Projektionen, Bedrohung und Poesie

Die Berlinische Galerie zeigt gegenwärtig mit Gier Angst Liebe das Werk der konsequent in Konzeptform denkenden Fotografin Loredana Nemes. Ihre sechs Serien der vergangenen Jahre sind Ergebnis akribischer Arbeit. Der Einsatz der analogen Großbildkamera lässt inszenierte Bilder entstehen, die sich radikal von der schnellen Massenware abheben. Innerhalb der künstlerischen Fotografie zeigt Nemes dabei trotz aller Unterschiedlichkeit der verschiedenen Projekte eine sehr eigene Handschrift.

Nemes, im rumänischen Siebenbürgen geboren, in den achtziger Jahren nach Deutschland übergesiedelt, davor auch mit der iranischen Kultur bekannt worden, sieht die Welt aus einer multikulturellen Perspektive. Dabei wird deutlich, dass sie mit den Vorurteilen ihrer neuen Heimat hinsichtlich des als fremd Empfundenen vertraut ist, aber gleichzeitig die eigene Distanz zu diesen Abgrenzungen nutzt, um das Projektive des Mechanismus deutlich zu machen. Anlässlich einer Präsentation in der Kunstsammlung der DZ Bank sind einige ihrer Arbeiten in einer Broschüre vorgestellt worden. Die FAZ hat sich unter der Überschrift Verschleierte Männer mit der Serie beyond befasst und der Tagesspiegel sowie die Berliner Zeitung würdigten anlässlich der Schau in der Berlinischen Galerie ihr Werk. Ein Interview in ARTBerlin ist ebenfalls zu empfehlen.

Die Ausstellung zeigt sechs Serien mit großformatigen Fotografien, von denen uns einige in besonderer Weise beeindruckt haben. Bekannt geworden ist die Fotografin vor allem durch die Arbeit beyond, die in den Jahren 2008 bis 2010 entstand und sich mit der türkischen sowie arabischen Männerwelt in Berlin auseinandersetzt. Nemes fotografierte zunächst die Außenansichten typischer Cafes und Lokale sowie anschließend durch verhangene Scheiben die schemenhaften Gesichter Herausblickender. Entstanden sind auf diese Weise nahezu abstrakte Portraits. Aber niemand ist wirklich erkennbar und vielleicht gerade deshalb ist der Betrachter schnell bei der Unterstellung einer verschleiernden Identitätsverbergung. Oder er empfindet ein unterschwelliges Unwohlsein, das auf die eigene Nichtvertrautheit hinsichtlich der Szenen verweist. Loredana Nemes lenkt so den Blick auf die Projektionen der eigenen Kultur, für die solche Lokalitäten mit ihren Milchglasscheiben und Vorhängen Anlass für mancherlei Phantasien bieten.

Im Jahr 2012 schuf Nemes mit der Serie Blütezeit eine Reihe von Portraits Jugendlicher, deren transitorische Situation sie wie ein Erwachen wahrnehmen, das sich nicht zuletzt im Kontext der eigenen Freundesgruppe vollzieht. Das noch nicht Fertige der Adoleszenz wird hervorgehoben, indem Portraitaufnahmen zu Tableaus mit mehreren Bildern zusammengesetzt werden und dabei die Bedeutung der Gruppe betont wird. Ergänzt werden die Portraits durch Triptychen knospender Baumblüten. Adoleszenz auch hier.

Die Serie Der Auftritt aus dem Jahr 2014 zeigt Aufnahmen, die während des Rheinischen Karnevals entstanden. Nemes fotografierte einzelne Umzugsteilnehmer vor einem neutralen Hintergrund und löste sie so aus der Menge heraus. Entstanden sind intime Portraits von Menschen, die sich eben noch in einer Karnevalsrolle auslebten, ihr Ich nun jedoch wieder illusionsfrei auf der alltäglichen Basis ungeschminkter Realität präsentieren.

Erstmalig in einer Ausstellung gezeigt wird die Serie Gier, die in den Jahren 2014 bis 2017 entstand. In dreizehn streng schwarzweißen, nahezu abstrakt wirkenden Aufnahmen sind nach einer kurzen visuellen Orientierung Möwen erkennbar, die sich im dunklen Wasser um eine Beute streiten. Mal sind es mehrere Tiere mit wildem Flügelschlag, deren archaische Energie in einer wilden Entladung zum Ausdruck kommt, mal genügt eine kleine Andeutung, dass hier gerade Gieriges stattfindet. Die dreizehn Fotografien nehmen eine lange Wandfläche der Berlinischen Galerie ein und wirken als Gesamtwerk ungemein beeindruckend.

Auf verstörende Weise wird von Nemes in der Arbeit 23197 aus den Jahren 2017 und 2018 das Thema Bedrohung aufgegriffen. Texttafeln mit Auflistungen angstbesetzter Assoziationen hängen zwischen großformatigen, extrem unscharfen Farbfotografien, die, wie im Ausstellungskommentar angemerkt, an den Abstrakten Expressionismus eines Mark Rothko erinnern. Es handelt sich jedoch um Aufnahmen frontal aufgenommener Lastkraftwagen, die bei aller Farbigkeit durch die Unschärfe in Verbindung mit den Texten in Erinnerung rufen, dass solche Maschinen auch tödlich sein, ja sogar als mörderische Waffe eingesetzt werden können. Genau das war beim Anschlag auf den Berliner Weihnachtsmarkt im Dezember 2016 der Fall gewesen. Der Kontrast zwischen der expressiven Farbigkeit der Fotografien und den textbasierten Verstörungen wirkt extrem eindringlich.

Ebenfalls in den Jahren 2017 und 2018 entstand die Serie Ocna. Eine Annäherung. Gezeigt werden Ausschnitte eines männlichen Körpers, die jedoch Fragment bleiben und keine Vorstellung eines imaginär aus den Einzelbildern zusammengesetzten konkreten Menschen erlauben Es bleibt beim Bruchstückhaften, und trotz der poetischen Texte, die parallel zu den Aufnahmen entstanden, wird von dem in Einzelteilen Abgebildeten keine wirkliche Identität erahnbar.

Seriell angelegte Konzeptkunst kippt nicht selten in Formalismus oder gar Langeweile um. Nichts davon ist bei den Arbeiten von Loredana Nemes zu spüren. Bei allen thematischen Wiederholungen innerhalb der einzelnen Serien bleibt ein durchgängiges Spannungsmoment erhalten. Dabei ist es, wie bei jeder seriellen Kunst, die Gesamtheit der Fotografien und weniger das einzelne Bild, die den Effekt bewirkt. Der Betrachter fragt unwillkürlich nach dem konzeptionellen Gedanken, der Absicht der Künstlerin.

Dass einbezogene Texte die Überlegungen in eine bestimmte Richtung lenken, wie es bei der Serie 23197 der Fall ist, wirkt weniger als eine Beschneidung des Phantasiespielraumes, sondern eher als subkutanes Storytelling. Die farbigen, stark abstrakten Fotografien der Serie würden ohne jegliche Textergänzung in der Tat an Mark Rothko erinnern. Aber während der Abstrakte Expressionismus in der Malerei auf eine absolute Realitätsablösung hinweisen konnte, stellt sich in der Fotografie, technisch bedingt, immer die Frage, woher das Material für das Bild eigentlich stammt. Eine Fotografie hat schließlich immer etwas Reales zur Basis. Und da sich Loredana Nemes als Fotografin versteht, die offenbar nicht den Eindruck erwecken will, bei dem kamerabasierten Bild handele es sich prinzipiell um nichts anderes als ein vollkommen frei mit Pinsel und Leinwand geschaffenes, ist die Einengung der Phantasietätigkeit des Betrachters durch den Text plausibel. Das erinnert im Übrigen ein wenig an Alec Soth, der mit seinen Bildern unter Einbeziehung textlicher Elemente ebenfalls etwas erzählen will.

Die Ausstellung Gier Angst Liebe. Fotografien 2008 - 2018 von Loredana Nemes ist in der Berlinischen Galerie noch bis zum 15. Oktober 2018 zu sehen. Parallel zur Ausstellung ist ein Katalog erschienen, der das Wesentliche der gezeigten Serien zusammenfasst. Zu empfehlen ist auch die Website der Künstlerin.

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