes und machte sich eher lustig über diejenigen, die an den konventionellen Grenzen der Kunst festhielten. Ob Film, Leinwand, Objektcollagen oder Dunkelkammerarbeit, alles galt Man Ray als geeignetes Mittel für die Schaffung transzendenter Wirklichkeiten.

Bei der Arbeit mit lichtempfindlichem Material dachte er ähnlich wie Lázló Moholy-Nagy. Klassisch mit der Kamera aufgenommene Bilder, Collagen und Fotogramme standen gleichberechtigt nebeneinander. Aber während Moholy-Nagy eher ein kühl denkender Bauhäusler blieb, der nahezu wissenschaftlich die Möglichkeiten des Mediums Licht erkundete, war Man Ray respektlos und ohne Ehrfurcht vor irgendeinem Material. Da ähnelte er dem Freund Marcel Duchamp, dem wohl noch Radikaleren unter den Dadaisten.

Einen vorzüglichen Überblick über das fotografische Werk Man Rays bietet ein in diesem Jahr neu veröffentlichtes Buch aus dem Verlag Taschen. Es enthält neben vielen der wichtigsten Fotografien unter anderem auch einen lesenswerten Essay von André Breton, der das Wesen des Kamerabildes präzise erfasst. Dieses weise eine hohe Suggestivkraft auf, sei aber dennoch kein treues Abbild von dem, was wir gerne bewahren möchten. Die Fotografie habe zwar die Malerei in der Nachahmung der wirklichen Dinge übertroffen, aber so wie sich seitdem für die Malerei die Frage ihrer Lebensberechtigung neu stellt, sei es Aufgabe, die Grenzen der Fotografie zu erkennen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass man sie auch für Zwecke einsetzen könne, für die sie ursprünglich nicht gedacht schien.

Die surrealistische Fotografie sprengt im Sinne Bretons die klassischen Grenzen. Sie schafft Bilder, die auf den ersten Blick nach Realität aussehen, bei genauerem Hinsehen jedoch ihren artifiziellen Charakter offenbaren. Da werden Dinge auf der Bildebene zusammengefügt, die in Wirklichkeit nichts miteinander zu tun haben, oder die Objekte werden, losgelöst von ihren konventionellen Sinnbedeutungen, als rein formale Bildelemente benutzt. Das Buch aus dem Verlag Taschen zeigt darüber hinaus die ganze Palette an Techniken, die Man Ray für die Schaffung unwirklicher Realitäten einsetzte: Solarisationen; Gegenüberstellungen von schwarzweißen Positiv- und Negativbildern, etwa die einer hellhäutigen Frau, die sinnend eine dunkle Maske betrachtet; undefinierbare Objekte, deren fotografische Abbildung bedeutungsfrei rein unter Gesichtspunkten der Flächengestaltung erfolgte; ein Apfel, dessen Stiel durch eine Schraube ersetzt wurde; zu traumhaften Szenen arrangierte Gegenstände; eine Serie von Gliederpuppen im variantenreichen Körperkontakt; zahlreiche Rayographien, also Fotogramme, und mehrere eher konventionell aufgenommene Portraits.

Im Internet werden aus Urheberrechtsgründen nicht viele frei verfügbare Fotografien Man Rays gezeigt. Einige der Werke wurden jedoch in das Online-Archiv des Museum of Modern Art aufgenommen und können dort aufgerufen werden. Das erwähnte Buch aus dem Verlag Taschen ist dem aber klar vorzuziehen und sehr zu empfehlen. Die surrealistische Bildsprache Man Rays lässt sich zwar historisieren und als typisch für die Vergangenheit der Zwanziger Jahre einordnen, es wird aber auch deutlich, welche Impulse sie für die weitere Entwicklung der Fotografie bis in die Gegenwart gesetzt hat.

Zurück
Zurück

New York symmetrisch

Weiter
Weiter

Die Unheimlichkeit des Banalen